Teil II
Praxis guter Wissenschaftskommunikation
Kapitel 6
Allgemeine Regeln für gutes Formulieren
Überprüfen Sie sich einmal selbst: Wann lesen Sie einen Beitrag in der Zeitung oder im Internet? Wenn das Thema Sie berührt. Oder wenn Sie ein Faible für eine bestimmte mediale Form haben, etwa besonderes Vergnügen finden an Interviews oder Reportagen. Womöglich halten Sie in „Ihren“ Medien auch gezielt Ausschau nach Beiträgen bestimmter Autoren. (Im Internet können Sie Personen sogar regelrecht „abonnieren“, per RSS-Feed bei Blogs z.B. oder als Follower in sozialen Netzwerken; vgl. dazu auch Kapitel 21.) Vielleicht blättern Sie Zeitungen und Magazine aber auch bisweilen durch, ohne gezielt nach bestimmten Themen, Formen oder Autoren Ausschau zu halten – und wenn ein Beitrag gut geschrieben und attraktiv aufgemacht daher kommt, bleiben Sie am Ball.
Im Idealfall passt alles zusammen: Interviews finden Sie ohnehin reizvoll; Astronomie fasziniert Sie seit Ihrer Kindheit; das letzte Sachbuch der interviewten Physikerin haben Sie regelrecht verschlungen; Überschrift und Einleitung des Beitrags kündigen eine neue Hypothese über das Wesen der Dunklen Materie an – gerade so, als sei der Text nur für Sie geschrieben worden.
Dieses Beispiel wirkt natürlich arg konstruiert. In den meisten Fällen stolpern Sie vermutlich über ein Thema und bleiben hängen, wenn es eine anregende Lektüre verspricht. Oder Sie müssen einen bestimmten Beitrag aus beruflichen Gründen ohnehin lesen, egal wie gut er geschrieben ist. Eventuell aber haben Sie sich auch schon einmal dabei erwischt, einen Artikel zu lesen, obwohl er Ihnen inhaltlich zunächst nicht viel sagte; obwohl Sie den Autor nicht kannten oder auf Autornamen grundsätzlich nicht achten; und obwohl Sie normalerweise keinen Gefallen an – sagen wir – seitenlangen Porträts haben. Dann erlagen Sie offenbar dem Charme von Text und Bild!
Gutes Formulieren zielt vor allem auf eines ab: Aufmerksamkeit zu wecken und aufrechtzuerhalten (siehe Kapitel 5). Je nach Redaktion (und manchmal entlang versteckter Frontverläufe quer durch eine Redaktion hindurch) kann es verschiedene Auffassungen darüber geben, was gutes Formulieren bedeutet. Manche Journalisten würden z.B. die Namen ausländischer Institutionen am liebsten immer eindeutschen („Wie Forscher der Universität von Kalifornien in San Francisco jetzt feststellten, …“); andere hingegen scheuen sich nicht, auch in einem deutschsprachigen Beitrag über „Wissenschaftler der University of California in San Francisco“ zu berichten. Manche rekurrieren auf „die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts“; andere auf „die 1980er Jahre“. Solche Geschmacksfragen werden durch redaktionelle Konvention geregelt, die von Medium zu Medium verschieden ausfallen kann. Um sie geht es im Folgenden nicht. Denn darüber hinaus gibt es eine Handvoll universeller Regeln für gutes Formulieren. Sie lauten:
- Präzise formulieren!
- Schlank formulieren! Sätze übersichtlich halten, Schachtelsätze zerlegen! Hohle Phrasen und Leerformeln vermeiden! Wenn möglich, kurze Wörter verwenden! Sparsam mit Adjektiven umgehen!
- Anhäufungen von Substantiven (Nominalstil) vermeiden! Wann immer möglich, Verben statt Nomen gebrauchen (Verbalstil)!
- Aktiv formulieren! Passiv- und unpersönliche „man“-Konstruktionen vermeiden!
- Abwechslungsreich formulieren! Wortwiederholungen vermeiden – allerdings bei Substantiven nicht um den Preis sprachlicher Verrenkung!
In der Wissenschaftskommunikation ebenfalls relevant:
- Konkret, anschaulich, lebendig formulieren! Abstrakte Aussagen anhand von Beispielen verdeutlichen!
- Metaphern und Vergleiche nutzen, um komplexe Sachverhalte fassbar zu machen (siehe hierzu Kapitel 14)!
Zudem gilt für Beiträge, die sich an Nicht-Spezialisten richten:
- Fachjargon vermeiden! In jedem Fall für die jeweilige Zielgruppe voraussetzungsvolle Begriffe bei ihrer ersten Nennung einführen und kurz erläutern! (Für die Beiträge eines Fachjournals wie Der Gastroenterologe gilt diese Regel nicht – ebenso wenig für einen spezialisierten Blog, der sich an eine eng umrissene Community von einschlägig Vorgebildeten richtet. In beiden Fällen ist die Zielgruppe spitz: Man bleibt unter sich und weiß, wovon man redet.)
Haben Sie es bemerkt? Die obigen Regeln sind nicht hierarchisch durchnummeriert. Einige stehen sogar in einem Spannungsverhältnis zueinander: so kann sich etwa „präzise formulieren“ im konkreten Fall mit „lebendig formulieren“ oder „Fachjargon vermeiden“ beißen. Als Autor müssen Sie im Zweifelsfall entscheiden, welcher Regel Sie Vorfahrt gewähren. Tun Sie dies stets im Hinblick auf Ihre Zielgruppe, das konkrete Medium, in dem Sie operieren, die Wirkung, die Sie erzielen wollen, und die kommunikative Haltung, die Sie einnehmen (vgl. Kapitel 3)!
Es gibt eine gut gepflegte Mär, die da lautet: Schreiben und Kommunizieren sind einem in die Wiege gelegt – man kann es eben, oder man kann es nicht. Das ist falsch. Richtig ist: Talent schadet nicht. Doch gutes Formulieren ist ein Handwerk, das man erlernen kann wie Fahrradschläuche Flicken. Auch Schreiben und Redigieren (das Bearbeiten der Texte anderer vor der Publikation) lernt man vor allem durch Eines: üben, üben, üben – mit regelmäßigem Feedback von Menschen, die es bereits besser beherrschen.
Ein Handwerk zu erlernen ist mühsam. Das gilt auch für die Wissenschaftskommunikation. Doch der Aufwand lohnt sich: Wer sein Bewusstsein für Zielgruppen, kommunikative Wirkungen und Haltungen sowie mediale Formen schärft, den Stoff für Küchenzurufe schnell identifiziert und diese passgenau formuliert, wer sein Verständnis für gute Texte kontinuierlich weiter entwickelt, der wird seine Ziele bei Lesern, Zuhörern, Zuschauern und Nutzern immer sicherer erreichen. Und bei manchen Textformen hängt gerade für Wissenschaftler durchaus viel davon ab – etwa beim Drittmittelantrag (siehe Abschnitt 20.1).
Box 6.1 Vom Großen zum Kleinen: Wie Profis Texte überarbeiten
Beim Überarbeiten von (eigenen oder fremden) Texten arbeiten sich Profis stets von den größeren zu den kleineren Strukturen vor. Das bedeutet: Zunächst stellt man die Organisation des Textes als Ganzes auf den Prüfstand, streicht ggf. ganze Absätze, zieht einzelne Passagen von vorn nach hinten oder umgekehrt, ergänzt fehlende Angaben, gliedert optionale Informationen, die den Gedankenfluss stören, aber dennoch wichtig sind, in separate Kastentexte aus. Erst wenn die Grundstruktur des Textes steht, richtet sich das Augenmerk auf einzelne Absätze und schließlich auf das Verbessern einzelner Sätze.
Soweit Vorrede und Theorie, jetzt ran an Praxis! Im Folgenden verdeutliche ich die genannten Regeln für gutes Formulieren anhand konkreter Beispiele. Dazu gebe ich zunächst Textpassagen eins zu eins so wieder, wie sie in „populärwissenschaftlichen“ Manuskripten auftauchen. Anschließend erläutere ich Möglichkeiten, wie man derlei Texte anhand obiger Regeln Schritt für Schritt verbessern kann. Hier also das erste Original:
Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer „lesen“, weswegen wir auch aufhören sollten, Begriffe zu verwenden, die bereits eine gewisse Voreingenommenheit in Bezug auf die Art und Weise, wie wir über einen solchen Prozess denken, transportieren.
Eine Faustformel für die Zerschlagung von Bandwurmsätzen lautet: Ein Gedanke, ein Satz – zwei Gedanken, zwei Sätze. Damit lassen sich unübersichtliche Satzlabyrinthe in überschaubare Passagen zergliedern. Wenden wir diese Formel also ein erstes Mal an!
Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer „lesen “. Deswegen sollten wir auch aufhören, Begriffe zu verwenden, die bereits eine gewisse Voreingenommenheit in Bezug auf die Art und Weise, wie wir über einen solchen Prozess denken, transportieren.
Der neu entstandene zweite Satz wartet an seinem Ende mit einer ekeligen Überraschung auf, die typisch ist für viele Texte gerade von Wissenschaftlern: Plötzlich wird eine Struktur zu Ende gewürgt, deren Anfang die Leser schon wieder aus den Augen verloren haben. Derlei Satzdrachen rückt ein geübter Redakteur sofort mit gezücktem Stift zu Leibe, woraufhin sie ihre Schuppenschwänze auch brav einziehen:
Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer „lesen“. Deswegen sollten wir auch aufhören, Begriffe zu verwenden, die bereits eine gewisse Voreingenommenheit in Bezug auf die Art und Weise transportieren, wie wir über einen solchen Prozess denken.
Wie geht es Ihnen: Der zweite Satz klingt immer noch nicht gut, oder? Vor allem aber ist er unpräzise, denn es geht hier gar nicht um mehrere Begriffe, sondern nur um einen, das „Gedankenlesen“. Besser ist deshalb:
Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer „lesen“. Deswegen sollten wir auch aufhören, diesen Begriff zu verwenden, der bereits eine gewisse Voreingenommenheit in Bezug auf die Art und Weise transportiert, wie wir über einen solchen Prozess denken.
Hier tut sich eine Möglichkeit auf, die Zwei-Gedanken-zwei-Sätze-Regel erneut einzusetzen:
Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer „lesen“. Deswegen sollten wir auch aufhören, diesen Begriff zu verwenden. Er transportiert bereits eine gewisse Voreingenommenheit in Bezug auf die Art und Weise, wie wir über einen solchen Prozess denken.
Präziser als der farblose „Begriff“ wäre die „Metapher“, es geht schließlich um den bildhaften Ausdruck des „Gedankenlesens“. Je nach Wortschatz und Bildungshorizont der Zielgruppe kann man sie einwechseln oder nicht. Wer sich für die Frage interessiert, ob man mit den bildgebenden Verfahren der Hirnforschung „Gedanken lesen“ kann, dürfte die „Metapher“ verkraften. Also:
Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer „lesen“. Deswegen sollten wir auch aufhören, diese Metapher zu verwenden. Sie transportiert bereits eine gewisse Voreingenommenheit in Bezug auf die Art und Weise, wie wir über einen solchen Prozess denken.
Der abschließende Satz entbehrt immer noch jeder Eleganz. Vor allem die „Voreingenommenheit“ – ein schauriges Beispiel für Nominalstil – treibt jedem erfahrenen Kommunikator Pickel ins Gesicht. Der Clou: Wenn man zuvor an passender Stelle ein Adjektiv wie „problematisch“, „irreführend“ oder „fragwürdig“ einfügt, kann man auf den letzten Satz komplett verzichten. Kurz formulieren! Für welches Adjektiv Sie sich entscheiden, hängt davon ab, wie stark Sie Ihre Meinung artikulieren wollen: „irreführend“ ist härter als „problematisch“. Wählen Sie erstere Variante, so lautet das Resultat:
Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer „lesen“. Deswegen sollten wir auch aufhören, diese irreführende Metapher zu verwenden.
Das folgende Beispiel verdeutlicht ein weiteres Mal sowohl die „Zwei Gedanken, zwei Sätze“- als auch die „Schwanz einziehen“-Regel. Original:
Die Zustände selbst lassen sich nicht direkt beobachten, aber das Verhalten der anderen kann auf der Basis einer Reihe von Kausalregeln, die Wahrnehmungen, Wünsche und Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen zusammenführen, vorhergesagt werden.
Die beiden Gedanken, die hier durch die Konjunktion „aber“ unnötig in einen Satz gezwängt wurden, lauten „einerseits nicht direkt beobachtbar“, „andererseits dennoch vorhersagbar“. Leicht lassen sie sich in zwei Sätze aufteilen:
Die Zustände selbst lassen sich nicht direkt beobachten. Aber das Verhalten der anderen kann auf der Basis einer Reihe von Kausalregeln, die Wahrnehmungen, Wünsche und Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen zusammenführen, vorhergesagt werden.
Mit der Anwendung der „Zwei Gedanken, zwei Sätze“-Formel ist es freilich nicht getan. Der neu entstandene zweite Satz ist noch weit von seiner optimalen Form entfernt. Er trägt ein hässliches Schwänzchen namens „vorhergesagt werden“. Das sollte er dringend einziehen:
Die Zustände selbst lassen sich nicht direkt beobachten. Aber das Verhalten der anderen kann auf der Basis einer Reihe von Kausalregeln vorhergesagt werden, die Wahrnehmungen, Wünsche und Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen zusammenführen.
Nettogewinn: ein weiteres Komma weniger und mehr Übersicht. Nachdem die beiden Standardtricks „Zwei Gedanken, zwei Sätze“ sowie „Schwanz einziehen“ erfolgreich angewandt wurden, könnte man sich nun den Feinheiten zuwenden. Vor allem die Passivkonstruktionen stören noch. Ersetzt man sie jeweils durch ein Aktiv, so wird der Inhalt präziser: Die Leser erfahren, wer denn da beobachtet bzw. das Verhalten vorhersagen kann – ein Forscher, ein Computer, jedermann? Nennen Sie in Ihren Texten stets Ross und Reiter!
Box 6.2 Vortragsstil – schlechter Stil
Vor allem vielen Naturwissenschaftlern liegt es näher, „populäre“ Vorträge zu halten, als „populäre“ Texte abzufassen. So schleicht sich vielfach Vortragsstil in ihre Texte ein, wenn sie doch einmal in die Tasten greifen. Doch Phrasen wie „was noch zu zeigen ist“, „worauf ich später noch zu sprechen kommen werde“, „wie ich einleitend versucht habe herauszustellen“, „wie es so schön heißt“ usw. sind absolute Spannungskiller und ersatzlos zu streichen.
Ich belasse es an dieser Stelle jedoch dabei und bringe stattdessen ein weiteres Beispiel für die Zwei-Gedanken-zwei-Sätze-Methode. Original:
Diener tragen Gaben, die ein Mann, d...