1. Demokratie in der Vertrauenskrise
Während meines Studiums in London wurde mir das eigentlich Offensichtliche klar. Am 15. Februar 2003 erlebte Großbritannien die größte Demonstration seiner Geschichte. Mehr als zwei Millionen Menschen forderten an diesem Tag ihre Regierung auf, nicht an der Seite der USA in den Krieg gegen den Irak zu treten. Sie schenkten den Behauptungen des damaligen britischen Premierministers Tony Blair und des amerikanischen Präsidenten George W. Bush, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen, keinen Glauben. Und sie sollten recht behalten. Doch das eigentlich Schockierende war für mich etwas anderes: Nur zwei Wochen nach der Millionendemonstration stimmte eine überwältigende Mehrheit im britischen Parlament für den Krieg. Und das, obwohl sich in repräsentativen Meinungsumfragen eine deutliche Mehrheit der Briten gegen den Kriegseintritt ausgesprochen hatte.
Mir wurde sofort klar: Wenn ein Parlament in einer so wichtigen und entscheidenden Frage wie Krieg und Frieden die gesellschaftliche Mehrheit nicht abbildet, dann stimmt mit der parlamentarischen Demokratie etwas nicht. Denn wenn ein Parlament den Anspruch hat, Volksvertretung zu sein, dann sollte es auch den Willen des Volkes abbilden. Nun könnte man annehmen, dass nur in Großbritannien parlamentarische und gesellschaftliche Mehrheiten so weit auseinander liegen können, schließlich blieb der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder ein erklärter Kriegsgegner. Allerdings war er im Jahr davor vor allem aufgrund seines Versprechens wiedergewählt worden, nicht in den Irakkrieg zu ziehen.
Aber auch in Deutschland gibt es viele politische Entscheidungen, die nicht dem Mehrheitswillen der Bevölkerung entsprechen. Für den Atomausstieg gab es seit dem Reaktorunfall im russischen Tschernobyl 1986 eine Mehrheit in der Bevölkerung. Auch Themen wie Mindestlohn, strengere Datenschutzregelungen oder die Einführung des bundesweiten Volksentscheids sind seit Jahren in der Bevölkerung mehrheitsfähig. Doch deren Umsetzung erfolgt entweder mit jahrelanger Verspätung (Atomausstieg) oder nur halbherzig (Mindestlohn), vor allem deshalb, weil mächtige Lobbyinteressen ihr entgegenstehen.
Die Durchsetzung von Interessen einzelner Wirtschaftssektoren gelingt dagegen oft sehr schnell. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Bankenrettung auf Kosten der Steuerzahler. Laut repräsentativen Meinungsumfragen aus dem Jahr 2011 waren 78 Prozent der Bundesbürger dagegen, dass der Staat Steuergelder einsetzt, um Banken zu retten, die sich verspekuliert hatten. Trotzdem wurden in Deutschland infolge der Finanzkrise aus dem Jahr 2008 ganz selbstverständlich mit einer großen parlamentarischen Mehrheit und vielen Steuermilliarden Banken gerettet. Während die meisten fünf Jahre später bereits wieder große Gewinne machen, trägt die Allgemeinheit weiterhin die Verluste durch die Übernahme der sogenannten Bad Banks. Eine Rückzahlung ist nicht vereinbart worden.
Auch Auslandseinsätze der Bundeswehr sind in der Regel nicht mehrheitsfähig. So sprachen sich in den Jahren 2011 und 2012 jeweils 66 Prozent der Befragten für einen schnellen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan aus. Und auch 2014 stellt das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr in einer eigenen Bevölkerungsumfrage fest, dass nur noch 38 Prozent der Bevölkerung hinter der Mission in Afghanistan stehen. Trotzdem ist die Bundeswehr weiterhin am Hindukusch aktiv.
Vor allem aber, wenn große wirtschaftliche Interessen im Spiel sind, bildet sich der Mehrheitswille der Bevölkerung immer seltener im Parlament ab. Und weil das so ist, verlieren die Bürger zunehmend das Vertrauen in unsere Politiker, aber auch in unser parlamentarisches System. Laut einer Umfrage aus dem Februar 2013 haben nur 34 Prozent der Befragten Vertrauen in die Regierung. Politischen Parteien bringen sogar nur 16 Prozent der Befragten Vertrauen entgegen. Immer mehr Menschen fühlen sich von der Politik nicht mehr repräsentiert. Gleichzeitig steigt der Drang in der Bevölkerung nach mehr Transparenz und stärkerer Beteiligung. Dieser Ruf wird lauter, er wird aber, zumindest auf Bundesebene, nicht erhört.
Die Folgen sind uns bekannt: Immer mehr Menschen gehen nicht mehr zur Wahl, vor allem sozial benachteiligte Bürgerinnen und Bürger wenden sich von der Politik und ihren Einflussmöglichkeiten ab und gehen nicht mehr wählen. Denn es sind ihre Interessen, die zunehmend unberücksichtigt bleiben. Und auch für junge Wählerinnen und Wähler ist der Politikbetrieb immer weniger attraktiv. Kein Wunder. Sie sind mit dem Internet und dem Gedanken der Transparenz aufgewachsen. Für sie wirkt der Politikbetrieb geradezu wie aus der Zeit gefallen. Sie wollen von der Politik Klarheit, Transparenz und Offenheit. Sie wollen ernst genommen werden und bereits getroffene Entscheidungen nicht einfach hinnehmen. Das ergab jüngst eine umfangreiche Konsultation des Deutschen Bundesjugendrings unter Jugendlichen. Schon heute liegt das Durchschnittsalter der Mitglieder in den großen Volksparteien bei 59 Jahren. Die Folge: Immer mehr Menschen sehen keinen Sinn mehr in der Stimmabgabe alle vier Jahre, verabschieden sich komplett von der politischen Teilhabe und verstärken somit den Trend, dass ihre Stimme im Parlament kein Gewicht bekommt. Denn bei stetig sinkender Wahlbeteiligung müssen Politiker den Bürgerwillen bei den nächsten Wahlen immer weniger fürchten.
Nun könnte man sagen: Sollen die Leute das Vertrauen in die Politik eben verlieren. Doch so leicht können wir es uns nicht machen, denn jedes politische System lebt vom Vertrauen, auch und vor allem die Demokratie. Akzeptiert die Bevölkerung immer weniger die Entscheidungen ihrer Regierung, verliert die Demokratie an Macht. Vertrauensverlust und Unzufriedenheit machen es dann extremen Kräften leicht, politischen Einfluss zu gewinnen – eine große Gefahr für die Demokratie. Europaweit sind rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch. Ob Marine Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in den Niederlanden oder die Goldene Morgenröte in Griechenland: Sie alle profitieren von der Vertrauenskrise der Politik.
Demokratie im Sinne der Umsetzung des Mehrheitswillens ist also kein Selbstzweck. Demokratie ermöglicht den friedlichen Ausgleich sich widersprechender Interessen in einer Gesellschaft. Zwar ist die Demokratie nicht die vollkommenste Regierungsform, aber die beste, die wir haben. Das sehen auch die meisten Deutschen so. Laut aktuellen Umfragen findet die Demokratie als Regierungsform eine Zustimmung von 90 Prozent. Mit ihr sind wir in Westdeutschland seit Gründung der Bundesrepublik und in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung sehr gut gefahren. Wir hatten stabile Regierungen und zählen weltweit zu den demokratischsten Ländern. Laut Demokratie-Index des renommierten Wirtschaftsmagazins The Economist belegt Deutschland Rang 14 hinter den skandinavischen Ländern, Australien und Neuseeland. Die geringste Wertung erhielten wir dagegen im Bereich der politischen Teilhabe. Hier liegen wir noch hinter Ländern wie Slowenien oder Südafrika. Doch genau dieser Wunsch nach politischer Teilhabe wächst in der Bevölkerung seit Jahren. Das lässt sich beispielsweise an der immer größeren Anzahl von Bürger- und Volksbegehren in den Bundesländern und Kommunen messen. Es verwundert daher nicht, dass 44 Prozent der Bürgerinnen und Bürger mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland unzufrieden sind.
Ursachen für die Vertrauenskrise der Politik
Das Vorurteil, Politik sei zum Selbstbedienungsladen für Politiker geworden, die nur nach ihrem eigenen Vorteil streben, ist weitverbreitet. Doch wir machen es uns zu leicht, wenn wir die Verantwortung für den Zustand unserer Demokratie allein auf unsere Politiker abwälzen. Denn es gibt Entwicklungen in unserer Gesellschaft, die alle Bereiche und damit auch die Politik beeinflussen. Eine negative Entwicklung ist das stetig wachsende Arm-Reich-Gefälle. So besitzen aktuell in Deutschland 10 Prozent der Bevölkerung 61 Prozent des Gesamtvermögens, während 27 Prozent der erwachsenen Bevölkerung über gar kein Vermögen verfügen oder sogar verschuldet sind. Wer viel Geld hat, kann leicht in Versuchung kommen, dieses für den eigenen politischen Vorteil einzusetzen. Und leider ist unser derzeitiges politisches System sehr anfällig für finanziell gut ausgestattete Einzelinteressen.
Man könnte natürlich versuchen, die Vermögenskonzentration zu stoppen und damit »Druck aus dem Kessel zu nehmen«. Vorschläge, wie das möglich wäre, reichen von der Vermögenssteuer bis hin zur Abschaffung des Zinsgeldsystems. Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer wird Umfragen zufolge von 77 Prozent der Deutschen unterstützt. Eine parlamentarische Mehrheit hierfür ist jedoch nicht in Sicht. Schon meine Großmutter hat immer gesagt: »Der Teufel scheißt auf den größten Haufen.«
Der große Unterschied zu früher besteht darin, dass meine Oma ohne Internet aufgewachsen ist. Denn um Einfluss nehmen zu können, benötigt man vor allem eins: Wissen. Dabei hilft uns ein positiver Trend in unserer Gesellschaft. Noch nie hatten wir die Möglichkeit, uns so schnell, günstig und umfassend zu informieren wie heute. Während man früher seine politischen Informationen lediglich der Tagesschau oder der Tageszeitung entnehmen konnte, ist es heute ohne größeren Aufwand möglich, sich rund um die Uhr, stets aktuell und durch viele unterschiedliche Quellen zu informieren. So gut wie jede Tageszeitung hat ein eigenes Internetportal. Fast jeder Fernsehsender hat eine Online-Mediathek. Hinzu kommen soziale Medien wie Twitter und Facebook, die Newsletter von Organisationen und Parteien, für die man sich interessiert. Der YouTube-Nachrichtenkönig »LeFloid« erreicht mit 1,4 Millionen Abonnenten schon jetzt mehr junge Menschen als so manche etablierte Nachrichtensendung im Fernsehen. Wissen ist Macht, wusste schon 1598 der englische Philosoph und Aufklärer Francis Bacon. Erstmals in der Menschheitsgeschichte steht dieses Wissen fast allen Bürgern in bisher nie gekannter Form zur Verfügung. Damit nähern wir uns dank des Internets der demokratischen Idealvorstellung an, dass wirklich alle Macht vom Volke ausgehen könnte.
Kommen wir zurück zu unserer Ausgangsfrage: Warum bilden unsere Parlamente bei den großen und wichtigen gesellschaftlichen Fragen den Mehrheitswillen der Bevölkerung nicht ab, obwohl dies der Anspruch einer Demokratie sein sollte? Warum gelingt es finanziell gut ausgestatteten Einzelinteressen, die Entscheidungen der Legislative zu ihren Gunsten zu beeinflussen?
Aus meiner Sicht gibt es dafür drei wesentliche Ursachen. Erstens: Intransparenz, d.h., politische Entscheidungen können immer weniger nachvollzogen und geprüft werden, weil die entsprechenden Informationen nicht zur Verfügung stehen und auch nicht zur Verfügung gestellt werden. Zweitens: Über Lobbyismus, Nebeneinkünfte der Abgeordneten und Parteispenden gelingt es finanzstarken Interessen, großen Einfluss auf parlamentarische Entscheidungen zu nehmen. Drittens: Politiker entfremden sich von ihren Wählerinnen und Wählern und entfernen sich von ihren Wahlversprechen und dem Willen der Bürger, deren Interessen sie vertreten sollten.
Intransparenz
In jeder großen Stadt gibt es sie, Prestigebauten, deren Kosten aus dem Ruder laufen. Ob Berliner Flughafen, Stuttgart 21 oder die Hamburger Elbphilharmonie. Bei Vertragsabschluss für das neue Wahrzeichen der Hansestadt war das Projekt mit Kosten in Höhe von 77 Millionen Euro für die Stadt veranschlagt. Sechs Jahre später beziffert Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz die Kosten bereits auf 789 Millionen Euro – eine Verzehnfachung.
Experten führen diese enorme Kostensteigerung vor allem auf das mangelhafte Vertragswerk zurück. Zwischen Architekten, Stadt und dem Baukonzern Hochtief waren offenbar keine festen Verantwortlichkeiten und Budgets geklärt. Darüber entbrannte zwischen allen Beteiligten ein sich lang hinziehender Streit. Der damals verantwortliche Bürgermeister Ole von Beust kümmerte sich viel zu spät um die Details. Schließlich blieben die Verträge unter Verschluss. Die Öffentlichkeit konnte nicht nachvollziehen, wer was mit wem vereinbart hatte. Die Hamburger Bürger wurden zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe über die tatsächlichen Kosten zumindest im Unklaren gelassen.
Wenn solche Entscheidungen möglich sind, ohne dass sie jemand kontrolliert und sich dafür insgesamt verantwortlich zeigt, läuft etwas gewaltig schief. Dann liegt sogar der Verdacht der Korruption nahe. Denn mit falschen Kalkulationen und Zahlen, oder auch gleich ganz ohne, lassen sich natürlich leicht parlamentarische Mehrheiten organisieren. Wer nimmt nicht gerne eine Elbphilharmonie zum Schnäppchenpreis? Im Hamburger Parlament hat sich vor Vertragsabschluss scheinbar niemand die Mühe gemacht, die Verträge genau zu prüfen. Zwar gab es Kritik an dem Kostenplan, aber am veranschlagten und, wie sich später herausstellte, viel zu niedrigen Eigenanteil von 77 Millionen Euro hat niemand gezweifelt. Letztlich hat man sich auf das Wort des Bürgermeisters verlassen und schließlich den Bau der Elbphilharmonie sogar einstimmig beschlossen.
Dass ein Parlament seinen Kontrollpflichten bei einem so wichtigen und teuren Vertrag nicht nachkommt, ist leider kein Einzelfall. Selbst bei milliardenschweren Entscheidungen wie der Einrichtung des Eurorettungsschirms EFSF im Jahr 2011 war dies der Fall. Obwohl viele Parlamentarier ein stärkeres Mitspracherecht forderten und angemahnt hatten, dass die Regierung eine solche Entscheidung nicht allein treffen könne, hatten viele Bundestagsabgeordnete offenbar den Text der Gesetzesvorlage nicht gelesen. Vor laufender Kamera konnten sie jedenfalls noch nicht einmal die Höhe der Bürgschaftssumme nennen, über die sie entscheiden mussten. Nun ließe sich anführen, dass nicht alle Parlamentarier die Möglichkeit haben, komplexe Vertragswerke wie die zur Elbphilharmonie oder zum EFSF-Vertrag genau zu prüfen. Das stimmt! Wir könnten darüber diskutieren, ob wir nicht die Anzahl der Bundestagsabgeordneten reduzieren und sie im Gegenzug besser ausstatten. Jedem Abgeordneten sollte es, ähnlich wie in den USA, möglich s...