1.1 Der Einfluss der Ăsthetischen Briefe auf die Ăsthetik um 1800
Friedrich Schillers Abhandlung Ăber die Ă€sthetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, die im Januar, Februar und Juni 1795 in des Autors eigener Zeitschrift, Die Horen, erschienen, gehört zu den wirkmĂ€chtigsten theoretischen Texten zur Schönheit und zur Kunst um 1800. Wie wir von Christian Garve, Friedrich Nicolai, Johann Gottfried Herder, den BrĂŒdern Schlegel, Friedrich Hölderlin, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel u.v.m. wissen, wurden Schillers âBriefeâ umgehend nach ihrem Erscheinen gelesen und kritisch fĂŒr die je eigene Entwicklung verarbeitet. Friedrich Hölderlin plante gar schon Anfang 1796, also nur wenige Wochen nach der Publikation der letzten der 27 Briefe Schillers, Neue Briefe ĂŒber die Ă€sthetische Erziehung des Menschen zu verfassen.1 Der enorme Einfluss der in der populĂ€ren Form von Briefen geschriebenen Abhandlung Schillers gilt nicht nur hinsichtlich der theoretischen Positionen der zeitgenössischen Autoren, sondern auch fĂŒr deren literarische Produktion. Noch Hegel und Friedrich Theodor Vischer bezogen sich in ihren umfassenden Ăsthetiken bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kritisch und affirmativ auf Schillers groĂen Wurf.2 Von Wilhelm von Humboldt bis Wilhelm Dilthey zelebrierte eine kulturpolitisch interessierte Geisteswissenschaft ihre Schiller-Verehrung, die die Briefe als den systematischen Gipfelpunkt aller Ăsthetik feierte.3 Und auch das 20. Jahrhundert lĂ€sst mit den kritischen Sichtungen der Briefe durch Georg LukĂĄcs, Theodor W. Adorno oder JĂŒrgen Habermas den Einfluss auf die systematische Kulturkritik und Ăsthetik erkennen.
Welche GrĂŒnde lassen sich fĂŒr diese enormen Wirkungen eines Textes namhaft machen, der kaum als einheitlicher zu bezeichnen ist, und zwar weder in systematischer Hinsicht noch im Hinblick auf seine Produktionsbedingungen sowie seine Publikationsform? Entscheidend fĂŒr diesen Erfolg dĂŒrften wohl zwei Kontexte gewesen sein, die man mit den Stichworten Kant und Französische Revolution zunĂ€chst benennen kann und die in unterschiedlicher Weise den Gehalt des Textes und seine Wirkung nachhaltig prĂ€gten. Schiller gelingt es dabei, diese beiden, die 1790er Jahre prĂ€genden Kontexte so zu reflektieren und fĂŒr eine zukĂŒnftige Ăsthetik und Kunst zu vermitteln, dass eine ĂŒber die Entstehungszeit und deren Bedingungen hinaus prĂ€genden Konzeption des Schönen und der Kunst entsteht, die zu einer kritischen Auseinandersetzung bis in die Gegenwart herausfordert.
1.2 âGröĂtenteils Kantische GrundsĂ€tzeâ? Schillers Kant-Rezeption
Schiller hatte schon 1791 nach einer ersten LektĂŒre der Kritik der Urteilskraft erkannt,4 dass nicht allein der Ăsthetik als einer seit Georg Friedrich Meier und Alexander Baumgarten etablierten âTheorie der schönen Wissenschaften und KĂŒnsteâ, sondern auch den KĂŒnsten selbst durch Kants Theorie des Geschmacksurteils eine enorme Herausforderung erwuchs. Das Skandalon der kantischen Konzeption zum Ă€sthetischen Urteil bestand zum einen darin, dass sie ausdrĂŒcklich keine wissenschaftliche GegenstandsĂ€sthetik sein konnte, weil das GefĂŒhl des Schönen und Erhabenen zwar Urteile mit subjektivem Allgemeinheitsanspruch veranlasste, die aber nicht zu einer Wissenschaft auszubauen waren, weil sie mit keinem bestimmten Begriff operierten. Zum anderen ermöglichte das âInteresselose Wohlgefallenâ, das Kant als ein zentrales Moment jener Empfindung des Schönen erlĂ€utert hatte, eine nur mittelbare VerknĂŒpfung von Natur- und Kunstschönheit mit der normativen Kraft einer Tugendethik. Und diese praktische Konsequenz der Kritik der Urteilskraft bedrĂ€ngte Schiller und seine die Briefe weithin rezipierenden Zeitgenossen stĂ€rker noch als das Problem der Begriffslosigkeit des Schönen. Denn sowohl die von Gottsched ausgehende rationalistische als auch die von Lessing popularisierte empiristische Variante deutschsprachiger Poetiken gingen in ihrem VerstĂ€ndnis von Dichtung von einer strengen Verbindung von Literatur und Moral nachgerade selbstverstĂ€ndlich aus. Hatte Gottsched die Dichtung als Veranschaulichung moralischer Maximen definiert, so sah Lessing in der Dichtung ein bedeutendes Instrument zur Kultivierung des moralischen GefĂŒhls und damit moralischer Gesinnung. Der âmitleidigste als der beste Menschâ sollte durch eine in ihrer moraldidaktischen Funktion reflektierte Dichtung kultiviert werden. Schiller selbst hatte 1784 die âSchaubĂŒhne als moralische Anstaltâ gegen die seit dem Sturm und Drang und den Aktualisierungen des Materialismus einflussreichen Tendenzen einer Trennung von Ethik und Ăsthetik verteidigt. Diese Tendenzen schien nun ausgerechnet Kant mit seiner Konzeption von der âSchönheit als Symbol der Sittlichkeitâ (AA V, 351 ff.) â also einer höchst mittelbaren VerknĂŒpfung von Ethik und Ăsthetik â von neuem zu befördern, allerdings ohne AffinitĂ€ten zu SchwĂ€rmereien und Materialismen zu zeigen, sondern vielmehr, wie Schiller mit Garve und Feder annahm, zu einer Wiederkehr traditioneller Metaphysik tendierte. Es gab also eine FĂŒlle von GrĂŒnden fĂŒr den Jenaer Literaten und Literaturtheoretiker, kritisch auf die Kritik der Urteilskraft zu reagieren.
Seit 1791 suchte Schiller daher in einer Reihe von Texten durch eine kritische Auseinandersetzung mit Kant seine eigene Konzeption von Schönheit und Kunst neu zu gewinnen, allerdings so, dass diese neue Ăsthetik nicht hinter das von Kant erreichte philosophische Niveau zurĂŒckfallen sollte. Dabei nahm Schiller erhebliche MĂŒhen auf sich, einerseits Kant verstehend gerecht zu werden, andererseits die fĂŒr ihn drĂ€ngenden Problemlagen der Kritik der Ă€sthetischen Urteilskraft zu lösen. Diese erste Phase der Auseinandersetzung mit Kant kulminiert erkennbar in den 1792 verfassten, zu Lebzeiten aber unpubliziert gebliebenen âKalliasbriefenâ (SW V, 394 â 433) sowie der 1793 in der Neuen Thalia veröffentlichten Abhandlung Ăber Anmut und WĂŒrde. Vor allem in dieser Abhandlung, die die wohl gröĂte NĂ€he zu Kant dokumentiert, zeigt sich, dass Schiller schon frĂŒh von einer Auseinandersetzung mit Kants praktischer Philosophie ausgehend seine neue VerknĂŒpfung von Ă€sthetischem und moralischen GefĂŒhl sowie die kulturpolitische Bedeutung dieser Vermittlung ins Auge gefasst hat. Dass Schiller in dieser Auseinandersetzung mit Kant von einem nicht hinreichenden VerstĂ€ndnis auch und gerade der praktischen Philosophie des Transzendentalphilosophen getragen wurde, eröffnet seine Kritik an Kants Ethik. Deren Strenge belege nĂ€mlich, dass der Philosoph diese Theorie nur fĂŒr undisziplinierte âKnechteâ, nicht aber fĂŒr die der Bildung fĂ€higen âKinderâ des Hauses entworfen habe:
In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer HĂ€rte vorgetragen, die alle Grazien davon zurĂŒckschreckt und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen. [âŠ] Womit aber hatten es die Kinder des Hauses verschuldet, daĂ er nur fĂŒr die Knechte sorgte? (SW V, 465 f.)
Im Zentrum geht es Schiller um die Frage, ob die ErfĂŒllung ethischer Pflichten nicht auch durch Neigungen begleitet werden dĂŒrfte, um deren Realisierungsgarantien zu erhöhen. Schiller ist allerdings neben dieser Dimension einer âMethodenlehre der reinen praktischen Vernunftâ auch daran interessiert zu belegen, dass eine BerĂŒcksichtigung der menschlichen Neigungen bei der Formierung ethischer Prinzipien und Maximen das Gefahrenpotential der menschlichen Leidenschaften grundsĂ€tzlich minimieren könne, weil er sicher ist, dass eine durch ethische Normen nur âunterdrĂŒckteâ Natur â jener Kampf also gegen eine âTyrannei der Leidenschaftenâ bzw. des âSinnenhangesâ, von der nicht nur Kant (AA V, 433), sondern auch Mendelssohn5 oder Sulzer6 sprachen â zu einer Gegenwehr der Natur fĂŒhren mĂŒsse. Neigungen zur Pflicht (vgl. hierzu Höffe 2006) erhöhten also nicht allein die Wahrscheinlichkeit der Durchsetzung moralischer Vorschriften, sie bĂ€nden auch jenen âFeindâ, die menschliche Natur, von vorherein in die Konstitution moralischer Gesinnung ein. Schiller will die Natur als Feind nicht âniederdrĂŒckenâ, sondern wahrhaft ĂŒberwinden (SV V, 465). Nur wer fĂŒr sich als natĂŒrliches Individuum will, was er fĂŒr das ethische Allgemeine tun soll, hat die ZwĂ€nge ethischer Vorschriften wahrhaft ĂŒberwunden, weil schon die Sinne begehren, was die praktische Vernunft fordert. Wie viele andere AufklĂ€rer hadert Schiller mit dem Zwangscharakter rechtlicher und ethischer NormativitĂ€t, der zugunsten einer freiwilligen Annahme ihrer Inhalte, d. h. ihrer Internalisierung, ĂŒberwunden werden soll.
Kant hat auf diesen Vorwurf gelassen und höflich reagiert, anders als gegenĂŒber Herder, Forster oder gar Feder. In der 1794 publizierten zweiten Auflage seiner Schrift Religion innerhalb der Grenzen der bloĂen Vernunft macht Kant nĂ€mlich freundlich aber bestimmt darauf aufmerksam, dass Schiller ihn eindeutig missverstanden habe:
Herr Prof. Schiller miĂbilligt in seiner mit Meisterhand verfaĂten Abhandlung (Thalia 1793, 3tes StĂŒck) ĂŒber Anmut und WĂŒrde in der Moral diese Vorstellungsart der Verbindlichkeit, als ob sie eine kartĂ€userartige GemĂŒthsstimmung bei sich fĂŒhre; allein ich kann, da wir in den wichtigsten Principien einig sind, auch in diesem keine Uneinigkeit statuieren; wenn wir uns nur unter einander verstĂ€ndlich machen können. â Ich gestehe gern: daĂ ich dem Pflichtbegriffe, gerade um seiner WĂŒrde willen, keine Anmuth beigesellen kann. Denn er enthĂ€lt unbedingte Nöthigung, womit Anmuth in geradem Widerspruch steht. Die MajestĂ€t des Gesetzes (gleich dem auf Sinai) flöĂt Ehrfurcht ein (nicht Scheu, welche zurĂŒckstöĂt, auch nicht Reiz, der zur Vertraulichkeit einladet), welche Achtung des Untergebenen gegen seinen Gebieter, in diesem Fall aber, da dieser in uns selbst liegt, ein GefĂŒhl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung erweckt, was uns mehr hinreiĂt als alles Schöne. â Aber die Tugend, d. i. die fest gegrĂŒndete Gesinnung, seine Pflicht genau zu erfĂŒllen, ist in ihren Folgen auch wohlthĂ€tig, mehr wie Alles, was Natur oder Kunst in der Welt leisten mag; und das herrliche Bild der Menschheit, in dieser ihrer Gestalt aufgestellt, verstattet gar wohl die Begleitung der Grazien, die aber, wenn noch von Pflicht allein die Rede ist, sich in ehrerbietiger Entfernung halten. Wird aber auf die anmuthigen Folgen gesehen, welche die Tugend, wenn sie ĂŒberall Eingang fĂ€nde, in der Welt verbreiten wĂŒrde, so zieht alsdann die moralisch-gerichtete Vernunft die Sinnlichkeit (durch die Einbildungskraft) mit ins Spiel. Nur nach bezwungenen Ungeheuern wird Herkules Musaget, vor welcher Arbeit jene gute Schwestern zurĂŒck beben. Diese Begleiterinnen der Venus Urania sind Buhlschwestern im Gefolge der Venus Dione, sobald sie sich ins GeschĂ€ft der Pflichtbestimmung einmischen und die Triebfedern dazu hergeben wollen. (AA VI, 23)
Kant macht hier in groĂer Anschaulichkeit klar, dass Schiller einerseits einem nachmals nach ihm benannten MissverstĂ€ndnis aufgesessen sei, insofern er behauptet, Kant habe jede Zustimmung der Neigung zur moralischen Pflicht untersagt; vielmehr sei zutreffend, so Kant, dass man durchaus den Inhalt einer Pflicht auch um seiner selbst willen wollen darf, allerdings entstehe die Verbindlichkeit der Norm nicht durch die Zugabe der Sinnlichkeit oder der Schönheit....