Zur Sache, Deutschland!
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Zur Sache, Deutschland!

Was die zerstrittene Republik wieder eint

  1. 272 Seiten
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Zur Sache, Deutschland!

Was die zerstrittene Republik wieder eint

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Über dieses Buch

Das politische Klima in Deutschland ist vergiftet: Die öffentliche Wahrnehmung ist auf das fixiert, was unser Land spaltet. Und die Lautstärke von Debatten wird mit ihrer Dringlichkeit verwechselt.Es ist höchste Zeit für ein Ende der Dauer-Empörung. Denn die Gräben haben sich vertieft: Immer mehr Bürgerinnen und Bürger begegnen einander misstrauisch und aggressiv. Immer mehr Menschen fühlen sich von der Politik nicht mehr repräsentiert, sondern nur noch regiert. Und die Medien stehen unter dem Verdacht, für mehr Quote Sachlichkeit und Information zu verraten.Der ZEIT-Redakteur Jochen Bittner analysiert sieben Themen, die mit zu viel Emotion und mit zu wenig Sachlichkeit debattiert werden: Migration, Integration, Islam, Leitkultur, Heimat, Feminismus und Journalismus. Dabei deckt er gesellschaftliche Lebenslügen auf und spürt starren Denkschablonen nach, die nur eins bewirken: die Atmosphäre weiter aufzuheizen. Dagegen stellt er Vorschläge für neue Denkrichtungen vor und lädt dazu ein, miteinander um die Sache zu ringen, denn – davon ist Bittner überzeugt: "Deutschland, du kannst es besser!"

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Teil zwei
Die heißen Eisen
Migration
Die Pflicht gegenüber Verfolgten und die Pflicht gegenüber dem Land
Moral predigen ist einfach,
Moral begründen schwer.
ARTHUR SCHOPENHAUER
Im September 2016 erläuterte der Sohn des späteren US-Präsidenten, Donald Trump junior, was aus seiner Sicht das Problem mit syrischen Flüchtlingen sei: »Wenn ich eine Schüssel Skittles (Kaugummibonbons, JB) hätte und dir sagen würde, drei davon könnten dich töten – würdest du eine Handvoll nehmen?«
Die Reaktion auf Twitter, wo Trump junior die Bemerkung gepostet hatte, war vorhersehbar: Wie könne man nur Menschen mit Kaugummis vergleichen, echauffierten sich viele User.
Tatsächlich wirft das Bild von Trump junior eine Menge interessanter Fragen über Mitmenschlichkeit und Flüchtlingspolitik auf. Die Vergleichbarkeit von Menschen und Kaugummis, die zur häufigsten Empörung führte, ist dabei die am wenigsten interessante.
Denn prinzipiell hat der Trump-Sohn ja recht: Wer Zehntausende Menschen aus einem Land aufnimmt, in dem die höchste Dichte islamistischer Terroristen weltweit herrscht, der geht ein Risiko ein, denn statistisch besteht die Wahrscheinlichkeit, dass Terroristen unter ihnen sind. Es lässt sich schließlich auch nicht vorhersagen, wie viele der jungen Syrer, die mit hohen Erwartungen nach Deutschland gekommen sind, eines Tages tiefe Frustrationen erleben werden, wenn sich diese Erwartungen nicht erfüllen. Möglicherweise entdecken dann einige von ihnen den »Islamischen Staat« (IS) als eine verführerische geistige Ersatzheimat. Das Risiko realisiert sich also möglicherweise erst in einigen Jahren.
Es hilft nichts, um dieses Risiko herumzureden, indem man dem Absender der Botschaft unmoralische Vergleiche vorwirft. Wer ein Problem mit Trump juniors Argumentation hat, der muss schon begründen, was an ihr falsch ist.
Das Falsche an ihr ist: Der Vergleich benennt lediglich das Risiko der Flüchtlingsaufnahme, es lässt auf der anderen Seite die Hilfspflicht gegenüber Mitmenschen vollkommen außer Acht. Das ist zynisch. Jeder kann einen anderen verletzen, einem anderen schaden. Aber ändert das etwas an der Pflicht, die jeder Mensch zunächst einmal gegenüber dem anderen hat? Wenn das so wäre, müsste Trump junior auch ein Problem mit Krankenhäusern haben. Denn manche Menschen, die in der Notaufnahme gerettet werden, werden später in ihrem Leben kriminell.
Die deutsche Flüchtlingsdebatte ist ähnlich oberflächlich verlaufen, wenn auch oft in die andere Richtung, mit einseitigem Gewicht auf der Hilfspflicht. Drei Kernfragen wurden seit dem Flüchtlingssommer 2015 zu wenig nüchtern und deshalb zu wenig gründlich gestellt: Was genau ist die Pflicht dieses Landes gegenüber bedrohten und verfolgten Menschen in aller Welt? Was ist die Pflicht dieses Landes gegenüber sich selbst? Und wie bringt man diese beiden Pflichten in ein möglichst ideales Verhältnis?
Weil diese zentralen Fragen nicht ideologiefrei erörtert werden konnten, sondern maximal politisch aufgeladen waren, tritt die Migrations- und Flüchtlingsdebatte seit Jahren auf der Stelle, wo sie im Wesentlichen zertrampelte Erde hinterlässt. Im Grunde war diese deutsche Debatte dabei ziemlich selbstbezogen. Statt zu fragen, wie Millionen Menschen in Not am besten geholfen und was für sie eine gute Lösung wäre, ging es vor allem darum, wer unter den Deutschen selbst zu den guten Menschen zählt. So endete die Debatte regelmäßig beim Vorwurf »Nazi« bzw. »Gutmensch«, bevor sie zum Kern der Sache vorstoßen konnte, der lautet: Wie lassen sich die, die unsere Hilfe brauchen, von denen unterscheiden, die sie nicht brauchen? Und wie helfen wir jenen, die unsere Hilfe brauchen, am besten?
Die Pflicht gegenüber Verfolgten
Welche moralische Verpflichtung sollten die Bürger eines Staates haben, den Bürgern anderer Staaten zu helfen, wenn sie damit gleichzeitig möglicherweise Gefahren importieren, Gefahren, die sich vielleicht erst in der zweiten oder dritten Generation nach der Einwanderung entfalten? Mit diesem Argument hat Frankreich während der Flüchtlingskrise 2015 eine Lastenteilung mit Deutschland abgelehnt: Liebe Nachbarn, lautete die Botschaft, wir haben schon genügend Probleme mit den Arabern, die in den vergangenen dreißig Jahren gekommen sind. Und die Regierungen von Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik sagten schlicht: keine Muslime, kein Terrorproblem.81 Die europäische Flüchtlingsverteilungsquote, die der Europäische Rat per Mehrheitsvotum beschlossen hatte, ignorierten sie.
Man kann sich die Antwort auf die Pflicht zur Aufnahme leichtmachen und auf das Verfassungs- und Völkerrecht pochen. Artikel 16a des Grundgesetzes stellt klar: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Was genau Verfolgung bedeutet und wie Flüchtlinge behandelt werden müssen, konkretisiert die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Seit 2002 begründet nach ihrer allgemeinen Auslegung auch die Verfolgung wegen des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung ein Asylrecht. Außerdem verbietet es die Europäische Menschenrechtskonvention, der die 47 Mitgliedsstaaten des Europarats bindet, erfolglose Asylantragsteller in Länder zurückzuweisen, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.
So weit die Paragrafen. Wie lassen sich die Hilfspflichten, die in ihnen zum Ausdruck kommen, aber philosophisch begründen? Warum kann oder darf der deutschen Bevölkerung das Schicksal von Afghanen oder Sudanesen nicht egal sein?
Der Mensch, so ein Teil der Antwort, definiert sich als Mensch dadurch, wie er sich anderen Menschen gegenüber verhält. Dasselbe gilt für eine Gesellschaft und für einen Staat. Humanität kann schnell erodieren, und diese Erosion fällt dann über kurz oder lang auch auf die zurück, die sie zugelassen haben. Wer anderen hilft, stärkt die eigene Humanität. Das mag zunächst einmal pädagogisch klingen. Es ist aber die Verteidigung einer Grundnorm, die noch vor der Verfassung angesiedelt ist. An ihrem tiefsten Begründungsende leben Menschenrechte vom Glauben an ihre Richtigkeit. Es hat noch niemand ein Menschenrecht gesehen oder, wie es der Philosoph Alasdair McIntyre einmal provokativ formulierte: »Es gibt keine solchen Rechte, und der Glaube daran entspricht dem Glauben an Hexen und Einhörner.«82
Was man allerdings sehr wohl sehen kann, sind die Unterschiede zwischen Gesellschaften, die an die Universalität von Menschenrechten glauben, und denen, die dies nicht tun. In den Stammesgebieten Afghanistans gelten Frauen nicht als gleichwertige Wesen. In Ruanda galt die Ethnie der Tutsi nicht als lebenswert. Im »Islamischen Staat« werden »Ungläubige« in Feuerkäfigen verbrannt. Und im Dritten Reich war man entweder Arier oder »Untermensch«. Der Glaube an die Menschenrechte ist unteilbar, das heißt, er umfasst entweder alle Menschen, oder er gilt nicht. Die Geschichte und die Gegenwart sind voll mit Beispielen dafür, was passiert, wenn Abstufungen denkbar werden.
Lässt ein Staat Inhumanität zu, und sei es in Form unterlassener Hilfeleistung gegenüber Nichtbürgern, untergräbt er das Ziel jeder Staatlichkeit, nämlich eine Sphäre zu schaffen, in der der Mensch, kantisch gesprochen, nie Mittel, sondern immer Zweck an sich ist. Mit anderen Worten, niemand sollte sich in einem Staat sicher fühlen, der Menschen in Not keine Sicherheit bietet. Wer Deutschland als ein lebenswertes, weil aufgeklärtes und emphatisches Land erhalten will, kann deshalb die prinzipielle Hilfspflicht für Menschen in Not nicht ablehnen.
Die Pflicht gegenüber dem eigenen Land
Aber bedeutet dies, dass Deutschland unbegrenzt vielen Menschen aus aller Welt Sicherheit bieten muss? Ein Argument gegen die Aufnahme von Hunderttausenden Asylbewerbern innerhalb kurzer Zeit lautet, dass sie das Land zu stark verändern und dass das Risiko, unter den Schutzsuchenden könnten auch Staatsfeinde einsickern, bei solchen Zahlen kaum zu managen sei. Die radikale Position lautet, dass es die Schutzpflicht gegenüber anderen Menschen nicht rechtfertige, den allgemeinen Lebensrisiken der Deutschen ein weiteres hinzuzufügen, nämlich massenhaft Fremde aufzunehmen, deren Verhalten und deren Einfluss auf die Gesellschaft unvorhersehbar seien. Sie kommt in dem Satz des AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland zum Ausdruck, den er Protestierenden bei einer Demonstration im Oktober 2015 in Erfurt zurief: »Wir wollen das gar nicht schaffen!«
Es geht also vor allem um die Behauptung des »Wir«, um den Anspruch, auswählen zu können, wer in einem umgrenzten Raum die Spielregeln und die erlaubten Risiken festsetzen darf. Natürlich bringen Flüchtlinge aus weniger modernen Weltregionen oftmals auch weniger moderne Weltanschauungen mit nach Deutschland, von patriarchalen Familienstrukturen bis zu mangelndem ökologischem Bewusstsein. Und was Extremismusgefahren angeht, ist es der Rechtsordnung nicht einmal völlig fremd, notfalls auch eine ganze Gruppe auszuschließen, wenn nur wenige ihrer Mitglieder eine Gefahr darstellen. Im Sportrecht etwa kann allen Fans einer Mannschaft – auch der friedlichen Mehrheit – der Eintritt ins Stadion verboten werden, wenn Hooligans wiederholt gewalttätig geworden sind. Allerdings hängt das Überleben der Fans auch kaum davon ab, ob sie ein Spiel live verfolgen können.
Im Jahr 1949, als die Mitglieder des Parlamentarischen Rates über Artikel 16 des Grundgesetzes berieten (der Artikel 16a mit seinen europarechtlichen Einschränkungen wurde erst 1993 geschaffen), war das gesellschaftliche »Wir« tatsächlich deutlich enger definiert als heute. Damals hatten die Deutschen allenfalls Spanier oder Russen vor Augen, wenn sie an »Ausländer« dachten. In der Redaktionsstube der Verfassung dachte man bei politisch Verfolgten sogar zuallererst an Deutsche. Der erste Entwurf für Artikel 16 lautete: »Jeder Deutsche, der wegen seines Eintretens für Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit oder Weltfrieden verfolgt wird, genießt im Bundesgebiet Asylrecht.« Ein Asylrecht für sämtliche politisch verfolgten Nichtdeutschen erschien dem Redaktionsausschuss »zu weit gehend« – immerhin war das geteilte Nachkriegsdeutschland ein schwacher Staat mit reichlich eigenen Vertriebenenproblemen. Als großzügigere Formulierung überlegte der Rat, »Ausländer(n), welche wegen ihres Eintretens für Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Weltfrieden politisch verfolgt werden«, Asylrecht zu gewähren. Am Ende waren es die Staatsrechtler Carlo Schmid (SPD) und Hermann von Mangoldt (CDU), die die bis heute gültige weite Formulierung durchsetzten. Schließlich, so Schmid, dürfe man die Asylgewährung nicht davon abhängig machen, »ob der Mann uns politisch nahesteht oder sympathisch ist«.
Geboren ist die Asylgarantie also nicht zuletzt im Wettstreit der Systeme und mit der Betonung auf dem Recht der Bundesrepublik, einen Geflohenen nicht an kommunistische Staatsgefängnisse auszuliefern. Mit anderen Worten, die Väter des deutschen Asylrechts lebten in einer Welt, in der Menschenrechtsverstöße im Grunde nur dann zur Schutzaufnahme im Westen führten, wenn sie sich östlich von Lübeck ereigneten.
Was sich weder Schmid noch Mangoldt vorgestellt haben werden, ist, dass sich eines Tages Teenager aus Marokko oder Tunesien, die per Billig-Flugticket und mit Schlepperbanden in eine Schengen-EU einreisen, auf das Asylgrundrecht berufen würden. Oder dass Bewohner des Hindukuschs auf die Idee kommen könnten, sich bis nach Deutschland durchzuschlagen. Oder dass das Internet die Annehmlichkeiten des Lebens in Europa samt Preisen für waghalsige Mittelmeerpassagen bis in den letzten Winkel Afrikas verbreiten würde – kurzum, dass Deutschland mit seinem großzügigen Sozial- und Asylrecht eines der Hauptanziehungsländer nicht nur für politisch Verfolgte aus aller Welt, sondern für viele im Weltmaßstab Benachteiligte werden könnte.
Es ist ohne Zweifel ein zivilisatorischer Fortschritt, dass sich die Überzeugung von der Unteilbarkeit der Menschenrechte heute nicht mehr nur am Ostblock schärft, sondern sich auf die ganze Welt erstreckt. Aber lassen sich in dieser Gegenwart die alten Zufluchtsgarantien aufrechterhalten? Die Vorbeugung gegen Verrohungsgefahren in der eigenen Gesellschaft hat, könnte man sagen, im Asylrecht mittlerweile einen hohen praktischen Preis. Letztlich müsste ein Migrant, der aus einem autoritären Staat kommt, nur behaupten, schwul zu sein, um in Deutschland mindestens geduldet zu werden.
Genau hier liegt der eigentliche Grund für das bedrohte »Wir«-Gefühl: Was Asyl ist und was Einwanderung, was Flucht ist und was Migration, ist faktisch kaum noch zu unterscheiden. Derselbe Nordafrikaner, der im Sommer als Erntehelfer nach Italien geht, kann sich im Winter in Deutschland als Asylsuchender melden.83 Zu den Folgen dieser Kategorienvermengung gehören Menschenschmuggel, organisierte Kriminalität und eine Überlastung der Asylbehörden. Die populistische Reaktion darauf ist eine zunehmende Wut über einen »Kontrollverlust« des Staats und den vermeintlichen Ausverkauf der abendländischen Identität. Die Begriffe sind maßlos, aber die Kritik an einer Differenzierung, die nicht gut genug gelingt, ist richtig.
In der deutschen Debatte herrscht seit 2015 besonders wenig Differenzierung. Es beginnt bei der Sprache. Politiker und Medien, von den Linken bis zur CDU, von der taz bis zur FAZ, sprechen in aller Regel von Flüchtlingen beziehungsweise von Geflüchteten84, wenn sie über Menschen berichten, die in Booten das Mittelmeer überqueren oder die Balkanstaaten durchwandern, um in die EU zu gelangen. Aber sind alle diese Menschen Flüchtlinge, das heißt, besitzen sie die Berechtigung zur Zuwanderung? Flüchtling ist laut Genfer Flüchtlingskonvention eine Person, die sich »aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb ihres Heimatlandes befindet«. Dies mag für viele der Migranten gelten, aber eben längst nicht für alle. Viele fliehen auch vor wirtschaftlicher Not oder weil sie in ihren Heimatländern keine Perspektive für ein erfülltes Leben sehen. Zwischen 2008 und 2014 lag die Quote für die Zuerkennung jeglicher Art von Schutz (Asyl, Genfer Konvention, subsidiärer Schutz) von Antragsstellern in den EU- und Efta-Ländern85 bei unter 40 Prozent. 2017 stieg sie auf 60 Prozent. Seitdem ist sie wieder rückläufig.86
Wer allerdings nicht zwischen Flüchtlingen und Migranten unterscheidet, der wird weder für die Flucht- noch für die Migrationskrise die richtigen Antworten finden, weil er zwischen verschiedenen Bedürfnissen nicht unterscheidet: dem Bedürfnis nach akutem Schutz von Leib und Leben und dem Bedürfnis nach einem besseren Leben.
Die Lage in Deutschland wird dadurch noch komplexer, dass ein Flüchtling, der es über den Landweg ins Bundesgebiet geschafft hat, schon nicht mehr akut verfolgt sein kann, da Deutschland von sicheren Staaten umgeben ist. Deutschland hat es also in erster Linie mit migrierenden Flüchtlingen zu tun. Sie flohen vor Krieg und Verfolgung in Syrien oder Irak, das macht sie zu Flüchtlingen. Sie waren diesen Gefahren aber schon entronnen, als sie die Grenze nach Deutschland überquerten. Das macht sie zu Migranten mit Flüchtlingsstatus.
Natürlich lässt sich argumentieren, dass die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen kleinlich ist, dass für Menschen in Lebensgefahr eine ähnliche Hilfspflicht gelten muss wie für Menschen, die vor einem Leben in Armut davonlaufen, und dass ein reicher Staat wie Deutschland wegen seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten eine besonders große Pflicht hat, ihnen Schutz zu gewähren. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass Tausende Menschen das Risiko einer gefährlichen Meeresüberquerung eingehen, um in die Bundesrepublik zu gelangen.
Zwischen 1961 und 1989 haben 5609 Bürger der DDR versucht, über die Ostsee nach Westdeutschland zu fliehen. Nur 913 von ihnen gelang dies. 174 starben an Erschöpfung oder Unterkühlung oder ertranken. 4522 wurden von DDR-Grenzschützern aufgegriffen und erhielten Gefängnisstrafen.87 Im Westen fragte damals niemand danach, ob die, die es geschafft hatten, individuell verfolgt waren, etwa weil ihnen Stasihaft oder Folter drohte, oder ob sie einfach der Hoffnungslosigkeit in einem repressiven Staat entrinnen wollten. Gleichzeitig war freilich auch klar, welches begrenzende Kriterium für die freundliche Aufnahme galt: Die Flüchtlin...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Inhalt
  5. Teil eins: Die Lage der Nation
  6. Teil zwei: Die heißen Eisen
  7. Schlusswort
  8. Danksagung
  9. Anmerkungen
  10. Über den Autor
  11. Impressum
  12. Körber-Stifung