Teil III
Geschäftsmodelle
Chapter 6
Wertschöpfungspartnerschaften für Stückgüter in der Chemielogistik
Thomas Krupp, Christian Kille
6.1
Logistik in der chemischen Industrie – Möglichkeiten für Wertschöpfungspartnerschaften im Bereich handling-bedürftiger Stückgüter
Dass die chemische Industrie einen großen Anteil am gesamten verarbeitenden Gewerbe hat, gilt als allgemein bekannt. Doch dass diese mit rund 170 Mrd. € drittgrößte Industrie in Deutschland auch ein enormes Potenzial für Netzwerkdienstleister birgt, ist bisher quantitativ und qualitativ noch nicht aufgezeigt worden. Denn um ehrlich zu sein: Welche Logistikleistungen fallen Ihnen ein, wenn Sie an Chemielogistik denken? Das erste Bild sind die riesigen Chemieanlagen, die mit spezialisierten Tank- und Silotransporten versorgt werden. Doch Chemielogistik ist mehr. In der Chemieindustrie werden nicht nur Güter mit Sonderanforderungen an das Transport-Equipment produziert, es werden auch Konsumgüter hergestellt, die durch Standardsystemverkehre transportiert werden können.
Wer gibt Aufschluss über die Marktpotenziale für Netzwerkdienstleister in dieser sehr heterogenen Branche? Dafür bietet sich die amtliche Klassifikation der Wirtschaftszweige an, die die deutsche Wirtschaft sektoral einteilt. Dort ist auch eine Abteilung (umgangssprachlich „Branche“) definiert, die sich „Herstellung chemischer Erzeugnisse“ nennt. Dieser Branche werden folgende Gütergruppen zugeordnet [1]:
- Chemische Grundstoffe
- Schädlingsbekämpfungs-, Pflanzenschutz- und Desinfektionsmittel
- Anstrichmittel, Druckfarben und Kitte
- Pharmazeutische Erzeugnisse
- Seifen, Wasch-, Reinigungs- und Körperpflegemitteln sowie Duftstoffe
- Sonstige chemische Erzeugnisse
- Chemiefasern.
Allein an dieser Aufstellung wird klar, dass sich in dieser Branche ein großer Teil Stückgüter verbirgt. Von den im Jahr 2008 fast 125 Mio. Tonnen produzierten und importierten Gütern der Branche müssen zwar 100 Mio. Tonnen mit spezialisiertem Equipment transportiert werden, d.h. mit den eingangs erwähnten Tankwagen, Pipelines oder Silos. Jedoch entfallen davon immerhin 25 Mio. Tonnen auf den Transport und die Lagerung von (in vielen Fällen systemfähigem) Stückgut wie Paletten, Octabins, Fässern etc. – oftmals eingebunden in umfassende Kontraktlogistik-„Pakete“. Und der Transportbedarf dieser Tonnagemenge erhöht sich mit jeder Distributionsstufe wie Großhandel oder Einzelhandel, so dass sich ein Gesamtaufkommenspotenzial von 50 bis 60 Mio. Tonnen ergeben kann [2].
Die chemische Industrie ist damit eine interessante Zielbranche für Anbieter integrierter (Kontrakt-)Logistiklösungen für handling-bedürftiges Stückgut. Gleichzeitig wird auf dem Markt der Chemielogistik, insbesondere der Kontraktlogistik, auch weiterhin ein starker Wettbewerb und Konsolidierungen erwartet.
Vor diesem Hintergrund ist eine klare strategische Positionierung erfolgskritisch, um in einem möglichen Zielmarkt „Chemie“ bestehen zu können. Um die Chancen in der Chemielogistik zu nutzen, erweitern Stückgutexperten ihr Geschäftsmodell entsprechend der Ausführungen von Ansoff mit ihren bestehenden Dienstleistungsangeboten um den Branchenfokus Chemie bzw. schaffen neue Dienstleistungsbündel für diesen Zielmarkt [3].
Bisher gibt es wenige große Dienstleister mit der Spezialisierung, die gesamte Supply Chain abdecken zu können und eine Spezialisierung auf die Anforderungen der chemischen Industrie langfristig voranzutreiben.
Gleichwohl stoßen große Netzwerkdienstleister in diesen Bereich vor, so bieten Dachser und Schenker integrierte Logistiklösungen für die Chemiebranche an. Aber auch mittelständische Unternehmen, etwa die Loxxess AG realisieren bereits umfassende integrierte Kontraktlogistikgeschäfte mit der chemischen Industrie. Inwieweit diese strategischen Richtungen systematisch geplant oder eher „emergent“, also intuitiv „aus dem Bauch heraus“ entstanden sind [4], kann hier nicht abschließend geklärt werden.
Zielsetzung des Artikels ist es – entsprechend der Forderung von Porter, auch klare strategische Abgrenzungen vorzunehmen [5, S. 61 ff.]. Den Sinn und die Erfolgswahrscheinlichkeit der Erweiterung des Geschäftsmodells auf die Zielbranche „Chemie“ für Logistikdienstleister mit Stückgut-Expertise systematisch zu analysieren und so eine bewusste Wahl der Strategie zu ermöglichen.
Der vorliegende Artikel widmet sich nun zunächst einer theoretischen Fundierung des Begriffs „Geschäftsmodell“ und der Bedeutung der strategischen Analyse im Rahmen eines systematischen, strategischen Vorgehens. Als Element einer solchen strategischen Analyse wird im Anschluss eine Branchenanalyse für die chemische Industrie durchgeführt. Die Analysen der logistischen Strukturen in der chemischen Industrie stammen aus Forschungsarbeiten der Fraunhofer SCS über die deutsche und europäische Logistikdienstleistungswirtschaft, deren Ergebnisse zusammenfassend jährlich in dem Standardwerk zum Logistikmarkt „Die Top 100 der Logistik“ veröffentlicht werden ([6] und [7] als die jeweils aktuelle deutsche und europäische Ausgabe).
Schließlich wird am Fallbeispiel Dachser dargestellt, wie ein etablierter Logistikdienstleister sich durch die klare Ausrichtung des Geschäftsmodells „Chemielogistik“ erfolgreich im Markt positionieren kann. Die Ausführungen in der Fallstudie basieren (soweit nicht anders vermerkt) insbesondere auf Expertengesprächen mit Michael Kriegel, Leitung der Branchenlösung Dachser Chem-Logistics, sowie Material der Firma Dachser.
6.2
Geschäftsmodelle – bewusste Auswahl strategischer Aktivitäten von Logistikdienstleistern
Angelehnt an Porter können Geschäftsmodelle als bewusste Auswahl strategischer Aktivitäten beschrieben werden – dazu gehört auch die bewusste Auswahl strategischer Zielbranchen für Logistikdienstleister [5, S. 62 ff.].
Ein gutes Geschäftsmodell beantwortet die Frage nach den Kunden eines Unternehmens und dem geschaffenen Kundennutzen. Dabei werden auch (oder gerade) die Fragen nach der Art und Weise wie dieser Kundennutzen zu wettbewerbsfähigen Kosten hergestellt wird sowie die Frage nach den Einnahmequellen (Earnings Model) beantwortet [8].
Porter betont gerade im Kontext des oft unscharfen Begriffs des Geschäftsmodells die Bedeutung eines systematischen Vorgehens – dies bezieht sich sowohl auf die interne Analyse der betrieblichen Wertkette als auch auf die externe Analyse des Wettbewerbsumfelds bzw. der Wettbewerbsarena [9].
6.2.1
Geschäftsmodelle im Rahmen des Strategieprozesses
Die Veränderung des Geschäftsmodells ist eine strukturelle Grundsatzentscheidung in der Strategiefindung. Im Rahmen eines systematischen Strategieprozesses erfolgt die Beschreibung des Geschäftsmodells nach der „Strategischen Analyse“, die die Entscheidungsgrundlage für eine solche Veränderung liefert. Im Anschluss erfolgt die Umsetzung der Strategie – also die strategiegerechte (Neu-) Ausrichtung der Organisation und die Implementierung des neuen Geschäftsmodells über die Änderungen des strategischen Zielsystems (mit den strategischen Unternehmenszielen und den Ursache–Wirkungszusammenhängen), Messgrößen und Zielwerte sowie strategische Aktionen [10].
Gerade im turbulenten Umfeld der Logistik sind Logistikdienstleister gezwungen, ihre Strategie laufend zu hinterfragen und ihre Geschäftsmodelle entsprechend anzupassen. Oftmals gehen Logistikdienstleister im strategischen Bereich aber eher unstrukturiert und intuitiv vor [11].
Ein systematisches Vorgehen ist aus zwei Gründen entscheidend: 1. dem strategischen Fit für das Geschäftsmodell des Dienstleisters und 2. der Einbindung in das strategische Konzept des Verladers. Eine neue Zielbranche muss zur bestehenden Strategie des Verladers passen – schließlich sollen bereits vorhandene Kompetenzen und Ressourcen zur dauerhaften Sicherung des unternehmerischen Erfolges des Dienstleisters beitragen. Gleichzeitig muss die logistische Umsetzungskompetenz des Dienstleisters zielgerichtet auf die Bedürfnisse der Zielbranche fokussiert werden – so erfolgt die Ausrichtung der Organisation und Unternehmensressourcen für den neuen Marktfokus.
In diesem Zusammenhang kann das Geschäftsmodell kurz beschrieben werden als vereinfachte Darstellung des zur Leistungserstellung komplizierten Geflechts an erforderlichen Aktivitäten und Ressourcen eines Unternehmens [12]. Das 7-K-Modell nach Horváth & Partners wird als Strukturierungshilfe zur Beschreibung und Analyse der Geschäftsmodelle von Netzwerkdienstleistern herangezogen (Abbildung 6.1).
Betrachtet man die Elemente des 7-K-Models, wird die Bedeutung der strategischen Analyse, insbesondere des Marktumfeldes und der resultierenden speziellen Anforderungen deutlich.
6.2.2
Geschäftsmodelle von Logistikdienstleistern
Entlang des 7-K-Modells kann analysiert werden, inwiefern eine Erweiterung der Geschäftsfelder um den Branchenfokus Chemielogistik mit dem bestehenden Geschäftsmodell harmoniert und inwiefern Anpassungsbedarf besteht (zum 7-K-Modell in der Logistik [13, S. 44 ff. und 14, S. 201 ff.] Im Folgenden werden die für die Chemielogistik relevanten Elemente des 7-K-Modells für integrierte Logistikdienstleister dargestellt und abgeleitet, welche Chancen und welche Risiken sich ergeben.
Strategischer Kern Die „Kernprodukte“ im Leistungsportfolio der in diesem Artikel betrachteten Dienstleister sind die klassischen Logistikdienstleistungen, d.h. Transporte (Stückgut/Sammelgut, LTL, FTL) und Lagerung (Stückgut) sowie komplexe Dienstleistungspakete (Kontraktlogistik). Eine strategische Abgrenzung gegenüber Wettbewerbern kann über die Konzentration auf spezialisierte Branchenlösungen erfolgen. Gerade durch die hohen Anforderungen in der Chemielogistik bieten sich gute Möglichkeiten der Differenzierung für Stückgutexperten: Sowohl Netzwerkdienstleister als auch (kleine und mittelständische) Kontraktlogistikexperten scheinen sich in diesem Markt etablieren zu können. Neben den Global Players wie DHL, Schenker und Kühne & Nagel mit internationalen Strukturen sind auch kleinere Dienstleister wie Loxxess, Greiwing und Pfenning, deren Vorteil oft gerade die überschaubare Größe und die lokale Nähe ist, in der Chemielogistik vertreten.
Wie eingangs beschrieben setzt sich der Trend zum Logistik-Outsourcing im Zuge der Konzentration auf Kernkompetenzen seitens der Verlader auch in der chemischen Industrie fort. Solche Kontraktlogistikgeschäfte bieten für Logistikdienstleister aus zwei Gründen interessante Möglichkeiten: Zum einen sind längerfristige Bindungen und entsprechende Umsätze (mit zu erhoffenden höheren Profiten, etwa nach realisierten Effizienzsteigerungen) gesichert, zum anderen kann eine dauerhafte und planbare (Zusatz-) Auslastung in die Transportnetzwerke gebracht werden. Logistikdienstleister können sich diesen Markt erschließen, indem sie Ressourcen und Fähigkeiten aus bestehenden Geschäften zu einer Kernkompetenz Chemielogistik kombinieren und gezielt ausbauen.
Kundenwahrnehmung Bezüglich der Kundenwahrnehmung geht es im Kern darum, eine im Markt bewährte Logistikmarke in der Chemiebranche als interessanten Wertschöpfungspartner zu positionieren. In dieser Branche bedeutet dies, dass potenzielle Kunden Vertrauen in die Fähigkeit des Dienstleisters haben müssen, die qualitativ anspruchsvollen, spezifischen Logistikaufgaben erfolgreich lösen zu können. Nach den Erkenntnissen der Principal-Agent-Theorie und aus praktischen Erfahrungen mit Kontraktlogistikgeschäften kann dieses Vertrauen insbesondere durch Referenzen aus vergleichbaren Branchen, idealerweise aus derselben, gewonnen werden [15].
Es gilt also, direkte Referenzen in der Branche aufzubauen und potenzielle Kunden durch vergleichbare Referenzen glaubhaft von der eigenen Leistungsfähigkeit und dem Leistungswillen zu überzeugen. Dabei kann auch die Zusammenarbeit mit Verbänden und (branchenfokussierten) Forschungseinrichtungen nützlich sein.
Kundenschnittstelle Parallel zu der globalen Tendenz in der Logistikdienstleistung ist es auch in der Chemielogistik ein zentrales Ziel, die Kunden langfristig in (Kontrakt-) Logistikbeziehungen zu binden. Durch solche Wertschöpfungspartnerschaften können langfristige Umsatzquellen aufgetan und Differenzierungsstrategien gerade vor dem Hintergrund der hohen Qualitätsanforderungen der chemischen Industrie realisiert werden – anders gesagt sehen Logistikdienstleister hierin die Chance, den harten Preiskampf kurzfristiger Spotmarkt-Beziehungen zu beiderseitigem Nutzen zu vermeiden.
Ähnlich wie in der Kontraktlogist...