Erfolgs-Potenzial von Generalisten und Quereinsteigern: Nur kein Wunderkind-Syndrom
// Von David Epstein
Unsere Gesellschaft nĂ€hrt den Mythos vom einseitig begabten Wunderkind, das frĂŒh seiner Spezialisierung folgt. Doch Generalismus beendet den Tunnelblick und fĂŒhrt zu mehr Erfolg.
Auch Spitzensportler beginnen oft erst spÀt mit der Spezialisierung
Als ich mit meinen Recherchen begann, stieĂ ich sowohl auf differenzierte Kritik als auch auf pauschale Ablehnung. »Das gilt vielleicht fĂŒr andere Sportarten«, sagten Fans oft, »aber nicht fĂŒr unseren Sport.« Der vehementeste Protest kam aus der Gemeinde des beliebtesten Sports weltweit, dem FuĂball. Aber dann veröffentlichte ein Team aus deutschen Wissenschaftlern Ende wie auf Zuruf eine Studie, die belegte, dass die Mitglieder der deutschen Nationalelf, die kurz zuvor die Weltmeisterschaft gewonnen hatte, ĂŒblicherweise Sportler waren, die sich erst spĂ€t spezialisiert hatten und bis zum Alter von 21 Jahren oder Ă€lter lediglich in einer Amateurliga gespielt hatten.
In ihrer Kindheit und Jugend hatten sie nur FreizeitfuĂball gespielt und auch andere Sportarten betrieben. Eine weitere Untersuchung ĂŒber den professionellen FuĂballsport, die zwei Jahre spĂ€ter veröffentlicht wurde, verfolgte ĂŒber zwei Jahre die sportliche Entwicklung von Nachwuchsspielern im Alter von elf Jahren. Diejenigen, die mehrere Sportarten betrieben und nur FreizeitfuĂball spielten, hatten in den zwei Jahren gröĂere Verbesserungen erzielt als die Spieler der Vergleichsgruppe.
Hyperspezialisierung als Marketing-Mythos
Inzwischen werden in den unterschiedlichsten sportlichen Disziplinen, von Hockey bis Volleyball, Ă€hnliche Ergebnisse berichtet. Die angebliche Notwendigkeit einer frĂŒhen Hyperspezialisierung bildet den Kern einer gewaltigen, erfolgreichen und gelegentlich gut gemeinten Marketingmaschinerie â im Sport, aber auch in anderen Bereichen. In Wahrheit gibt es weitaus mehr Spitzensportler, die als Generalisten begonnen haben, als hochfokussierte Wunderkinder. Im Allgemeinen sind Erstere aber nicht so öffentlichkeitswirksam â wenn sie denn jemals bekannt werden. Einige groĂe Namen kennen Sie wahrscheinlich, nur ihr Werdegang ist unbekannt.
Ich erinnere mich an ein Super Bowl von 2018, in dem sich ein berĂŒhmter Quarterback, der vor seiner Karriere als Footballprofi als Catcher Baseball gespielt hatte (Tom Brady), ein spannendes Duell mit dem Quarterback der Gegenmannschaft lieferte, der in seiner Jugend Football, Basketball, Baseball und Karate praktiziert und sich erst auf dem College zwischen Basketball und Football entschieden hatte (Nick Foles).
Der SchlĂŒssel liegt in der Vielfalt und im Ausprobieren
Zu einem spĂ€teren Zeitpunkt desselben Monats holte die tschechische Athletin Ester LedeckĂĄ als erste Frau bei einer Winterolympiade Gold in zwei verschiedenen Disziplinen (Ski und Snowboarding). In jĂŒngeren Jahren hatte LedeckĂĄ viele verschiedene Sportarten ausgeĂŒbt (sie spielt immer noch Beachvolleyball und frönt dem Windsurfen), sich aber vorrangig auf die Schule konzentriert und hatte es auch nicht eilig, Jugendturniere zu gewinnen. In einem Artikel, der am Tag nach ihrem sensationellen doppelten Goldmedaillengewinn erschien, schrieb die Washington Post: »In einem Zeitalter der sportlichen Spezialisierung ist LedeckĂĄ eine leidenschaftliche Verfechterin der Vielfalt.«
Kurz nach ihrer groĂartigen Leistung holte sich der ukrainische Boxer Wassyl Lomatschenko in drei verschiedenen Gewichtsklassen den Weltmeistertitel, und das schneller als jeder andere Boxer. Lomatschenko, der als Jugendlicher vier Jahre das Boxtraining unterbrochen hatte, um traditionelle ukrainische TĂ€nze zu erlernen, sagte: »Als Junge habe ich ganz viel und ganz unterschiedlichen Sport gemacht â Gymnastik, Basketball, Football, Tennis â und ich glaube, letztlich haben all diese unterschiedlichen Sportarten dazu beigetragen, meine FuĂarbeit zu verbessern.« Der prominente Sportwissenschaftler Ross Tucker fasst die Forschung auf diesem Gebiet in einem Satz zusammen: »Der SchlĂŒssel liegt in der Vielfalt und im Ausprobieren.«
SpÀtentwickler finden oft Jobs, die besser zu ihnen passen
Im Jahr 2014 nahm ich einige der Feststellungen ĂŒber eine spĂ€te Spezialisierung im Sport in das Nachwort meines ersten Buches mit dem Titel The Sports Gene auf. Im darauffolgenden Jahr erhielt ich eine Einladung, um vor einem ungewöhnlichen Publikum ĂŒber die Ergebnisse dieser Forschung zu referieren â keine Athleten oder Trainer, sondern MilitĂ€rveteranen. Bei meiner Vorbereitung stöberte ich in wissenschaftlichen Fachzeitschriften nach BeitrĂ€gen ĂŒber eine frĂŒhe Spezialisierung und berufliche Umwege auĂerhalb der Sportwelt. Was ich dabei entdeckte, verblĂŒffte mich. Eine Untersuchung hatte ergeben, dass Menschen, die sich zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn bereits spezialisiert hatten, nach dem College zunĂ€chst mehr verdienten als andere, die sich erst spĂ€ter spezialisierten. Dieser vermeintliche Startvorteil wurde jedoch dadurch wettgemacht, dass die SpĂ€tentwickler Arbeit fanden, die besser zu ihren FĂ€higkeiten und ihrer Persönlichkeit passte.
Ich stieĂ auf Unmengen von Studien, die zeigten, dass technische Erfinder ihre kreativen Leistungen steigern konnten, indem sie, anders als andere Kollegen, die sich schon frĂŒh voll und ganz in ein Thema vertieften, zuerst auf verschiedenen Gebieten Erfahrung sammelten. TatsĂ€chlich profitierten die besten kreativen Köpfe im Verlauf ihrer Karriere davon, dass sie aus eigener Initiative ein wenig ProfunditĂ€t fĂŒr eine gröĂere Wissensbreite geopfert hatten. Eine Studie ĂŒber kreative Schöpfer kam zu fast identischen Ergebnissen. AllmĂ€hlich wurde mir klar, dass der Werdegang einiger Menschen, deren kĂŒnstlerisches Werk ich aus der Ferne tief bewunderte â von Duke Ellington (der als Kind den Musikunterricht schwĂ€nzte, um sich auf Baseball und Zeichnen zu konzentrieren) bis zu Maryam Mirzakhani (die davon trĂ€umte, Romanautorin zu werden und stattdessen die erste Frau wurde, der die Fields Medal, die berĂŒhmteste Auszeichnung auf dem Gebiet der Mathematik, verliehen wurde) â, eher dem Karrierepfad des Generalisten Roger Federer Ă€hnelte als der WunderkindEntwicklung eines Tiger Woods.
Generalisten in Top-Positionen
Bei meinen weiteren Recherchen stieĂ ich auf bemerkenswerte Personen, die nicht trotz ihrer breiten Erfahrung und ihrer breitgefĂ€cherten Interessen erfolgreich waren, sondern genau deswegen: Ein weiblicher CEO, die ihre erste FĂŒhrungsposition in einem Alter antrat, in dem andere sich in den Ruhestand verabschieden; ein KĂŒnstler, der fĂŒnf verschiedene Berufe ausĂŒbte, bevor er seine Berufung fand und die Welt verĂ€nderte, und ein Erfinder, der mit seiner selbstfabrizierten Antispezialisierungsphilosophie aus einem kleinen Betrieb aus dem 19. Jahrhundert einen der berĂŒhmtesten Markennamen der heutigen Zeit machte. Da ich gerade erst angefangen hatte, mich mit der Forschung ĂŒber Spezialisierung in der breiten Arbeitswelt zu beschĂ€ftigen, beschrĂ€nkte ich mich in meinem Vortrag vor den MilitĂ€rveteranen auf den Sport. Wenngleich ich die anderen Ergebnisse nur am Rande streifte, sprang mein Publikum sofort darauf an.
Es waren alles Menschen, die sich spĂ€t spezialisiert oder die Laufbahn gewechselt hatten. Im Anschluss an den Vortrag kam einer nach dem anderen auf mich zu, um sich vorzustellen, und dabei stellte ich fest, dass viele zumindest ein wenig besorgt ĂŒber ihren beruflichen Lebensweg waren und einige sich beinahe sogar schĂ€mten. Sie waren von der Pat Tillman Foundation eingeladen worden, die im Geiste des gleichnamigen verstorbenen Footballspielers der NFL, der den Profi-Football-Sport verlassen hatte, um Army Ranger zu werden, Stipendien an Veteranen, aktive Soldaten und ihre Ehefrauen vergibt, die sich beruflich neu orientieren oder noch einmal die Schulbank drĂŒcken.
Quereinsteiger sind erfolgreicher
In diesem Fall waren alle Stipendiaten ehemalige FallschirmjĂ€ger und Ăbersetzer, die eine zweite Karriere als Lehrer, Wissenschaftler, Ingenieure und Unternehmer anstrebten. Zwar barsten sie vor Enthusiasmus, unterschwellig war aber eine gewisse Angst zu spĂŒren, weil ihre LinkedIn-Profile keinen linearen Karriereverlauf widerspiegelten, den, wie man ihnen eingeblĂ€ut hatte, Arbeitgeber sehen wollen. Sie waren nervös und angespannt, denn sie saĂen im Hörsaal neben jĂŒngeren (manchmal sogar viel jĂŒngeren) Studenten beziehungsweise nahmen in einem Alter, in dem andere lĂ€ngst fest im Sattel sitzen, einen Berufswechsel vor, weil sie bis zu diesem Zeitpunkt damit beschĂ€ftigt gewesen waren, eine unvergleichliche Lebens- und FĂŒhrungserfahrung zu erwerben. Irgendwie war aus einem einzigartigen Vorteil in ihrer Wahrnehmung ein Nachteil geworden.
Einige Tage nach meinem Vortrag bei der Tillman Foundation schrieb mir ein ehemaliger Angehöriger der Navy SEAL, einer Spezialeinheit der US Navy, der direkt im Anschluss an den Vortrag auf mich zugekommen war, eine E-Mail mit folgendem Inhalt: »Wir sind alle dabei, unseren Beruf zu wechseln. Mehrere von uns sind nach Ihrem Vortrag zusammengekommen und wir haben uns darĂŒber ausgetauscht, wie erleichtert wir ĂŒber Ihre Worte waren.«
Raus aus dem gefÀhrlichen Tunnel-Blick
Ich war ein wenig amĂŒsiert, dass e...