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Wissenschaftliche Grundlagen
1.1 Grundlagen der Toxikologie
Im Abschnitt Grundlagen der Toxikologie können nur die zum Verständnis der wichtigsten Stoffeigenschaften benötigten toxikologischen Prinzipien dargestellt werden. Für ein intensiveres Studium wird auf die zahlreichen Lehrbücher verwiesen, z. B. auf die grundlegenden Ausführungen von Eisenbrand und Metzler [1], Dekant und Vamvakas [2], Birgersson et al. [3], Klaassen [4] oder Vohr [5]. Nicht dargestellt werden im Rahmen dieses Handbuches die Abbaureaktionen der unterschiedlichen Chemikalien; diese können der einschlägigen Fachliteratur entnommen werden.
Zum Verständnis der Wirkung von Chemikalien auf den Organismus werden toxikologische Grundkenntnisse benötigt. Die Toxikologie ist die Lehre von den Giften, der Begriff leitet sich vom griechischen Wort „toxon“ = Gift ab. Neben der klassischen Lehre von der Wirkung von Giften (der Toxikodynamik) beschäftigt sich die moderne Toxikologie auch mit der Stoffumwandlung durch den Organismus (der Toxikokinetik) und den unterschiedlichen Wirkmechanismen. Zur Festlegung der geeigneten Schutzmaßnahmen sind Kenntnisse des toxikologischen Profils notwendig.
Eine lokale Wirkung liegt vor, wenn sich die Wirkung der Stoffe auf den Einwirkungsort beschränkt. Verätzungen oder Reizungen sind typische Beispiele lokaler Stoffwirkungen. Neben der Haut als primär betroffenes Körperorgan sind lokale Effekte am Atemtrakt, am Auge oder im Magen-Darm-Trakt bekannt. Vertreter primär lokal wirkender Stoffe sind bei
- dermaler Wirkung anorganische Säuren, Laugen sowie bei
- inhalativer Wirkung Halogenwasserstoffe, Aldehyde, niedere Alkohole und Ketone.
Die meisten Chemikalien werden jedoch über das Blutsystem im ganzen Körper verteilt. Von diesen systemisch wirkenden Stoffen können grundsätzlich alle Organe erreicht werden. Typischerweise wirken Stoffe an spezifischen Organen, densogenannten Zielorganen. Abbildung 1.1 zeigt bekannte Zielorgane wichtiger Chemikalien.
Abb. 1.1 Bekannte Zielorgane einiger Stoffe
Zur Beschreibung der Giftigkeit ist die akute Toxizität von großer Bedeutung. Die akute Toxizität beschreibt die Wirkung bei einmaliger Einwirkung. In der Regel stellt sich die toxikologische Wirkung kurzfristig nach Exposition innerhalb weniger Minuten bis einiger Stunden ein. In sehr seltenen Fällen ist die Stoffwirkung durch Spätschäden erst nach Wochen oder Monaten erkennbar.
1.1.1 Aufnahmewege
Typischerweise können Stoffe auf drei verschiedenen Wegen in den Körper gelangen:
- oral: Aufnahme über den Mund direkt in den Magen,
- dermal: Aufnahme von Stoffen über die Haut und
- inhalativ: Aufnahme von Stoffen über die Atemorgane.
Abbildung 1.2 zeigt schematisch die verschiedenen Aufnahmewege sowie wichtige Zielorgane.
Abb. 1.2 Aufnahmewege für Stoffe in den Körper
1.1.1.1 Orale Aufnahme
In Abhängigkeit vom Aufnahmeweg können sich die Wirkungen von Stoffen deutlich unterscheiden. Durch das saure Milieu im Magentrakt (pH = 1 bis 5) können bei oraler Aufnahme hydrolyseempfindliche Stoffe gespalten werden. Chemische Umwandlungen sowohl zu giftigeren (Giftung) als auch zu ungiftigeren Stoffen (Entgiftung) sind möglich. Im Magen-Darm-Trakt werden vor allem basische und lipophile Stoffe resorbiert. Chemikalien, die weder im Magen noch im Darm resorbiert werden, scheidet der Körper wieder aus. Ein möglicherweise vorhandenes toxisches Potenzial kann dadurch nicht wirksam werden, wie beispielsweise bei Cadmiumsulfid oder Bariumsulfat. Ein weiteres Beispiel ist metallisches Quecksilber. Im Magen-Darm-Trakt ist es oral aufgenommen unlöslich und nicht bioverfügbar; es wird in Form kleiner Tröpfchen wieder vollständig ausgeschieden. Quecksilberdampf wird im Gegensatz hierzu sehr gut über die Lunge aufgenommen und wirkt stark toxisch. Sowohl organische als auch eine Vielzahl anorganischer Quecksilberverbindungen (z. B. Methylquecksilberchlorid) sind im Magen-Darm-Trakt ausreichend löslich und wirken entsprechend auch bei oraler Aufnahme sehr toxisch.
1.1.1.2 Dermale Aufnahme
Eine wesentliche Aufgabe der Haut besteht im Schutz des Körpers gegen Einwirkung von außen. Diese Schutzfunktion ist gegenüber ionischen, wasserlöslichen Stoffen oder Makromolekülen sehr effektiv. Fettlösliche (lipophile) Stoffe werden demgegenüber meist gut über die Haut aufgenommen und resorbiert.
In Abhängigkeit von der chemischen Struktur ist die dermale Aufnahme von Chemikalien sehr unterschiedlich. Während lipophile Stoffe mit einem Molekulargewicht unter 200 Dalton im Allgemeinen gut über die Haut aufgenommen werden, sind größere Moleküle in der Regel nicht mehr hautgängig. Bipolare Moleküle mit lipophilen und hydrophilen Gruppen werden äußerst effektiv resorbiert.
Bei Verwendung organischer Lösemittel muss deren gute Aufnahme über die Haut durch die Wahl geeigneter Schutzmaßnahmen Rechnung getragen werden. Die entfettende Wirkung der Lösemittel verstärkt durch Schädigung des Schutzmantels ihre dermale Aufnahme. Stoffe mit sowohl hautresorptiver als auch ätzender Wirkung werden äußerst schnell und wirkungsvoll über die Haut aufgenommen. Die ätzende Wirkung zerstört den Schutzmantel der Haut, infolgedessen können innerhalb kurzer Zeitspanne große Stoffmengen aufgenommen werden. Tödliche Unfälle durch Phenol oder Flusssäure sind hierfür bekannte Beispiele.
Die Bedeutung des dermalen Aufnahmeweges für Intoxikationen (Vergiftungen) wird in der Praxis häufig stark unterschätzt. Organische Lösemittel können gelöste Stoffe, die selbst nicht hautgängig sind, im Sinne eines „Carrier-Effektes“ durch die Haut transportieren. In der Medizin (Dermatologie) wird diese Tatsache ausgenutzt, um schlecht resorbierbare pharmakologische Wirkstoffe in tiefere Hautschichten zu transportieren.
Die Effektivität der dermalen Aufnahme ist am folgenden Beispiel gut erkennbar: Vom sehr gut hautresorptiven Dimethylformamid (DMF, Formel siehe Abbildung 1.3), wird 1 g, ca. 20 Tropfen, innerhalb weniger Minuten vollständig über die intakte Haut aufgenommen. Beim versehentlichen Verschütten können auch im Labormaßstab sehr viel größere Mengen aufgenommen werden. Um die gleiche Menge DMF über die Atemwege aufzunehmen, muss bei der maximal am Arbeitsplatz zulässigen Konzentration (bei täglich achtstündiger Exposition, AGW = 30 mg/m3, 10 ppm, siehe Abschnitt 3.3.1) mehrere Tage gearbeitet werden. Aufgrund der schnellen Metabolisierung von DMF (Halbwertszeit wenige Stunden) beträgt die im Körper zu einem beliebigen Zeitpunkt vorhandene Menge nur ein Bruchteil der Konzentration im Vergleich zur dermalen Aufnahme.
Abb. 1.3 Gut hautresorbierbare Stoffe
dermale Aufnahme: in Minuten
inhalative Aufnahme: in Tagen
Geschwindigkeit und Menge der über die Haut aufgenommenen Stoffe hängt wesentlich von der Lipophilie, Molekülgröße und Polarität ab. Abbildung 1.3 zeigt einige Beispiele gut hautresorbierbarer Chemikalien. Viele Stoffe werden nicht nur durch die Haut resorbiert, sondern können sie auch direkt schädigen.
Wird durch den Stoffkontakt eine unmittelbare, lokale Schädigung der Haut ausgelöst, liegt keine systemische, sondern eine irritative oder ätzende Wirkung vor.
1.1.1.3 Inhalative Aufnahme
Gut wasserlösliche Stoffe, z. B. Ammoniak oder Chlorwasserstoff, werden beim Einatmen i. A. bereits im oberen Atemtrakt von der Schleimhaut absorbiert und gelangen infolgedessen allenfalls teilweise in die tieferen Bereiche der Lunge. Da sich im oberen Bereich der Luftröhre sehr viele Rezeptoren befinden, werden Reizreaktionen wie Husten und Niesen ausgelöst. Die Reizgase
- Ammoniak,
- Fluor-, Chlor- und Bromwasserstoff,
- Schwefeldioxid, Stickoxide
sowie Dämpfe von
sind bekannte Vertreter dieses Wirkprinzips.
Weniger gut wasserlösliche Verbindungen können bis in die Bronchien vordringen. Da in diesem Bereich der Lunge eine dünne Schleimschicht mit wenigen Rezeptoren vorherrscht, ist die Reizwirkung hier deutlich weniger ausgeprägt. Eine teilweise Diffusion durch das dünne Bronchiengewebe ist möglich. Die folgenden industriell bedeutsamen Chemikalien gehören zu diesem Typ:
- Mono- und Diisocyanate,
- Chlor,
- Brom,
- Jod,
- Ozon und
- Phosphorchloride.
Lipophile Verbindungen können über die Bronchien bis zu den Lungenbläschen (Alveolen) vordringen (siehe Abschnitt 1.2). Dort findet der Gasaustausch zwischen Blut (Kohlendioxid) und Atemluft (Sauerstoff) statt. Die Alveolen liegen am Ende der Lungenäste und sind traubenförmig angeordnet. Ihre Oberflächen sind mit Blutkapillaren überzogen. Zwischen Blutgefäß und Gasraum befindet sich lediglich eine ein tausendstel Millimeter dicke Membran, die von nur zwei Zellschichten gebildet wird. Eine Diffusion von Fremdstoffen aus der Atemluft in die Blutbahn ist leicht möglich. Die gesamte Oberfläche der Millionen von Alveolen eines Erwachsenen beträgt ca. 100 m2.
Dringen ätzende Stoffe bis in die Alveolen vor, sind lebensgefährliche Verätzungen des Lungengewebes die Folge. Stoffe mit ätzender und cytotoxischer (zellschädigender) Eigenschaft bewirken eine deutliche Wirkungsverstärkung. Dringt durch eine lokale Verätzung Flüssigkeit in die Alveolen ein, kann es zur Ausbildung eines Lungenödems kommen. Hierbei wird der lebensnotwendige Sauerstoffaustausch stark reduziert. Wenn die Bildung eines Lungenödems erst Stunden bis Tage nach der Exposition einsetzt, liegt eine latente Wirkung vor. Die Latenzzeit verläuft häufiger nahezu beschwerdefrei. Nur durch frühzeitiges ärztliches Eingreifen ist eine erfolgreiche Behandlung möglich. Große Bedeutung für die Bildung von Lungenödemen haben
- Phosgen,
- Ozon,
- Stickstoffdioxid,
- Methylisocyanat sowie viele Diisocyanate.
1.1.2 Metabolismus
In Abhängigkeit des Aufnahmeweges durchlaufen Stoffe verschiedene Umwandlungsprozesse zwischen Aufnahme und Ausscheidung. Die Verweildauer im Organismus beträgt in Abhängigkeit von Löslichkeit, Dampfdruck, Polarität, Lipophilie, chemischer Struktur, Toxikokinetik und Toxikodynamik einige Minuten (z.B. Cyanide) bis hin zu mehreren Jahren (z. B. Schwermetalle, halogenierte Verbindungen). Neben den vorgenannten Eigenschaften beeinflussen sowohl die aufgenommene Menge als auch die physikalische Form die Metabolisierung. Die wichtigsten an Abbau und Umwandlung von Stoffen beteiligten Organe sind Leber, Galle, Niere und Magen. Die Verteilung im Körper in Abhängigkeit vom Aufnahmeweg kann Abbildung 1.4 entnommen werden.
Die Leber spielt beim Abbau körpereigener wie körperfremder Stoffe eine große Rolle. Primärreaktionen sind Hydrolyse, Oxidations- und Reduktionsreaktionen. Durch Konjugations- und Adduktbildung an Eiweiße oder Enzyme wird eine Wasserlöslichkeit erreicht oder erhöht. Häufig bewirkt die Metabolisierung eine Reduzierung des toxischen Profils, die Entgiftung. Gelegentlich führen Konjugations- oder Additionsaddukte erst zur eigentlichen toxischen Verbindung, was als Giftung bezeichnet wird.
Neben Leber und Niere sind zahlreiche weitere Zielorgane von Chemikalien bekannt, Tabelle 1.1 listet einige Zielorgane auf. Durch Bildung spezifischer Donor-Akzeptor-Komplexe an der Vielzahl von Rezeptoren in den Zellen können sehr unterschiedlich Schädigungen hervorgerufen werden. Für die Extrapolation der Stoffwirkung vom Tier (meist Ratte oder Maus) auf den Menschen ist wesentlich, dass sich die Zielorgane in der Regel nicht unterscheiden.
Abb. 1.4 Aufnahme, Verteilung und Ausscheidung von Stoffen
Tabelle 1.1 Zielorgane ausgewählter Chemikalien.
Von besonderer Bedeutung für das toxikologische Profil sind Reaktionen mit Bestandteilen im Zellinneren, insbesondere mit dem Zellkern. Addukte mit der DNS (Desoxyribonukleinsäure), dem Träger der Erbinformation, können prinzipiell die Ursache für eine krebserzeugende Wi...