Kapitel 1
Kapitalismus als Kettenbrief
»Ein Mensch, der kein Eigentum erwerben darf, kann auch kein anderes Interesse haben, als so viel wie möglich zu essen und so wenig wie möglich zu arbeiten.«
Adam Smith, über die Natur und die Ursachen von Nationalreichtümern
»Es ist gerecht, jedem seine Schuld zu bezahlen.«
Simonides von Keos (griechischer Dichter, 557/556-468/467 v. Chr.)
1.1 Schulden sind gut ...
Dieses Buch handelt von Schulden. Vielen Schulden. Sehr vielen Schulden, die zu einem guten Teil wohl nicht mehr zurückgezahlt werden und wenn, dann nur mit entwertetem Geld. Bevor wir dazu kommen, müssen wir jedoch erst mal erklären, warum es überhaupt Schulden, Zins und Geld gibt. Nur dann ist zu verstehen, was passiert ist – und zu erahnen, was noch passieren wird. Die politische Diskussion der Krisenursachen und der Lösungsansätze geht wieder einmal, wie schon so oft in der Vergangenheit, am Kern des Problems vorbei. Das ist nicht neu in der Geschichte, und wir können getrost davon ausgehen, dass es auch bei der nächsten Schuldenkrise nicht anders sein wird.
Doch lassen Sie uns mit einer einfachen und zugleich vielleicht überraschenden Feststellung beginnen: Schulden sind gut. Erst die Existenz von Schulden ermöglicht anhaltendes Wachstum einer Volkswirtschaft, zunehmende Produktivität – also effizientere Nutzung von Ressourcen – und technischen Fortschritt. Der Grund dafür ist einfach: Schulden führen zu Druck. Der Schuldner muss hart arbeiten und sich etwas einfallen lassen, wenn er die Schulden wieder zurückzahlen möchte. Das klingt überraschend, und es lohnt sich, darauf detaillierter einzugehen.
1.2 Von Rom nach Manchester
Die Gründungsgeschichte Roms ist bekannt: Die beiden Zwillinge Romulus und Remus, eigentlich Kinder von Gott Mars und der jungfräulichen Priesterin Rhea Silvia, werden von einer Wölfin großgezogen. Im Jahre 753 vor Christus gründen sie Rom an einer Stelle, an der es bereits seit Jahrhunderten Siedlungen gegeben hat, und Romulus ermordet seinen Zwillingsbruder Remus, nachdem sich dieser über die Abgrenzungsmauern lustig macht, die Romulus zwischen den einzelnen Grundstücken errichtet hat. Das war eine schwere Missachtung des Gesetzes, denn die Grenzmauer galt als heilig. Und dieser Übertritt wurde hart bestraft. So weit die Sage.
Was folgt, ist der beispiellose Aufstieg einer anfangs armen Gesellschaft zur unbestrittenen Weltmacht. Wir können uns fragen: Wie war das möglich?
Auch in der Wiege der Demokratie, Griechenland, vollzog sich praktisch zeitgleich innerhalb weniger Jahrhunderte die Entwicklung von einem armen Fleckchen Erde zu wohlhabenden Stadtstaaten, den sogenannten Polis, deren prächtige Ruinen wir heute noch bewundern. Wieder fragen wir uns: Wie kam es dazu?
Mehr als 2000 Jahre später entwickelt sich England, weder von seiner Randlage in Europa noch von Bodenschätzen in irgendeiner Form bevorteilt, von einem rückständigen Agrarland im 15. Jahrhundert, zur Wiege der industriellen Revolution und zum Weltreich des 19. Jahrhunderts. Wiederum, was war passiert?
Diese Fragen haben sich auch zwei Wissenschaftler von der Universität Bremen seit den 1980er Jahren gestellt: Gunnar Heinsohn und Otto Steiger. Sie fragten sich: Wie konnten Weltreiche aus dem Nichts entstehen und warum funktionierte dies in einigen Fällen, in anderen aber nicht? Vor allem interessierte sie auch, weshalb das sogenannte »kapitalistische« System so ungemein dynamischer und innovativer war als alle anderen Gesellschaftsformen, vor allem der damals noch real existierende Sozialismus. Um das herauszufinden, stiegen sie tief ein in die Geschichte der Menschheit. Sie studierten die Erkenntnisse von Altertumsforschern und Archäologen und kamen zu einer eigentlich einleuchtenden, für manchen Ökonomen nach wie vor revolutionären Erkenntnis. Die Antwort in allen vier Fällen lautet: Privateigentum. Mit allen damit verbundenen Chancen und Risiken.
Wenn man die Menschheitsgeschichte analysiert, lassen sich drei Grundformen des menschlichen Zusammenlebens unterscheiden :
- Die Solidargemeinschaft des Stammes, in dem jeder für jeden einsteht und alles gleich geteilt wird. Dies findet sich heute noch in entlegenen Gegenden des Amazonas, war aber überJahrhunderte hinweg die dominierende Form des Zusammenlebens.
- Die Befehlsgesellschaft des Feudalismus und des Realsozialismus, in denen eine kleine Minderheit über die Ressourcen, vor allem Grund und Boden, verfügt und die Mehrheit auf Befehl Arbeit erbringt. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen der DDR und früheren Königreichen, wobei Letztere wenigstens eine Reihe geschmackvoller Kulturgüter hinterlassen haben.
- Die Eigentumsgesellschaft der Freien, in der jeder für sein eigenes Schicksal verantwortlich ist, und damit alles, was er erwirtschaftet, behalten kann, aber auch kein Kollektiv im Rücken hat, das ihm hilft.
Rom, die griechischen Stadtstaaten und England im 15. Jahrhundert besitzen eine entscheidende Gemeinsamkeit: In allen drei Gesellschaften gab es eine erfolgreiche Revolution der Leibeigenen gegen die zuvor bestehende Feudalherrschaft. Während es in Rom und vermutlich auch in Griechenland zu einer gleichmäßigen Aufteilung von Grund und Boden auf die Revolutionäre kam, behielt der Adel in England die Ländereien, konnte jedoch nicht mehr, wie vor der Revolution, auf Zwangsarbeiter zurückgreifen, sondern musste diese für ihre Arbeit bezahlen. Die Arbeiter bekamen praktisch das »Eigentum an sich selbst« wieder zurück.
Die Entwicklung der Eigentumsgesellschaft war also Folge eines fundamentalen Wandels in der Gesellschaft durch Revolution. Und nur so kann man den Mord des Romulus an seinem Bruder Remus verstehen: Er hat allen gezeigt, dass es eben nicht eine Stammeswirtschaft oder gar eine neue Feudalstruktur ist, die aus der Revolution hervorgeht, sondern eine Gesellschaft, in der jeder für sich alleine steht. Das Land wurde in gleichgroße Stücke quadratisch geteilt (»Roma quadrata«) und unter den Revolutionären verlost. Ab dann hatte jeder Eigentum an Grund und Boden, welches er nutzen konnte, um sich und seine Familie zu ernähren, welches er aber auch gegen andere verteidigen musste und durfte. Romulus machte dies durch den Mord für alle deutlich. Was die Revolutionäre freilich nicht ahnten, war, dass sie damit einen Mechanismus in Gang gesetzt hatten, der zu einer ungemeinen wirtschaftlichen Dynamik führt. Denn Eigentum führt zu Schulden, Zins und Geld – und zwar in dieser Reihenfolge. Und diese Zusammenhänge muss man verstehen, wenn man die heutige Krise verstehen will.
1.3 Vom Eigentum zu Schulden
Die erfolgreichen Revolutionäre, die neuen Eigentümer, genossen nicht mehr die Sicherheit des Kollektivs mit gemeinsamer Lagerhaltung und gegenseitiger Hilfe. Sie waren plötzlich auf sich alleine gestellt, sich und ihre Familie zu ernähren. Sie waren gezwungen, individuelle Vorsorge für den Fall von Notlagen wie Missernten und Krankheit zu treffen, weshalb sie begannen, eigene Vorräte anzulegen. Durch diese Absicherung von existenziellen Risiken kam es zum ersten Mal in der Geschichte zur systematischen Produktion von Überschüssen. Zwar haben auch Stämme und Feudalgesellschaften Rücklagen gebildet, doch wuchsen diese in der neuen Form des Wirtschaftens deutlich an.
Nun ist es aber so, dass nicht alle Eigentümer gleichermaßen erfolgreich wirtschaften. Schon in der Bibel gibt es das Gleichnis von den anvertrauten Talenten, aus denen man entweder etwas machen kann oder nicht. Das »Talent« war im Altertum noch eine Währungseinheit und wurde erst später zu einem Synonym für Können, was wieder einmal den Zusammenhang zwischen Geld und Fähigkeit unterstreicht. Einige schaffen es mit Fleiß und Talent, gute Erträge aus ihrem Grund und Boden zu ziehen, oder sie kommen auf die Idee, das Land anders zu nutzen. So wie die Landherren in England, die statt weiterhin Getreide anzubauen auf die Schafzucht umstellten. Diese war mit weniger Arbeitskraft zu bewerkstelligen, die ja nunmehr bezahlt werden musste. Die Schafzucht legte die Grundlage für die Textilindustrie, einen neuen und sehr profitablen Wirtschaftszweig.
Andere hingegen stellen sich weniger geschickt an oder haben schlichtweg Pech.
Geriet ein Privateigentümer in Not, so konnte er sich von einem anderen Saatgut und Lebensmittel leihen. Doch anders als in der Stammes- und Feudalwirtschaft war es keine »Leihe« mehr, die gutmütig gegeben wurde, sondern in Wirklichkeit ein Kredit! Es bestand ein Risiko für den Kreditgeber, dass sein Schuldner auch im folgenden Jahr nicht besser wirtschaftet oder wieder Pech hat und er seinen Kredit nicht zurückzahlen kann. Um dieses Risiko abzudecken, musste der Schuldner einen Teil seines Grundstücks verpfänden. Hier zeigt sich die wesentliche Eigenschaft des Eigentums: Man kann es frei verkaufen, aber auch belasten und verpfänden.
In der Tat zeigen alte Kreditvereinbarungen aus Mesopotamien – wo schon lange vor Griechenland und Rom ähnliche Verhältnisse geherrscht haben –, dass das Pfand der Fläche entsprach, die für die Erzeugung der entliehenen Menge Saatguts und Lebensmittel erforderlich war.
Voraussetzung für einen Kredit ist das Vorhandensein von Eigentum. Auch heute ist es nur im Bereich der Überziehungskredite möglich, ohne Verpfändung von Eigentum einen Kredit zu bekommen. Allerdings haftet der Schuldner mit allem, was er hat, und seinem zukünftigen Einkommen für einen solchen Kredit. In allen anderen Fällen verlangt der Kreditgeber, üblicherweise eine Bank, Sicherheit in Form von einem Anrecht, das Eigentum des Kreditnehmers in Besitz zu nehmen. Eine Hypothek ist im Grundbuch vermerkt, und auch bei Unternehmenskrediten sind solche Sicherheiten...