1.1 Das Einleitungsparadox: Eine methodische Orientierung vorab
Ăblicherweise steht dem Kommentarteil eines Klassiker-Auslegen-Bandes eine Einleitung voran, die ĂŒber das zu kommentierende Werk eine Art Ăberblick gibt. Im vorliegenden Fall ist das nicht nötig â nicht weil eine solche Einleitung entbehrlich wĂ€re, sondern weil sie hier mit dem Text gleich mitgeliefert wird. Die Einleitung in Hegels Vorlesungen ĂŒber die Ăsthetik gleicht einer musikalischen OuvertĂŒre. Alle im folgenden durchzuspielenden Motive klingen an, und lĂ€sst man sich darauf nicht flĂŒchtig, sondern ernsthaft ein, ist man aufs Beste fĂŒr die Auseinandersetzung mit dem anschlieĂenden Durchgang prĂ€pariert. Das Lob fĂŒr diese Komposition gebĂŒhrt Hotho. Hothos Notiz, dass es sich bei seiner Edition von Hegels Ăsthetikvorlesungen ânicht etwa darum [handelte], ein von Hegel selber ausgearbeitetes Manuscript, oder irgend ein als treu beglaubigtes nachgeschriebenes Heft mit einigen Styl-VerĂ€nderungen abdrucken zu lassen, sondern die verschiedenartigsten oft widerstrebenden Materialien zu einem wo möglich abgerundeten Ganzen mit gröĂter Vorsicht und Scheu der Nachbesserung zu verschmelzenâ (Hotho 1842, IX), trifft auf die Einleitung exemplarisch zu.
Im Abgleich der Vorlesungsnachschriften wird das ganz deutlich. Was Hegel seinen Hörern einleitend mitteilt, wechselt von Kolleg zu Kolleg mit anderen Akzenten, Anordnungen und sogar neu hinzukommenden (dann auch wieder verschwindenden) Aspekten, wobei der Zustand des Vorlesungsmaterials den Eindruck erweckt, dass Hegel bis zuletzt nach der Bestform einer Einleitung wirklich noch sucht. âWie gehen wir daran, eine Philosophie des Schönen einzuleiten?â (vdP, 51) Mit einer Unsicherheit ĂŒber sein Projekt hat diese Suchbewegung offensichtlich nichts zu tun. Hier geht es vielmehr um die spezifische Textform âEinleitungâ, der Hegel seit seiner ersten Publikation der Differenzschrift eine ganz eigentĂŒmliche Aufmerksamkeit schenkt (Sandkaulen 2017). Einleitungen und Vorreden sind bei Hegel wichtige, methodisch eigens ausgewiesene Texte, und daher wundert es nicht, dass sich die Reflexion auf die Einleitung auch durch alle ĂŒberlieferten Nachschriften der Ăsthetik zieht mit dem Signal, dass Einleitungen umso dringender sind, je weniger sie direkt zur Sache fĂŒhren können. Dieses fĂŒr Hegels Gesamtwerk so typische Einleitungsparadox hat Hotho kongenial erfasst. In einer bewundernswerten Kompilation vorliegender Notate macht er das Problem nicht nur völlig transparent (VĂ 1, 40 â 43; vgl. Ho, 219, 224 f.; vdP, 51 f.; Ke, 2 ff.; Hm, 5 f.). Mit seiner Organisation des sperrigen Einleitungsmaterials realisiert Hotho die Logik des Einleitungsparadoxes auch praktisch, einschlieĂlich mehrfacher plausibler Verschiebungen zwischen den Einleitungsteilen und dem Auftakt der Sache selbst.
Das fragliche Problem ist höchst interessant. Das Einleitungsparadox steht und fĂ€llt mit dem wissenschaftlichen oder, was in Hegels Augen dasselbe ist, systematischen Anspruch seiner Philosophie. Unter wissenschaftlichem Aspekt verlangt jede Aussage nach ihrer hinreichenden BegrĂŒndung, die sie rĂŒckwĂ€rts und vorwĂ€rts in einen lĂŒckenlosen Zusammenhang mit weiteren Aussagen stellt, was konsequent zu Ende gedacht zu Hegels holistischem Ansatz fĂŒhrt. Im Zusammenschluss einer durchgehenden Entwicklung aller Bestimmungen auseinander hĂ€ngt alles mit allem zusammen â das Modell dafĂŒr ist ein âin sich zurĂŒckkehrender Kreisâ (VĂ 1, 43; vgl. Enz, § 17). Realisiert wird dieser Kreis im parallel zu den Ăsthetikvorlesungen entstehenden GroĂprojekt der EnzyklopĂ€die der philosophischen Wissenschaften, die auch die Kunst in sich enthĂ€lt. Das im Einleitungsparadox reflektierte Problem entsteht nun dann, wenn ein Teilbereich des Ganzen, in diesem Fall die Kunst, aus dem Ganzen herausgenommen wird, um ihn insbesondere, nicht zuletzt ausfĂŒhrlich zu erörtern. Dann ist der wissenschaftliche Zusammenhang von allem mit allem gleichsam verloren. Ohne RĂŒckbindung und Herleitung der Aussagen im Gang des Systems muss man jetzt einen unmittelbaren Anfang machen und den âBegriff der Kunst sozusagen lemmatischâ, als etwas Gegebenes hilfsweise aufnehmen (VĂ 1, 42; vgl. Hm, 6).
Genau hier macht Hegel die Aufgabe der Einleitung methodisch fest. Ăber das PhĂ€nomen Kunst existieren die verschiedensten Ăberzeugungen, und bei diesen sei es gewöhnlichen sei es philosophisch bereits elaborierteren Ăberzeugungen muss die Einleitung ansetzen â nicht um sich in beliebigen Meinungen herumzutreiben, sondern um in der Auseinandersetzung mit vorhandenen Ansichten sukzessive diejenigen Aspekte herauszustellen, die zu einem qualifizierten Begriff der Kunst gehören und den Weg zu seiner wissenschaftlichen, mit dem allgemeinen Teil beginnenden Erörterung bahnen. Hegels technischer Ausdruck dafĂŒr ist der konstruktive Umgang mit âVorstellungenâ (VĂ 1, 43). Der Modus der Vorstellung ist ungenĂŒgend. Jedoch gibt es keinen anderen Weg, als in der Diskussion verbreiteter Vorstellungen, der vorausgesetzten Bekanntschaft mit der Materie, zu ihrer systematischen Erkenntnis vorzudringen (vgl. die generelle Parallele in Enz, § 1, sowie frĂŒher in der PhĂ€nomenologie des Geistes GW 9, 26 f.). Damit wird das Projekt einer Philosophie der Kunst von Anfang an kontextualisiert. Eine Philosophie der Kunst, die im Nullpunkt einer tabula rasa ansetzen wĂŒrde, wĂ€re in Hegels Augen eine komplette Fiktion.
1.2 Kunst und Wissenschaft: Diskussionen ĂŒber ein strittiges VerhĂ€ltnis
Umso interessanter ist, mit welcher EinschĂ€tzung aus dem Bereich der Vorstellung die Einleitung beginnt, nachdem zunĂ€chst in aller KĂŒrze Gegenstand und Titel des Projekts geklĂ€rt worden sind. Den Titel âĂsthetikâ kann man Hegel zufolge verwenden, weil er sich seit Baumgartens BegrĂŒndung einer neuen Disziplin dieses Namens eingebĂŒrgert hat. Da aber die Assoziation einer âWissenschaft des Sinnes, des Empfindensâ im affekttheoretischen Umgang mit Kunst in die Irre fĂŒhrt, ist der âeigentliche Ausdruck [âŠ] fĂŒr unsere Wissenschaft [âŠ] âPhilosophie der Kunstâ und bestimmter âPhilosophie der schönen Kunstââ (VĂ 1, 13). Mit dem bestimmten Zusatz schöne Kunst ist die Grenze gegenĂŒber den technischen KĂŒnsten und Kunstfertigkeiten gezogen; auch dann, wenn im Weiteren nur von âKunstâ die Rede ist, ist immer die âschöne Kunstâ im Unterschied etwa zur âUhrmacherkunstâ gemeint. Das entspricht unserem heutigen Sprachgebrauch, zu dessen Herausbildung Hegels Ăsthetik wesentlich beigetragen hat. Was aber macht die âschöne Kunstâ schön? Anstatt sich dieser Frage direkt zuzuwenden, kommt zuerst ein ganz anderer Diskurs in Gang, der nicht dieses oder jenes Detail, sondern das ganze Unternehmen in Zweifel zieht. Das beginnt mit der Kritik am Ausschluss des Naturschönen und setzt sich fort in dem fundamentalen Einwand, ob eine Philosophie der Kunst ĂŒberhaupt möglich und durchfĂŒhrbar ist. Auf Anhieb spricht alles gegen diesen Plan. Philosophie und Kunst haben nichts miteinander gemein, es handelt sich um zwei völlig verschiedene Welten. Das AusmaĂ der Differenz wird von Hegel sehr genau beschrieben, wobei er gegenĂŒber dem Versuch einer ErmĂ€Ăigung des Konflikts darauf insistiert, dass es nicht um irgendwelche âphilosophische Reflexionenâ ĂŒber Kunst, sondern um âeigentlich wissenschaftliche Betrachtungâ geht (VĂ 1, 18; vgl. Ho, 221). Genau formuliert lautet also die zentrale und ganz grundsĂ€tzliche Frage: Gibt es eine philosophische Wissenschaft der Kunst? Lassen sich die EinwĂ€nde gegen ein solches Unternehmen erfolgreich widerlegen und mit welchen Konsequenzen fĂŒr die Auffassung sowohl der Kunst als auch der Philosophie ist im Erfolgsfall zu rechnen?
Zum Gewicht dieser Fragen passt, dass man die bedeutendsten AuskĂŒnfte ĂŒber Hegels Ăsthetik gleich eingangs der Einleitung findet. Gewiss haben sie hier nur Thesencharakter â die AusfĂŒhrung ist dem groĂen Vorlesungsgang ĂŒberlassen. Aber die Gelegenheit ist gĂŒnstig und unbedingt zu nutzen: An keiner anderen Stelle seines Werks, und natĂŒrlich schon gar nicht in der EnzyklopĂ€die, wo der Status der Philosophie der Kunst ja intern als ausgewiesen gilt, geht Hegel so grundlegend auf die Probleme und Motive seiner Ăsthetik ein. Deshalb konzentriere ich mich vor allem auf das Eröffnungskapitel âWiderlegung einiger EinwĂŒrfe gegen die Philosophie der Kunstâ inklusive der Frage des Naturschönen und der âWissenschaftlichen Behandlungsarten des Schönen und der Kunstâ (VĂ 1, 13 â 40). Auf das Kapitel âGewöhnliche Vorstellungen von der Kunstâ (VĂ 1, 44 â 82), mit dessen in der Hauptsache aus dem Kolleg 1823 stammenden Material die spĂ€teren Vorlesungen besonders chaotisch verfahren, werde ich jeweils an geeigneter Stelle verweisen. Im zweiten Schritt geht es um Hegels Darstellung der VorgĂ€ngerpositionen (VĂ 1, 83 â 99). Der letzte Schritt gilt dem programmatischen Ăberblick ĂŒber die DurchfĂŒhrung des Projekts (VĂ 1, 100 â 124).
1.2.1 Geist und Natur: Der Primat des Kunstschönen vor dem Naturschönen
Mit dem âAusdruckâ Philosophie der schönen Kunst âschlieĂen wir sogleich das Naturschöne ausâ: Das stellt das erste Problem dar, das diskutiert und ausgerĂ€umt werden muss (VĂ 1, 13; vgl. Ke, 1 f.; Hm, 1). Der Ausschluss erscheint als eine âwillkĂŒrliche Bestimmungâ, die sich kontraintuitiv darĂŒber hinwegsetzt, dass wir im âgewöhnlichen Leben [âŠ] von schöner Farbe, einem schönen Himmel, schönem Strome, ohnehin von schönen Blumen, schönen Tieren und noch mehr von schönen Menschenâ sprechen (VĂ 1, 13 f.). Das wird von Hegel allerdings auch nicht bestritten, so wie die Begrenzung der Ăsthetik auf das Schöne der Kunst generell nicht bedeutet, das Naturschöne zu ignorieren oder gar zu behaupten, dass es so etwas gar nicht gibt. In der Hotho-Edition wird ihm spĂ€ter ein langes Kapitel gewidmet, in dem einschlĂ€gige ĂuĂerungen der Nachschriften verarbeitet sind. Worum geht es aber dann?
Aus dem Kolleg 1828/29 stammt ein Argument, das den WillkĂŒrverdacht aus wissenschaftstheoretischer Perspektive entschĂ€rfen soll. Nicht zufĂ€llig hat bisher noch niemand eine systematische Darstellung schöner Natur unternommen â es fehlt das bestimmte Kriterium fĂŒr eine solche Klassifizierung (VĂ 1, 15; vgl. Hm, 1). Auf Anhieb leuchtet das ein, aber weit trĂ€gt das Argument nicht, wie sich alsbald zeigt: Als Produkt freier Phantasie scheint sich das Kunstschöne erst recht wissenschaftlicher Bearbeitung zu widersetzen, wĂ€hrend der Bezug auf die Natur immerhin das wissenschaftlich einschlĂ€gige Moment der Notwendigkeit verbĂŒrgt (VĂ 1, 19; vgl. Hm, 1). Das entscheidende Argument ist darum ein anderes. Dem WillkĂŒrverdacht stellt dieses Argument aus dem Kolleg 1826 den Appell an eine normative Dimension entgegen, die uns unseren Ă€sthetischen Naturalismus bewusst machen und ihm entgegenwirken soll. Das Kunstschöne steht âhöherâ als die Natur: âDenn die Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schönheit, und um soviel der Geist und seine Produktionen höher steht als die Natur und ihre Erscheinungen, um soviel auch ist das Kunstschöne höher als die Schönheit der Natur.â (VĂ 1, 14; vgl. Ke, 1)
Dass das Kunstwerk âProdukt menschlicher TĂ€tigkeitâ ist, ist eine der âgewöhnlichen Vorstellungen von der Kunstâ, die spĂ€ter noch einmal eigens erörtert wird. Allerdings geht gerade auch sie gewöhnlich mit der Meinung des Vorrangs der Natur einher: Anders als die Natur ist das Kunstwerk kein lebendiges, sondern ein totes fĂŒhlloses Gebilde (VĂ 1, 48). Um die Behauptung des Vorrangs des Kunstschönen zu rechtfertigen, genĂŒgt der Hinweis auf sein âkĂŒnstlichesâ Erzeugtsein demnach nicht. Notwendig ist vielmehr, auf die ganz basale Frage des VerhĂ€ltnisses von Natur und Geist zurĂŒckzugehen. Im Bezug auf die Natur ist Geist das Andere der Natur. Mit dieser dialektischen Bestimmung setzt Hegels Philosophie des Geistes im Ăbergang aus der Naturphilosophie ein (Enz, § 381), und diese komplexe Bestimmung zeichnet dann auch der Kunst ihre Position vor. Wollten wir im Ernst behaupten, dass der Natur der Vorrang vor dem Geist gebĂŒhrt, wĂŒrden wir nichts Geringeres als die Freiheit preisgeben. Selbst der schlechteste Einfall ist einem Naturprodukt vorzuziehen, weil er âGeistigkeit und Freiheitâ, den Ausbruch aus dem Naturzwang bezeugt (VĂ 1, 14).
Mit dem Primat des Kunstschönen vor dem Naturschönen tritt so von Anfang an das geistesphilosophische Profil von Hegels Ăsthetik hervor (Jaeschke 2014). Als Werk des Geistes konstituiert Kunst einen Bereich eigenen, âschönâ genannten Rechts, der sich, und genau darauf kommt es im Folgenden an, der ganzen Bandbreite des NatĂŒrlichen und Sinnlichen in interner Gestaltung öffnet. Dem entspricht, dass die Hierarchie von Natur und Geist nicht als quantitative oder relative Aufstufung, sondern aus der Perspektive einer qualitativen Umkehrung zu verstehen ist: âder Geist erst ist das Wahrhaftige, alles in sich Befassende, so daĂ alles Schöne nur wahrhaft schön ist als dieses Höheren teilhaftig und durch dasselbe erzeugtâ. In diesem Sinne wird das Naturschöne nicht verdrĂ€ngt. Als âReflexâ des Geistes ist es aber keine genuine als vielmehr eine kulturell vermittelte GröĂe (VĂ 1, 14 f.; vgl. vdP, 51; Ke, 2). Mit den Augen des Geistes angesehen, erscheint Natur als schön und das gemalte Bild einer Landschaft nimmt einen höheren Rang als die natĂŒrliche Landschaft ein, weil es das Schöne der Landschaft sehen lĂ€sst (VĂ 1, 49).
Vor diesem Hintergrund distanziert sich Hegel nicht allein von der GenieĂ€sthetik, soweit sie eine im KĂŒnstler unbewusst wirkende Macht der Natur behauptet (VĂ 1, 45 ff., 363 ff.). Vor allem ist ihm an der radikalen Emanzipation der Kunst von der von der Antike bis ins 18. Jahrhundert geltenden Ă€sthetischen Vorschrift der Nachahmung der Natur gelegen (VĂ 1, 64 â 70). In der Kritik der Nachahmungsnorm ist Hegels Ăsthetik ein durch und durch modernes Projekt. Interessanterweise wird er damit die These verbinden, dass sich nur so verstehen lĂ€sst, was Kunst zu allen Zeiten gewesen ist.
1.2.2 Freie Kunst und neue Wissenschaft
ZunĂ€chst kommen jetzt aber die entscheidenden EinwĂ€nde gegen das ganze Unternehmen ins Spiel: Mit dem nunmehr begrĂŒndeten Fokus auf dem Kunstschönen ist nichts gewonnen, weil zweifelhaft ist, ob sich Kunst ĂŒberhaupt âeiner wissenschaftlichen Behandlung wĂŒrdig zeigeâ und ob sie ein âangemessener Gegenstandâ wissenschaftlicher Betrachtung sei (VĂ 1, 16, 18). Dass das Moment der Wissenschaft ernst zu nehmen ist, wurde bereits gesagt. Andernfalls wĂŒrde das von Hegel erörterte Problem gar nicht auftreten. Zu beachten ist darum umso mehr, dass die EinwĂ€nde und ihre Widerlegung im Folgenden nicht nur der Seite der Kunst gelten. Das Kapitel ist deshalb so besonders interessant, weil auch in Frage steht, ob Wissenschaft das geeignete Medium ist, sich mit Kunst zu befassen. Jedes Mal stehen zwei Faktoren in der Diskussion.
Wie sehen die EinwĂ€nde aus? Erstens ist Wissenschaft mit ernsthaften Dingen befasst, wĂ€hrend Kunst der Unterhaltung und Entspannung dient und sich, selbst wenn sie hier und da auch ernstere moralische Zwecke verfolgt, jedenfalls im Medium der âTĂ€uschungâ bewegt: âDenn das Schöne hat sein Leben in dem Scheine.â (VĂ 1, 17) Zweitens kommt es in der Wissenschaft auf den abstrakten, streng notwendigen Gedanken an, wĂ€hrend Kunst sich zwanglos an Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Phantasie adressiert. Ob man fĂŒr die Seite der Kunst oder fĂŒr die der Wissenschaft votiert â es handelt sich um zwei völlig verschiedene Formate. Zurecht hĂ€lt Hegel diese EinwĂŒrfe fĂŒr verbreitete EinschĂ€tzungen, die nicht zuletzt in der französischen Literatur ein Echo gefunden haben (VĂ 1, 19). In Sachen des Schönen und des Geschmacks hat man hier vom âje ne sais quoiâ gesprochen: vom unbestimmbaren âgewissen Etwasâ des Ă€sthetischen Gegenstands, der sich begrifflicher Festlegung entzieht (vgl. Baeumler 1923). Auch Kant ist noch ĂŒberzeugt, dass es eine âWissenschaft des Schönenâ nicht gibt, was Hegel zweifellos vor Augen steht, wenngleich er es nicht erwĂ€hnt (Kant 2006, § 44). Und vielleicht ertappt man sich auch selbst dabei, mit dem ein oder anderen Argument der UnvertrĂ€glichkeit von Kunst und Wissenschaft zu sympathisieren. Das wĂ€re nicht trivial, sondern die Standardoption, die Hegel in einer Art Ăberkreuzstrategie konterkariert. Im ersten Fall wird ein verkĂŒrztes KunstverstĂ€ndnis kritisiert (1), im zweiten Fall (das merkt man bereits in der Art der PrĂ€sentation der EinwĂ€nde) ist ein unzureichendes Konzept von Wissenschaft im Visier (2).
(1) Im ersten Fall gib...