Einen ganzen Tag lang (und weit darüber hinaus!) beschäftigt sich die gelernte Historikerin und als Wissenschaftsjournalistin tätige ANNA mit Supermarktprodukten. Sie möchte als kritische Verbraucherin die Zutatenlisten und Inhaltsstoffangaben auf den Verpackungen von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen (Reinigungsmitteln, Kosmetika u. a.) besser verstehen lernen. Dabei unterstützen sie ihr Ehemann PETER, studierter Chemiker und Doktor der Naturwissenschaften, der als Laborleiter in der Industrie arbeitet, und ihre Tochter CLAUDIA, die in der 12. Klasse, wie früher auch ihre Mutter, Chemie als Leistungskurs gewählt hat. Unverhofft kommt noch eine vierte Person dazu – TANTE EMMA. Sie lebt in einer kleinen Dorfgemeinde, versorgt sich mit Hilfe ihres Wirtschaftsgartens selbst mit Gemüse und Obst, kauft beim Bauern nebenan Milch, Eier und Käse, ist aber auch Kundin ihres Kleinen Supermarktes im Dorf. Sie ist besonders neugierig auf das Angebot in einer Großstadt und möchte an dem »Tag mit Supermarktprodukten« der Familie gern teilnehmen – trotz aller Vorbehalte gegen Fertigprodukte.
Eine ehemalige Wohnung wurde dafür umgestaltet. Die überwiegend kleinen Räume bieten jeweils einer Gruppe von Waren genügend Platz. Es gibt sogar, wie in einem Kaufhaus, eine Sicherheitsschranke mit Alarmsystem. Im Eingangsraum mit der modernen Kasse (Waren-Scanner und Annahmegerät für Kreditkarten) befinden sich Regale mit Zeitschriften und Taschenbüchern; dort steht eine Eistruhe und man kann auch seine Pakete und Briefe aufgeben. In den weiteren Räumen werden z. B. Getränke, Frischgemüse und Obst und weitere Waren in einer Kühltruhe, Mehl, Zucker u. ä. sowie in einem weiteren Raum dann auch Reinigungs- und Waschmittel vorrätig gehalten – alles natürlich in einer begrenzten Auswahl an Produkten bzw. Markenartikeln. Die Fahrt mit dem Bus in die nächstgelegene Klein- oder Mittelstadt ist also nicht unbedingt erforderlich.
dp n="10" folio="2" ? Abb. 1 »Der kleine Supermarkt«, in dem Tante EMMA einkauft.
Dem Leser mag die folgende Auswahl der Supermarktprodukte manchmal etwas »sehr speziell« erscheinen. Das hat seinen Grund darin, dass möglichst viele verschiedenartige Zusatzstoffe behandelt werden sollten. Alltägliche Lebensmittel ohne Zusatzstoffe werden zwar erwähnt, aber nicht ausführlicher beschrieben. Eine weitere Absicht war es, immer wieder die historische Entwicklung anhand von Zitaten aus Werken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts darzustellen, die zu den klassischen Büchern der Warenkunde zählen.
Für die Vorbereitung ihres »Unternehmens« hat sich ANNA von der Verbraucherzentrale in Hamburg die Broschüre Was bedeuten die E-Nummern? Lebensmittel-Zusatzstoffliste (Ausgabe April 2004) kommen lassen. Mit einigem Erstaunen stellt sie fest, dass dieses informative schmale Heft mit 80 Seiten schon in der 63. Auflage, im 808.–837. Tausend, verbreitet ist. Daraus erfährt sie, dass bis 1993 in Deutschland 265 Stoffe mit E-Nummern (E für Europa; Nummern für Zusatzstoffe, die in allen Ländern der Europäischen Union gelten) zugelassen waren – heute sind es infolge der Angleichung der Gesetze in Europa 311 Stoffe (1986 waren es nur 150!). Die Bewertung durch die Verbraucherzentralen reicht von »gilt als unbedenklich« bis zu »vom Verzehr ist abzuraten« bzw. »abschließende Bewertung z. Zt. nicht möglich« (mit 120 Stoffen in dieser letzteren Gruppe).
Als ANNA beginnt, sich intensiver mit den Kennzeichnungen von Supermarktprodukten zu beschäftigen, erscheint im Deutschen Taschenbuch Verlag der Band Lebensmittelrecht (1. Aufl., Stand: 1. April 2004). Auch diese Informationsquelle besorgt sie sich.
Am Abend, bevor sich ANNA in das »Abenteuer« stürzen will, einen Tag lang alle Zutatenlisten und Inhaltsstoffangaben der Supermarktprodukte zu notieren und sie nach und nach auch verstehen zu lernen, orientiert sie sich mit ihrem Ehemann PETER noch im Lebensmittelrecht (s. o.). PETER hilft ihr, die aus seiner Sicht als Chemiker wichtigsten Informationen zusammenzustellen.
Lebensmittelrecht für den Verbraucher
Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf das Stoffliche, also auf die Chemie, d. h. auf Gesetze und Verordnungen bzw. Teile davon, in denen Angaben über definierte chemische Substanzen enthalten sind, die dem Verbraucher aufgrund der Kennzeichnungspflicht auch auf den Verpackungen genannt werden müssen.
Das Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz (LMBG) »ist für den deutschen Rechtsraum die maßgebliche grundlegende Rechtsvorschrift für den Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und Bedarfsgegenständen zum Schutz des Verbrauchers vor gesundheitlicher Beeinträchtigung und Täuschung sowie zum Schutz der redlichen Hersteller, Importeure und Händler vor unlauteren Praktiken der Konkurrenz. (…) Das Lebensmittelrecht ist jedoch sehr stark europäisch geprägt. Es gibt nahezu keine nationale Vorschrift, die nicht auf entsprechenden europäischen Vorgaben beruht bzw. diese in deutsches Recht umsetzt; …« (Alfred Hagen Meyer in: »Lebensmittelrecht«, Beck-Texte im dtv, 1. Aufl., München 2004)
Aus dem »Ersten Abschnitt« des o. g. LMBG entnehmen ANNA und PETER folgende Definitionen, welche die stofflichen Aspekte des Gesetzes, die Lebensmittelchemie, betreffen:
Ȥ 1 Lebensmittel. (1) Lebensmittel im Sinne dieses
Gesetzes sind Stoffe, die dazu bestimmt sind, in unverändertem,
zubereitetem oder verarbeitetem Zustand von
Menschen verzehrt zu werden; ausgenommen sind
Stoffe, die dazu bestimmt sind, zu anderen Zwecken als
zur Ernährung oder zum Genuß verzehrt zu werden.«
– mit Letzterem sind z. B. Arzneimittel gemeint.
»§ 2 Zusatzstoffe. (1) Zusatzstoffe im Sinne des Gesetzes sind Stoffe, die dazu bestimmt sind, Lebensmittel zur Beeinflussung ihrer Beschaffenheit oder zur Erzielung bestimmter Eigenschaften oder Wirkungen zugesetzt zu werden, ausgenommen sind Stoffe, die natürlicher Herkunft oder den natürlichen chemisch gleich sind und nach allgemeiner Verkehrsauffassung überwiegend wegen ihres Nähr-, Geruchs- oder Geschmackswertes oder als Genußmittel verwendet werden, sowie Trink- und Tafelwasser.«
Als Rechtsbegriff existiert der Begriff Zusatzstoffe im deutschen Lebensmittelrecht (im LMBG) erst seit 1974 – und zwar zunächst unter der Bezeichnung »fremde Stoffe«:
»Stoffe, die nach § 1 (LMBG) zu Lebensmitteln werden und die keinen Gehalt an verdaulichen Kohlenhydraten, verdaulichen Fetten, verdaulichem Eiweiß oder keinen natürlichen Gehalt an Vitaminen, Provitaminen, Geruchs- und Geschmacksstoffen haben oder bei denen ein solcher Gehalt nicht dafür maßgebend ist, daß sie als Lebensmittel verwendet werden.«
1977 wurde der Begriff Fremdstoff durch die heutige Bezeichnung Zusatzstoff ersetzt. Als Zusatzstoffe waren und sind nur solche Stoffe erlaubt, die in so genannten Positivlisten aufgeführt und damit zugelassen sind. Alle anderen Stoffe sind somit verboten. Auf diese Weise wurde ein vorbeugender Gesundheitsschutz erreicht. Die bisherigen Verordnungen über »fremde Stoffe« wurden mit Wirkung vom 20. Dezember 1977 in der »Zusatzstoff-Zulassungsverordnung« zusammengefasst.
Zur Problematik der Lebensmittelzusatzstoffe gab der damalige Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit am 12. April 1978 folgende Presseerklärung ab:
»Jeder einzelne dieser Stoffe und seine Zulassung in bestimmten Lebensmitteln sind auf die gesundheitliche Unbedenklichkeit und die technologische Notwendigkeit sorgfältig, insbesondere vom Bundesgesundheitsamt und Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, geprüft. Es wäre falsch, die Zusatzstoffe undifferenziert als ›Chemie im Kochtopf‹ abzuqualifizieren; viele davon sind keineswegs ›Chemikalien‹, sondern Inhaltsstoffe natürlicher Lebensmittel. [Hervorhebung von G. S.] Ohne die Verwendung von Zusatzstoffen wäre es nicht möglich, die Bevölkerung unter den Gegebenheiten unserer Industriegesellschaft mit einem reichhaltigen Angebot einwandfreier Lebensmittel aus den verschiedensten Teilen der Welt – nahezu unabhängig von der Jahreszeit – zu versorgen.«
Der Wissenschaftliche Beirat des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde gab im September 1978 folgende Erklärung zur Notwendigkeit von Zusatzstoffen ab:
»Die Verwendung von Lebensmittelzusatzstoffen ist zur Qualitätssicherung und Vorratspflege notwendig und ermöglicht überdies weite Transportwege. Zusatzstoffe stellen keine Gesundheitsgefährdung dar. Im übrigen sind viele Lebensmittelzusatzstoffe Inhaltsstoffe natürlicher Lebensmittel. Der Verzicht auf die Verwendung mancher Zusatzstoffe, insbesondere von Konservierungsstoffen, würde zu einem Risiko für die Gesundheit führen.« (nach G. Schwedt: »Chemie und Analytik der Lebensmittelzusatzstoffe«, Stuttgart 1986)
Anschließend an den § 2 über Zusatzstoffe werden dann im Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz die Begriffe Tabakerzeugnisse, kosmetische Mittel (darüber mehr in Kap. 9) und Bedarfsgegenstände definiert.
Zu den Tabakerzeugnissen (§ 3) zählen Rohtabak, unter Verwendung von Rohtabak hergestellte Erzeugnisse, die zum Rauchen oder auch Schnupfen hergestellt wurden.
»Kosmetische Mittel im Sinne dieses Gesetzes sind Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die dazu bestimmt sind, äußerlich am Menschen oder in seiner Mundhöhle zur Reinigung, Pflege oder zur Beeinflussung des Aussehens oder des Körpergeruchs oder zur Vermittlung von Geruchseindrücken angewendet zu werden, es sei denn, daß sie überwiegend dazu bestimmt sind, Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhafte Beschwerden zu lindern oder zu beseitigen.« (§ 4)
Zu den Bedarfsgegenständen nach § 5 zählen alle Gegenstände, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen (auf dem Weg von der Herstellung bis zum Verzehr), Packungen, Behältnisse und Umhüllungen, Gegenstände, die mit den Schleimhäuten des Mundes in Berührung kommen, Gegenstände zur Körperpflege, Spielwaren und Scherzartikel, Gegenstände, die mit dem menschlichen Körper in Berührung kommen (von der Bekleidung, Bettwäsche bis zum Brillengestell), sowie Reinigungs- und Pflegemittel.