Kapitalismus inklusive
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Kapitalismus inklusive

So können wir den Kampf gegen die Populisten gewinnen

  1. 272 Seiten
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Kapitalismus inklusive

So können wir den Kampf gegen die Populisten gewinnen

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Über dieses Buch

Die Auswüchse des Kapitalismus spielen den Populisten in die Hände. Viele Bürger haben das Gefühl, das Wirtschaftssystem nicht mehr zu verstehen und die Kontrolle über ihr eigenesSchicksal zu verlieren. Der Reichtum konzentriert sich bei wenigen, während viele vor einer unsicheren Zukunft stehen.Der Wirtschaftsjournalist Uwe Jean Heuser wagt die These: Wenn wir den Kampf um die Demokratie gewinnen wollen, müssen wir den Kapitalismus grundsätzlich verändern. Er darf nicht länger Menschen ausschließen, sondern muss zur Grundlage einer freiheitlichen Gesellschaft werden, in der sich möglichst viele aufgehoben fühlen.Heuser bietet außergewöhnliche Lösungen an, um die Bürger zusammenzubringen – gegen nationalistisch-populistische Willkür und für die demokratische Gesellschaft. Er macht uns Hoffnung: Der Kampf um Freiheit und Anstand lässt sich gewinnen!

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783896845306

Teil III
Revolutionen, die sich lohnen

Kapitel 1
Die mitfühlende Gesellschaft

Warum sie kein leerer Begriff ist
Der Kapitalismus ist jederzeit leicht suizidgefährdet. Sein zentraler Mechanismus, der Markt, ist darauf angewiesen, dass die Bürger ein Grundvertrauen ins System und ineinander haben. Damit diese Voraussetzung bestehen bleibt, darf es nicht allzu instabil und ungleich zugehen. Sonst wird genau dieses Grundvertrauen gekündigt, und Wähler wählen politische Kräfte, die nicht das Miteinander, sondern das Gegeneinander betonen.
Immer wieder schlägt der Kapitalismus diese Warnungen in den Wind, produziert Boom und Bust, Expansion und Konzentration, zu wenige Gewinner und zu viele Verlierer, die glauben, es gehe grundsätzlich unfair zu. In diesem Jahrhundert wirkt die Wirtschaft wieder einmal besonders überdreht, und die beschriebenen Netzwerk-Effekte beschleunigen diese Entwicklung noch.
Piroschka Dossi und Robert von Weizsäcker bringen das in einem Buch auf den Punkt: Dass die Ökonomie die Menschen auseinandertreibt, wurzele in deren instinktiver Natur, schreibt das Münchner Duo. Ihre Gier und Neugier treiben demnach Wettbewerb und technologischen Wandel voran, »die ihrerseits unausweichlich dazu führen, dass die Ungleichheit zunimmt«. Dabei geschieht anscheinend etwas mit den Menschen und dem, wonach sie streben: »Wenn das marktwirtschaftliche Umfeld, in dem der Einzelne um sein Überleben kämpft, kompetitiver wird, hat dies Rückwirkungen auf das Wertesystem. Denn nicht nur ist der Markt ein Selektionsmechanismus, der großzügig belohnt und gnadenlos bestraft, sondern jedes erfolgreiche oder erfolglose Verhalten wird auf unmerkliche Weise in die Kategorien richtig und falsch und schließlich in gut und schlecht überführt.« In Kurzform bedeutet das dann: »Also schafft der vermeintlich wertfreie Markt aus sich selbst heraus Werte – Werte, die jenes egoistische Verhalten verstärken, das seinerseits die Ungleichheit erhöht.«
Da ist sie in Reinkultur, die zum Selbstzerstörerischen neigende Entwicklungsdynamik des Kapitalismus. Dass der Markt allein die gemeinschaftliche Moral nicht stützt, sondern eher den Egoismus stärkt, zeigen auch neue, groß angelegte Experimente. Darin sieht man: Die meisten Menschen achten am wenigsten darauf, welche Nebenwirkungen ihr Handeln für andere Lebewesen hat, wenn sie Akteure in einem Marktgeschehen sind. Der Markt weckt Konkurrenz- und Kampfgefühle. Menschen wollen gewinnen, auch wenn Kollateralschäden entstehen. Andere werden mit hineingezogen. So erfüllt sich die Erwartung, dass man am Markt an sich denken muss, am Ende selbst. Das Wertesystem mutiert zum Motto »Gier ist gut« aus dem Film »Wall Street«.
All das ist ein Teil der Wahrheit. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Nicht einmal annähernd.
Der Kapitalismus schafft den Bürgern auch Raum, Möglichkeit und Anreiz, um etwas für die Gemeinschaft zu tun. In Deutschland engagieren sich laut der Bundesregierung über vierzig Prozent der Bürger ab vierzehn Jahren ehrenamtlich. Sie trainieren Kinderteams im Fußballverein, teilen an einer Armentafel Essen aus oder kämpfen bei Greenpeace ums Klima. Zur Jahrtausendwende waren es nur gut dreißig Prozent.
Arbeitgeber und Demoskopen berichten übereinstimmend, dass viele talentierte Mitglieder der Generation Y, die heute zwischen 20 und 40 Jahre alt ist, wissen wollen: Wo engagiert sich das Unternehmen, für das ich arbeiten soll, für die Gesellschaft? Und vor allem: Gibt mir dieses Unternehmen Raum, mich im Rahmen meiner Arbeit selbst zu engagieren? Eine wachsende Zahl von jungen Menschen mit Gründergeist startet eigene Sozialunternehmen, die mit wirtschaftlichen Mitteln einen Missstand beheben wollen. Auch einige profitorientierte Unternehmer entdecken ihr Herz, stellen viele benachteiligte Menschen ein oder verhindern Kinderarbeit.
So einfach scheint es mit dem reinen Egoismus also nicht zu sein, dem die Ökonomen in ihrem althergebrachten Menschenbild, dem »homo oeconomicus«, ein Denkmal gesetzt haben. Die Menschen bewegen sich vielmehr zwischen verschiedenen Motivationen hin und her. Sie sind einerseits gar keine reinen Egomaschinen, können andererseits auch nicht perfekt zusammenarbeiten und alles einem Gruppenziel opfern. Ameisen tun das automatisch, Piranhas vielleicht, aber Menschen sind Wesen mit einem inneren Widerstreit.
Power und Care, Egoismus und Altruismus, Selbstsucht und Mitgefühl: Egal wie man die Antriebe nennt, sie sind beide in uns angelegt, und das auch wenn es um Wirtschaft geht. Man kann das bei sich selber sehen, wenn man sich im Arbeitsalltag beobachtet. Man will vorankommen, vielleicht sogar andere »schlagen«, aber eben auch anständig sein und helfen. Was einen gerade motiviert, wird nicht nur von innen bestimmt, sondern auch von außen beeinflusst. Davon, ob die anderen uns fair oder unfair behandeln. Oder davon, in welcher Umgebung wir arbeiten. Der adrenalingeschwängerte Handelsraum einer Investmentbank zum Beispiel bringt den Egoismus auf Hochtouren. Dieses Geldspiel ist geradezu darauf angelegt, besser zu sein als andere.
Erstens ist der Egoismus nicht die einzige Triebkraft. Zweitens unterstützt ihn aber der Markt. Und indem der Markt die Gesellschaft auseinanderdividiert, sorgt er dafür, dass auch die Solidarität auseinanderbricht, weil sie eher der eigenen Gruppe oder dem eigenen Umfeld gilt als allen zusammen. Drittens, und am wichtigsten: Man kann die Balance zwischen dem Ich und den anderen auch wieder in die Gegenrichtung verändern. Will man einen Kapitalismus, der möglichst vielen zugutekommt, dann ist es sogar der Königsweg, direkt beim Antrieb der Menschen anzusetzen.
Um diesen groß angelegten Versuch soll es nun gehen. Im Zentrum stehen drei höchst unterschiedliche Personen. Eine deutsche Gehirnforscherin mit Theatervergangenheit, die dem wirtschaftlichen Establishment die Kraft des Mitgefühls vor Augen hält. Ein französischer Molekularbiologe, der zum buddhistischen Mönchtum konvertierte. Ein Gedichte schreibender amerikanischer Ökonom, der lange zum liberalen Mainstream gehörte und nun zum Revolutionär avanciert. Gemeinsam versuchen sie dem Altruismus zu seinem Recht im Denken und zunehmend auch in der Praxis zu verhelfen.
Wenn es einen Moment gibt, in dem der Wandel Fahrt aufnahm, dann wohl Ende Oktober 2012 in Rio de Janeiro. Manager, Wissenschaftler und NGO-Vertreter treffen sich zum Global Economic Symposium an der Copacabana. Und alle drei sind dabei. Dennis Snower, der US-Ökonom, Jahrgang 1950, ist als Chef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft der Gastgeber des jährlichen Treffens. Tania Singer, Jahrgang 1969 und Direktorin am Max-Planck-Institut in Leipzig, stellt die Thesen der Mitgefühlsforschung vor. Ihr Mitstreiter auf der Bühne ist Matthieu Ricard, Jahrgang 1946, Bestseller-Autor, Leiter eines Klosterverbundes in Nepal und französischer Übersetzer des Dalai Lama.
Snower erklärt, die »Voice of Reason« (Stimme des Kalküls) und die »Voice of Care« (Stimme des Kümmerns) gehörten zusammen, auch wenn sich die Ökonomen zu lange nur um Erstere gekümmert hätten. »Beide können trainiert werden, beide können analysiert werden«, so der Gastgeber.
Singer unterteilt die Motivationen für soziales Verhalten noch genauer. Da sei das System des Mitgefühls, also des Kümmerns, Tröstens, der Liebe und des Schutzes für andere. Dann das Suchsystem, mit dem der Mensch nach dem greift, was er selbst braucht – also das System des Wollens, des Strebens nach mehr, der Erregung. Und schließlich das Bedrohungssystem, in dem es um Sorge, Unruhe und das Bedürfnis nach Sicherheit geht. Jedes hat sogar seinen eigenen chemischen Botenstoff: das »Bindungshormon« Oxytocin, das »Glückshormon« Dopamin und das »Stresshormon« Cortisol.
Matthieu Ricard berichtet, wie all das zu Jahrtausenden der buddhistischen Erfahrung passt. Mit richtig verstandener Meditation könnten die Menschen die Motivation des Mitgefühls und ihre Kooperationsfreude stärken. Der Effekt zeige sich auch im Hirnscanner. Ricard ist einer der Ersten, der in der Röhre meditierte, und je nachdem, worauf er sich konzentrierte, pures Bewusstsein, das Leiden in der Welt oder Freude, wurden andere Gehirnregionen aktiv. Und mehr noch: Durch das Meditieren verändern die Menschen den Aufbau des eigenen Gehirns. Darin liege eine große Möglichkeit für unsere Gesellschaft, erklärt der Mönch. Das Bewusstsein könne sich deutlich schneller entwickeln als nur durch die langsame Evolution.
Das Symposium ist auch eine Art Wettbewerb. Experten stellen verschiedenste Ansätze vor, um globale Probleme zu lösen. So geht es etwa um Energie und Umwelt, Frauen und Gleichberechtigung, Banken und finanzielle Sicherheit. Am Ende wird abgestimmt, welcher Ansatz der wichtigste sei. Zu aller Erstaunen erhalten Singer und Ricard die meisten Stimmen. Vom Strand von Rio erklingt ein Startschuss: Um sich zu retten, soll die Welt den Altruismus fördern. Auch in Davos, beim World Economic Forum, rückt das Thema später vom Rand ins Zentrum, viele Manager zieht es zu Singer, Ricard und auch Snower, sie hören zu und meditieren mit. So viel haben diese drei ungewöhnlichen Menschen geschafft.
»Ich bin als Wir zur Welt gekommen«, sagt Tania Singer und meint damit, dass sie ein eineiiger Zwilling ist und auf fast schon komische Weise ebenso aussieht, redet und gestikuliert wie ihre Schwester, eine Musikprofessorin in Weimar. Sie musste das Ichsein erst lernen. Gerade deshalb erkannte sie bald in ihrem Leben, dass sich die Gesellschaft zu sehr auf den Einzelnen konzentriert.
Sie studierte Psychologie, arbeitete am Theater und wollte eigentlich Regisseurin werden. Doch mehr noch wollte sie schließlich wissen, wie wir alle uns in Beziehungen verhalten und wie wir uns gegenseitig emotional beeinflussen. Um dies herauszufinden, entschied sie sich schließlich für eine Laufbahn, die für sie zuvor nie in Frage gekommen war: Sie wurde Gehirnforscherin wie ihr bekannter Vater Wolf Singer.
Ihr erstes Experiment handelte davon, wie sich Schmerzempfinden zwischen Menschen überträgt. Dafür bat sie Menschen paarweise in den Scanner, einer bekam einen Schmerzreiz, und wenn der andere es erfuhr, sah man in seinem Gehirn dieselbe Aktivierung. Er litt mit. Aber nicht immer. Wurde der andere als unfair wahrgenommen, dann war das Mitgefühl blockiert.
Damit wurde schon vieles deutlich. Das Mitgefühl erwies sich als fragil, aber es war auch so stark und ansteckend, dass es das Bild vom »homo oeconomicus« hinterfragte, das uns alle als rational kalkulierende, mit festen Vorlieben versehene Egoisten beschreibt. Als Professorin in Zürich wurde Tania Singer nun eine Art Alternativökonomin. Im Forschungsprojekt »Zurich Prosocial Game« zeigte sie, dass Menschen eher anderen vertrauen und mit ihnen kooperieren, wenn sie zuvor ein kurzes meditatives Mitgefühltraining erhalten haben. Sie sind dann offener für ihre Gegenüber.
Die Vorurteile waren – und sind – groß. Das Kümmern als Forschungsobjekt, das Messen von Gefühlen? Sie bildeten sich genauso im Gehirn ab wie Sprache, Denken oder Wahrnehmung, erklärt die Direktorin für »Soziale Neurowissenschaft«, wie ihre junge Disziplin heißt.
Ökonomen wendeten auch ein, dass ein wirtschaftliches System auf Konkurrenz und nicht auf Kümmern fußen müsse. Dieses Caring-System sei aber von der Evolution als überlebenswichtig erkannt worden und bei Frauen wie Männern aktivierbar, so die Antwort der Expertin, die fortan untersuchte, wie man das Mitgefühl bewusst stärken kann.
Da war es ganz natürlich, in die Kooperation zwischen fernöstlichen Buddhisten und westlichen Wissenschaftlern einzusteigen. Der Dalai Lama hatte gemeinsam mit amerikanischen Ideen- und Geldgebern das Mind and Life Institute ins Leben gerufen, das mittlerweile auch einen europäischen Ableger hat. Es verknüpft Einsichten und Traditionen des Meditierens mit akademischen Messungen und Theorien. Ein wichtiges Ergebnis der gemeinsamen Arbeit ist: Das Gehirn verändert sich deutlich sichtbar, wenn es dauerhaft »trainiert« wird.
Genauso wie wir Muskeln trainieren, können wir auch das Gehirn trainieren, hat Tania Singer gelernt. Wir können üben, aufmerksam zu sein, das Herz zu öffnen, Abstand zu unserem Geist und unseren Gedanken zu gewinnen. »Am Ende entstehen wissenschaftlich fundierte Programme, um Qualitäten wie Mitgefühl auf der Welt zu stärken.«
Auf der Welt heißt nicht zuletzt: in der Wirtschaft. Wenn man ihre Motivation fürs Miteinander stärkt, so fand Singer heraus, dann reagieren die Menschen anders. Zum Beispiel empfinden sie bei Wettbewerbsdruck oder angesichts enger Abgabezeiten weniger Stress. Das ist für hartgesottene Ökonomen noch erträglich, aber das »Herz öffnen«? Singer nennt es eine für Ökonomen »besonders hart zu schluckende Pille«, dass sich so etwas wie Dankbarkeit, Liebesfähigkeit und Mitgefühl schulen lässt. In der Folge richten sich Menschen eher daran aus als an Motivationen wie Macht und Gewinn. Diese sind auch wichtig, aber für Tania Singer kommt es auf die Gewichtung an, und die könne man ändern, sagt sie auf ihre fröhlich-bestimmte Art.
Große Einsichten brauchen große Studien. Singer legte das »ReSource«-Projekt mit mehr als 300 Probanden auf. Weit über die Hälfte von ihnen absolvierte ein fast ein Jahr währendes Trainingsprogramm. Sie meditierten immer wieder mit speziellen Lehrern in der Gruppe und übten zu Hause täglich weiter. Singer und ihre Mitarbeiter befragten die Leute regelmäßig, durchleuchteten ihre Gehirne, ließen ihr Blut untersuchen. Sie schufen »Big Data« über die Folgen des Meditierens.
Das Programm sollte den Alltag begleiten und nicht unterbrechen. Die Teilnehmer mit einem Durchschnittsalter von 43 Jahren standen zumeist in der geschäftigen Mitte des Lebens und hatten bislang wenig meditiert. Nun wurde in drei Abschnitten ihr »Geist kultiviert«, wie Singer das nennt. Zunächst war Achtsamkeit das Ziel, also aufmerksam und ruhig im Hier und Jetzt zu stehen. Erst auf den zwei Stufen danach ging es um soziale Fähigkeiten. Die Teilnehmer übten, mitzufühlen und sich selbst und die Gedankengänge der anderen besser zu verstehen. Dazu gehörte auch, dass sich zwei Teilnehmer übers Telefon und in persönlichen Treffen austauschten. Erst redete der eine, etwa darüber, was ihn dankbar mache, und der andere hörte zu, dann war es umgekehrt. Wer zuhörte, durfte nicht unterbrechen, nicht kommentieren, nicht einmal nicken. Den anderen wirken lassen war die Devise.
Auch das Forscherteam selbst meditierte bei seinen Treffen. Die Atmosphäre schien Singer freudvoller als bei vielen Business Meetings, die Entscheidungen seien weitsichtiger gewesen als in stressbeladenen Umgebungen, in denen jeder nur noch auf sich selbst schauen kann. Weniger irrelevante Aspekte, weniger Ego.
Das Riesenprojekt wird noch ausgewertet, aber die Grundthese ist wohl schon bestätigt: Menschen können ihre mentalen und sozialen Fähigkeiten steigern. Im Projekt vergrößerte sich mit der Zeit die Aufmerksamkeit der Teilnehmer. Wer sich zu verstehen lernte, konnte auch andere eher verstehen. Das Nähegefühl gegenüber dem Gesprächspartner nahm dauerhaft zu. Die Indizien sind also stark, dass man Mitgefühl und Vertrauen zu anderen trainieren kann.
Bloß, kommen wir damit gegen aggressive chinesische Konkurrenten an? Für Singer ist das eine Frage aus dem »Angst-System«. Wer vertraut, erhält ihr zufolge auch mehr Vertrauen zurück – und wehrt sich natürlich gegen diejenigen, die das ausnutzen. Demnach sollten Ökonomen das Denken an andere und ans Wohl der Gesellschaft als Gewinn behandeln und in ihre Theorien und Wohlstandsberechnungen aufnehmen. Herz und Hirn kommen dann zusammen.
Nichts scheint Matthieu Ricard selbstverständlicher. Er ist ein Mönch, und das sieht man ihm an. Das graue Haar ist abrasiert, das buddhistische Mönchsgewand so gebunden, dass ein Arm frei bleibt, auch draußen im Schnee von Davos, während drinnen im Kongresszentrum das World Economic Forum tagt. Mitgefühl mit allen Lebewesen ist für ihn persönlich Ziel und Gebot, aber, so wird er nicht müde zu betonen, wer es kultiviere, werde auch einfach zufriedener, gesünder, länger leben. Ricard ist der Spross einer französischen Intellektuellenfamilie, der Vater Jean-François Revel war ein landesweit bekannter Philosoph. Der Sohn forschte als junger Biologe mit den besten Pariser Professoren – bis es ihm reichte. Oder besser: bis sein Leben ihm nicht mehr reichte. Nach einer Asienreise gab er es auf, studierte mit Buddhismus-Meistern in Bhutan und fand den Weg zum Dalai Lama in Indien, dessen Reden und Dialoge er heute noch für französisch sprechende Zuhörer übersetzt. Der passionierte Skifahrer und Fotograf (er hat mehrere Bildbände über Nepal und den Buddhismus veröffentlicht) wurde bekannt, als unter dem Titel »Der Mönch und der Philosoph« ein Dialog mit seinem religionskritischen Vater erschien. Später meditierte er als erster buddhistischer Mönch am Mind and Life Institute im Scanner. Weil er dort fröhlich und zielgenau verschiedene Hirnregionen aktivieren konnte und das Liegen in der engen Röhre seine Gehirnaktivitäten überhaupt nicht beeinträchtigte, galt er bald als »glücklichster Mensch der Welt«, was er für absolut albern hält.
Andere Mönche mögen noch zufriedener und weiser sein, kaum einer ist einflussreicher und charismatischer als der Brückenbauer aus Paris. Vergangenes Jahr hat er sein Opus magnum veröffentlicht, es heißt »Altruismus« oder in der deutschen Ausgabe »Allumfassende Nächstenliebe«. Das Werk handelt davon, dass Mitgefühl uns und die Welt verändern kann und damit die wichtigste Antwort auf die Herausforderungen unseres Jahrhunderts ist.
Es ist eine riesige Abhandlung, ein Kompendium des Altruismus, das Ricard in fünf Jahren geschrieben hat. Darin bezieht er sich auf eine Vielzahl von Studien und empirischen Befunden, um erst einmal die Grundskepsis der westlichen Rationalisten zu überwinden, die da sagt: Es gibt keinen Altruismus im Sinne der absoluten Selbstlosigkeit. Wenn Menschen anderen helfen, dann verbinden sie damit eine Berechnung oder die Hoffnung, dass irgendwann etwas für sie dabei herausspringt. Geld. Ansehen. Ein gutes Gefühl. Was fürs Ego jedenfalls.
Wir alle können auch aus reinem Mitgefühl handeln, hält Ricard dagegen, und seine Indizien sind überwältigend. Ursprünglich hatte er angenommen, es sei allgemeiner Konsens, dass Altruismus in uns existiert – und wollte ein Buch darüber schreiben, dass wir ihn verbreiten müssen, um als Menschheit zu überleben. Aber dann stieß er auf all diese Denkschulen, die sagen, es sei immer ein selbstsüchtiges Motiv im Spiel. Und er dachte: »Dann bringt es auch nichts, den Altruismus in die Gesellschaft zu tragen, ihn in Schulen einzuführen und ihn zu kultivieren. Das wäre ja so, als versuche man ein Stück Kreide zu waschen und hoffe, es wird Gold daraus.« Erst einmal wollte er die Welt davon überzeugen, dass tatsächlich Gold in uns ist. So entstand schließlich ein Band von 915 Seiten.
Dass Menschen anderen helfen, damit ihnen später auch geholfen wird, ist für Ricard völlig in Ordnung. Es hält Gruppen und Vereine zusammen. Und er gibt auch gerne zu, dass selbst extrem mitfühlende Menschen bei Weitem nicht immer altruistisch handeln. Aber das selbstlose Motiv ist da, bei Kindern wie bei Erwachsenen. Und deshalb lässt es sich auch (ein)üben.
Heute, so Ricard, hätten die Gesellschaften ein eher düsteres Bild von der menschlichen Natur. Und Studien zeigten: »Wenn Sie das glauben, dann benehmen Sie sich auch so, dass der Glaube...

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Teil I Kapitalismus unter Druck
  3. Teil II Die großen Spaltlinien und was sie bedeuten
  4. Teil III Revolutionen, die sich lohnen
  5. Danksagung
  6. Anhang