1 Quantensprung durch Schwarmintelligenz
1.1 Eine geniale Erfindung der Natur
Wie wird eine einfache Ameise zum Navigationswunderkind? Selbst in völlig unübersichtlichem Gelände finden Ameisen zielsicher den kürzesten Weg zu einem Futterplatz, sogar wenn die bisherige Ameisenstraße blockiert wird. Was der einzelnen Ameise mit ihren, freundlich gesagt, äußerst bescheidenen kognitiven Fähigkeiten alleine nie gelänge, schafft sie im Schwarm. Für sich genommen eher unspektakuläre Verhaltensweisen wie die Verfolgung von Duftspuren ihrer Artgenossen bündelt Schwarmintelligenz zu erstaunlichen Delta-Plus-Effekten: Die Futtersuche der Ameisen wird energieeffizient und sichert das Überleben der Art.
Diese geniale Erfindung von Mutter Natur lässt sich auch auf Unternehmen übertragen. Ein paar Kniffe und ein vernünftiger Set teils bekannter, teils vom Beratungsunternehmen des Autors neu entwickelter Führungsinstrumente genügen, um Unternehmen von innen heraus bemerkenswerte Innovationsanstöße zu geben. Schwarmintelligenz erschließt zusätzliches Leistungspotenzial im Arbeitsalltag. „Intelligenter arbeiten durch Kompetenzvernetzung im Schwarm“ lautet das Motto für mehr Wettbewerbsfähigkeit und gesicherte Arbeitsplätze.
| Schwarmintelligenz überzeugt: Aus einfachen, leicht verständlichen Verhaltensmustern entstehen erstaunliche Delta-Plus-Effekte. |
Schade nur, dass die meisten Unternehmen das außergewöhnliche Potenzial von Schwarmintelligenz bisher nicht entdeckt, geschweige denn von ihm profitiert haben. Noch haben sich die Vorzüge der Schwarmintelligenz im betrieblichen Umfeld nicht weit herumgesprochen. Erst ganz allmählich gerät Schwarmintelligenz ins Blickfeld neugieriger Führungskräfte.
Beigetragen hat zu dieser Zurückhaltung sicherlich auch das Faktum, dass passende Führungsinstrumente zur Aktivierung von Schwarmintelligenz bis dato nicht zur Verfügung standen. Die Vorteile von Schwarmintelligenz zu fördern, ihre Wirkungsweise aufzuzeigen und einen leicht gangbaren, praxisorientierten Weg für ihren betrieblichen Einsatz zu weisen – diesem Anliegen ist das vorliegende Buch gewidmet.
Erfolgsfaktor kontinuierliche Innovation
Das betriebliche Desinteresse an Schwarmintelligenz ist umso befremdlicher, da Innovation unbestritten zu dem Grundfesten modernen Unternehmertums zählt. „Altius, citius, fortius!“ Noch nie galt das olympische Motto (höher, schneller, stärker) im Wirtschaftsleben so absolut wie heute. Zukunftsweisende Technik, topaktuelles Design, erstklassiges Know-how und eine hocheffiziente Arbeitsorganisation – diese Faktoren umschreiben die wirtschaftliche Erfolgsformel für Hochlohnländer wie Deutschland.
Noch nie in der Wirtschaftsgeschichte bestand die Notwendigkeit, Unternehmen so oft umzustrukturieren, zu verkaufen, zu zerlegen, zu übernehmen oder zu fusionieren wie heute. Produktzyklen, Organisationsformen und Prozesse hatten noch nie derart kurze Halbwertszeiten. In der Automobilindustrie dauerte es um die Jahrtausendwende beispielsweise noch 35 Monate von der Idee bis zum fertigen Fahrzeug. Zehn Jahre später waren es nur noch 20 Monate.3) Führungskräfte und MitarbeiterInnen waren nie zuvor in der Industriegeschichte mit einer Arbeitswelt konfrontiert, die in so kurzen Zeitintervallen neue Verhaltensmuster erforderlich macht.
Hochdynamische Märkte erfordern proaktives Handeln. Wer sich nicht ständig runderneuert, fällt im Wettbewerb zurück. Spitzenleistungen von heute sind morgen schon Vergangenheit. Die künftige Erfolgsstory muss geschrieben werden, solange die bisherige noch heiß ist.
Kontinuierliche Innovation beschreibt insofern nicht einen, sondern den entscheidenden Erfolgsfaktor, um in schnelllebigen und hart umkämpften Märkten die Nase vorne zu behalten. Innovative Produkte begeistern Kunden, innovative Techniken steigern die Produktivität. Innovative Prozesse senken Kosten und verkürzen Reaktionszeiten. Schwarmintelligenz nutzt das Talent aller MitarbeiterInnen, um ein Unternehmen Tag für Tag ein Stückchen voranzubringen.
Wunsch und befremdliche Wirklichkeit
Landauf, landab mahnen Wirtschaftslenker und Politiker zu mehr Innovation. Und tatsächlich, welche MitarbeiterInnen, welche Führungskräfte zeigen nicht großes Verständnis für dieses Motto? Nur: Warum bleibt es dann viel zu oft beim frommen Wunsch?
Die Wirtschaftsgeschichte ist voll von Unternehmen, die viel zu lange an – ehemals durchaus erfolgreichen – Businessstrategien festhielten. Die Bedeutung des Internets verkannt? Den Trend zur Energieeinsparung verschlafen? Es mangelt nicht an zahlreichen prominenten und weniger prominenten Beispielen, wie fehlende Innovationsbereitschaft Firmen in schwieriges Fahrwasser oder gar an den Rand des Ruins gebracht hat.
Gleichzeitig beschweren sich Erfinder wie der renommierte Physiker Hans Graßmann über die Ignoranz großer und kleiner Wirtschaftsunternehmen, die trotz Energiekrise eine bahnbrechende Weiterentwicklung in Sachen effizienter Energiegewinnung mit einem lässigen „not here invented“ schlichtweg ignorieren.4)
Scheiden tut weh!
Befürworter einer Kontinuierlichen Innovation müssen betroffen feststellen: „Sollen“ ist noch nicht „Wollen“, „Wollen“ noch nicht „Können“, und „Können“ noch nicht „Dürfen“.
Sehr treffend hat Wolfgang Reitzle, Vorstandsvorsitzender der Linde AG, in seinem Essay „Es ist eine neue Zeit“ festgestellt:
„Risikobereitschaft statt Verwaltungsmentalität“, „Unternehmertum statt Management“ – die Richtung ist klar, aber nach den ersten Schritten scheitert mancher an den Hürden. Die Wahrheit ist auch hier: Veränderung gibt es nicht zum Nulltarif. Wenn sich etwas ändern soll, kann nicht zugleich alles bleiben, wie es immer war.5)
Wie kann Schwarmintelligenz helfen?
Das Beharrungsvermögen überwinden
Wirtschaftsorganisationen zeichnen sich durch ein schier unglaubliches Beharrungsvermögen aus. Naturwissenschaftler erklären das Beharrungsvermögen mit dem Gesetz der Trägheit (Erstes Newtonsches Gesetz): Ein Körper verharrt in seiner Position, solange ihn keine äußere Kraft zur Veränderung zwingt.
Was können wir aus dem Trägheitsgesetz für wirtschaftliche und soziale Organisationen lernen? Jede Organisation muss einen gewissen Innovationsdruck entwickeln, um überkommenes Denken, Bürokratie und Verwaltungsmentalität zu überwinden. Ohne greifbaren Innovationsanstoß siegt die Trägheit über die Erfordernis zum Wandel.
Innovationsdruck von außen oder innen?
Nach klassischem Verständnis ist der Aufbau eines solchen Innovationsdrucks exklusive Aufgabe von Führungskräften. Im Unterschied zu den meisten Beschäftigten sind diese dem Diktat von Markt und Wettbewerb direkt ausgesetzt. Der Gesamtorganisation wird der im Markt entstehende Innovationsdruck erst in einem zweiten Schritt durch ihre Entscheidungsträger aufgeprägt. Ist es unter diesen Umständen wirklich verwunderlich, dass sich diese bei Innovationen regelmäßig mit einem erheblichen Trägheitsmoment ihrer Organisation konfrontiert sehen?
Schwarmintelligenz ergänzt den äußeren Innovationsdruck um einen inneren Innovationsmotor. Über Schwarmintelligenz lassen sich Marktanforderungen und Wettbewerbsdruck bei geschickter Handhabung bis in die untersten Ebenen der Organisation durchrouten. Durch vernetzte Kompetenzen aller MitarbeiterInnen steht überall im Wertschöpfungsprozess ein neues, ansonsten brachliegendes Problemlösungs- und Innovationspotenzial zur Verfügung. Kurz gesagt: Schwarmintelligenz baut einen eigenständigen Innovationsdruck an jeder beliebigen Stelle im Unternehmen auf.
Den funktionalen Verkrustungsprozess mattsetzen
Im ersten Schritt überwindet Schwarmintelligenz einen funktionalen Verkrustungsprozess, der in klassisch geführten Unternehmen an der Tagesordnung ist. Dieser unfreiwillige Verkrustungsprozess entsteht regelmäßig, wenn für erfolgreich befundene Verhaltensweisen zur Leistungserstellung als Regeln bzw. Funktionsroutinen (Kombination von Regeln) niedergelegt werden.
Funktionsroutinen können problemlos befolgt werden, solange Markt und Technik sich nicht ändern. Doch wenn schnelllebige Märkte kurzfristige Reaktionen erfordern, zeigt sich immer wieder: Einmal etablierte Regeln neigen dazu, ein beharrliches Eigenleben zu entwickeln. MitarbeiterInnen fühlen sich eher bestehenden Funktionsroutinen als Markt und Kunden verhaftet. Die unangenehme Folge: Das bestehende Regelwerk wird von MitarbeiterInnen hartnäckig gegen jedwedes Innovationsstreben verteidigt.
Ungewollt hat sich in Unternehmen ein gravierender Stolperstein für Innovationen aufgebaut. Das wäre freilich überhaupt nicht nötig: Wie wir noch sehen werden, genügt bereits ein simpler Kniff, um Schwarmintelligenz in Form einer regen Entrepreneurship von MitarbeiterInnen loszutreten und einen beachtlichen inneren Innovationsdruck zu erzeugen. Bürokratie und Verwaltungsmentalität nehmen durch Schwarmintelligenz fühlbar ab. Konflikte werden entschärft, viele Reibungsverluste eliminiert.
Innovation als Kernaufgabe aller Beschäftigten
Das Überwinden dieser Innovations-Hemmschwelle ist noch lange nicht alles! Schwarmintelligenz bietet einen weiteren Vorzug. Werfen wir kurz einen Blick auf den Prozess der Industrialisierung: Im 21. Jahrhundert finden wir die Industrialisierung weit fortgeschritten. Doch wie groß der Fortschritt auch immer sein mag – wir können getrost davon ausgehen, dass Abermillionen weitere, heute noch unbekannte Ansatzpunkte bestehen, unsere Welt zu verbessern. Ein Rückblick in die Geschichte belegt diese These: Ingenieure, Chemiker, Ärzte, um nur einige Berufssparten zu nennen, vollbringen heute Leistungen, an die selbst technikbegeisterte Vordenker wie Jules Vernes vor 150 Jahren noch nicht einmal zu denken wagten.
Die Geschichte zeigt zugleich: Bei weitem nicht alle Innovationen verdanken sich klugem Forscherdrang. Im Gegenteil: Bei vielen bahnbrechenden Erfindungen hatte König Zufall seine Hand im Spiel. Die für den menschlichen Geist oft nur schwer durchdringbare Komplexität der Natur durchkreuzt ihre systematische Erforschung. Gleiches gilt für die Untersuchung sozialer Systeme. Glückliche Zufälle – der amerikanische Sozialwissenschaftler Robert K. Merton hat dafür den Begriff Serendipität6) geprägt – erhalten mithin analoges Gewicht wie systematische Forschung.
Serendipität lässt sich durch Schwarmintelligenz gezielt fördern. Ähnlich wie beim Lotto die Abgabe zusätzlicher Tippscheine die Gewinnchance erhöht, steigt die Innovationschance mit der Anzahl involvierter Köpfe. Innovationen sprudeln leichter, wenn Verbesserung zur alltäglichen Kernaufgabe aller MitarbeiterInnen wird. Wie Unternehmen dieses Wunder hinbekommen? Lassen Sie sich überraschen!
Erweitertes Gesichtsfeld im Schwarm
Schwarmintelligenz bietet einen dritten Vorteil: Der klassische Ansatz, Innovation ausschließlich als Aufgabe einer vergleichsweise kleinen Führungselite auszulegen, verschenkt Innovationspotenzial nicht nur im Hinblick auf Serendipität. Schwarmintelligenz versteht sich als Vernetzung unterschiedlicher Kompetenzen der Schwarmmitglieder. Diese Vernetzung erweitert das Gesichtsfeld des Schwarms beachtlich. Komplexe Sachverhalte erscheinen unter vielen divergierenden Blickwinkeln und werden dadurch treffender erfasst.
Vernetzte Kompetenz stimuliert ein umfassenderes Spektrum möglicher Lösungen, als es einzelnen Personen – selbst Genies – möglich wäre. Sachverhalte werden neu interpretiert, veraltete Denkmuster landen auf dem Müll. Sich vage abzeichnende Marktentwicklungen werden zuverlässiger erkannt, kreative Lösungen begünstigt. In jedem volatilen, auf Trends und Einschätzungen basierenden Umfeld birgt Schwarmintelligenz einschneidende Vorteile.
Der Versuch, Situationen mit überbordender Komplexität ohne Schwarmintelligenz kalkulierbar zu machen, überfordert selbst die besten Köpfe. Als Folge dieser gefühlten Unwägbarkeit klammern sich Verantwortliche viel zu oft an vorhandene Lösungsansätze und erzielen bestenfalls eine marginale Verbesserung. Eine scheinbar risikoarme, in Wirklichkeit aber eine gefährliche Strategie: Nachahmerstrategien ersetzen echte Innovationen; die Möglichkeit, durch Produkte und Verfahren mit Alleinstellungsmerkmal Kunden positiv zu überraschen und einen schwer aufzuholenden Wettbewerbsvorteil zu erringen, wird ohne Not vertan. Das große Geschäft wird kampflos anderen überlassen.
Bionik: Lernen von Mutter Natur
Wie stellen sich Unternehmen richtig auf, um von den vielfältigen Möglichkeiten der Schwarmintelligenz optimal zu profitieren?
Mutter Natur vermag uns große Teile dieser Frage zu beantworten. Was für soziale Systeme erst entdeckt wird, existiert in der Natur schon seit Jahrmillionen: Schwarmintelligenz. Treiben wir also ein wenig Bionik, eine Wissenschaft, die sich der künstlichen Nachahmung...