V. Praxis
Von der Themenfindung über die Recherche und Quellenanalyse bis zur Dokumentation und Präsentation des eigenen Produkts lassen sich die allgemeinen Anforderungen an die Spurensucher und ihre methodischen und Handlungskompetenzen gut beschreiben. In der Praxis entwickelt sich jedes Projekt anders, je nachdem, wie alt die Forscherinnen und Forscher sind, welche Motivation und welches Vorwissen sie mitbringen, ob sie in Teams zusammenarbeiten oder sich allein auf den Weg machen. Die Erfahrungen mit Grundschulkindern, Schülerinnen und Schülern aus verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I mit und ohne Inklusion sowie einer Klasse der gymnasialen Oberstufe zeigen die Vielfalt des Wettbewerbs und die besonderen Hürden, die überwunden werden müssen. Hier kommen die Tutorinnen und Tutoren ins Spiel, die die Spurensucher motivieren, beraten und ihnen Unterstützung bieten. Die Vielfalt des Geschichtswettbewerbs zeigt sich aber auch in seiner eigenen Geschichte, den Themensetzungen, seiner organisatorischen Entfaltung und seinen Zukunftsperspektiven.
Eine Grundschule im Geschichtswettbewerb
von Ina Gabler
Eine Grundschule im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten – kann das überhaupt funktionieren? Ist der Wettbewerb nicht zu wissenschaftsorientiert und komplex für diese Altersstufe? Die Talsperrenschule im Vogtland hat schon zum zweiten Mal bewiesen, dass sich Grundschulklassen mit kreativen Beiträgen und Präsentationen erfolgreich an der Spurensuche beteiligen können. Dabei kommen die besonderen Stärken der Grundschülerinnen, ihre Neugier und ihre Begeisterung voll zum Tragen.
1. Gute Vorbereitung und viel Unterstützung
Unsere Talsperrenschule hatte bereits 2010/11 erste Erfahrungen im Geschichtswettbewerb gesammelt. Damals beschäftigten sich die Kinder zum Wettbewerbsthema »Skandal« mit dem verlorenen Dorf Pöhl und dem Kampf seiner Bewohner gegen den Talsperrenbau Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre. Sie erarbeiteten Ergebnisse und Produkte, die – sehr individuell gestaltet – in und außerhalb unserer Schule große Resonanz fanden.
Der Nachhall des Themas und die Nachhaltigkeit der Lernprozesse ermutigten mich 2013 zu einer erneuten Teilnahme mit neuen Schülerinnen und Schülern. Zum Thema »Nachbarn in der Geschichte« griffen wir noch einmal den Talsperrenbau und das versunkene Dorf Pöhl auf. Zum einen konnten wir so auf das bereits erarbeitete Wissen zurückgreifen. Zum anderen wussten wir jetzt viel besser, wie viel Vorbereitung und Planung auf uns zukommen würden – aber auch, wie viel Unterstützung wir in unserer Arbeit erhalten würden.
In der Grundschule ist die Planung und Vorbereitung der Wettbewerbsteilnahme durch die Tutorin sehr entscheidend. Das fängt schon bei der Frage an, wer sich an dem Projekt beteiligen soll. Ist es sinnvoll, mit einer gut eingespielten Klassengemeinschaft auf die Spurensuche zu gehen? Oder gibt es bereits eine AG, in der Kinder mit ähnlichen Interessen zusammenarbeiten? Ich entschied mich dafür, möglichst viele interessierte Dritt- und Viertklässler anzusprechen, besonders aber die sogenannten »Deutsch-Asse«, eine spezielle Sprachfördergruppe. Die für die »Asse« eingeplante 14-tägige Förderstunde konnte ich leicht zu einer Doppelstunde ausbauen, da die Kinder nachmittags ohnehin im angeschlossenen Hort sind.
Im nächsten Schritt gilt es, das Thema abzuklopfen: Wird die Recherche ergiebig sein? Können die Kinder über Eltern, Großeltern oder Bekannte an Quellen wie Fotos, Briefe oder Tagebücher gelangen? Ist im örtlichen Archiv oder bei der regionalen Zeitung ein interessantes Schriftstück einzusehen, das die Kinder ohne Hilfe untersuchen können? Gibt es im nahen Umkreis Personen, die befragt werden können? Schon hier können Tutoren durch gute Vorbereitung viele Hindernisse aus dem Weg räumen.
Um das Projekt in den Unterricht einzubetten und zu begründen, sollte man am Anfang auch die Verbindung zu den wesentlichen Lehrplaninhalten und den allgemeinen Lernzielen der Schule reflektieren. Außerdem ist es ein guter Anlass, den Lernstand der Kinder, vor allem ihre sozialen, sprachlichen und medialen Kompetenzen, in den Blick zu nehmen: Wer würde besonders geeignet sein, um Ergebnisse aufzuschreiben, um Gespräche mit Zeitzeugen zu führen oder ein Plakat zu entwerfen? Wenn die Kinder gelernt haben, sehr eigenständig zu arbeiten, z.B. durch Wochenplanarbeit, Lerntheken und Werkstätten, ist eine gute Basis für ein längeres Projekt gelegt.
Hilfreich ist auch die Vorstrukturierung des Projektes. Angelehnt an die Gestaltung einer Zukunftswerkstatt, habe ich das »Forschungsprojekt« zunächst in die Schritte
- Erschließen des Themas mit dem Vorwissen der Kinder,
- Kreativitätsphase und
- Verwirklichungsphase
eingeteilt. Es folgten konkretere Überlegungen, wie die einzelnen Phasen ausgestaltet werden könnten und welche Schritte für das Gelingen notwendig wären.
Dabei sollte das Projekt in überschaubare Lernsituationen gegliedert werden: Das waren bei uns z.B. die konsequente Arbeit mit dem Projekttagebuch, das Sammeln, Sichten und Auswerten der Informationen mit Hilfe eines Schulbriefkastens, die Herstellung eines oder evtl. mehrerer Produkte im Wettbewerb. Dies ist notwendig, da die Schülerinnen und Schüler noch nicht über die nötige zeitliche und aufgabenbezogene Selbstorganisation verfügen, um den Prozess von der Recherche bis zum Produkt und seiner Präsentation über sechs Monate hinweg zu planen. Eine gemeinsam mit den Kindern entwickelte Struktur, die ausschlaggebend für den Gesamterfolg ist, folgte dann unmittelbar nach Start des Projekts (siehe Punkt 2).
Schließlich informierten wir alle Partner und potenziellen Unterstützer: von der Schulleitung und den Kolleginnen über die Eltern, Großeltern und Nachbarn bis zu den Unterstützern in Institutionen und Vertretern der regionalen Presse. Sie alle tragen wesentlich zum Gelingen eines so umfassenden Projektes bei und sollten frühzeitig einbezogen werden
2. Die Spurensuche beginnt
Bei uns begann die eigentliche Spurensuche mit der Werbung und Motivierung der Kinder. Bei der Präsentation des Themas haben mir das zum Wettbewerbsstart erschienene Plakat und einige selbst ausgesuchte Bilder geholfen. Vor allem aber wurden die Kinder durch das Vorbild der ehemaligen Viertklässler angesteckt: Sie wollten »auch eine solche Forschungsarbeit leisten, bei der man sich mit Schulpartnern treffen, gemeinsame Ausfahrten machen und so ein tolles Buch zusammenstellen kann – und vielleicht auch noch was gewinnt!« 13 Schülerinnen und Schüler sind schließlich mit an den Start gegangen.
Annäherung an das Thema
Es bietet sich an, zu Beginn die Vorstellungen und das Vorwissen der Kinder zum Thema des Geschichtswettbewerbs aufzurufen. So stellten wir uns die Fragen: Was ist überhaupt ein Nachbar? Warum werden Nachbarn als vertraute Fremde bezeichnet?
Hierzu verwendete ich die Methode des Gruppenpuzzles. In Vierergruppen beschäftigten sich die Kinder mit dem Thema, entwarfen kleine Plakate, Mindmaps, Sprachspielereien und tauschten sich anschließend über ihre Plakate aus. Dabei wurde immer ein Experte pro Gruppe bestimmt, die anderen Kinder wurden als Informanten zu den anderen Gruppen ausgesandt: eine sehr produktive und motivierende Arbeitsweise, bei der sich die Kinder schnell gegenseitig inspirieren.
Was sind eigentlich Nachbarn? Sie wohnen neben mir, sind lieb, tauschbereit, cool, »pingelich«, freundlich, mutig, hilfsbereit, schlau, helfen sich gegenseitig, Nicht alle Kinder von uns haben Nachbarn. In der Stadt hat man viele Nachbarn und kennt sie nicht alle. Jeder hat seine eigene Familiengeschichte.
(GW 2013-1454, S. 2)
Mindmap zum Thema Nachbarn (Foto: GW 2013-1454)
Anschließend befragte ich die Kinder, woran sie sich vom letzten Geschichtswettbewerb erinnern können. Viele nannten die Bilder der Ausstellung und das Sperrholz-Modell der Talsperre im Eingangsbereich der Schule. Anderen war das damals erarbeitete Hörbuch in Erinnerung geblieben, der Ausflug der »Großen« ins Archiv im Schloss Oelsnitz oder der – sehr aufregende – Besuch der Fernsehreporter der Kindernachrichtensendung »Logo« an unserer Schule. Am Ende war aber auch klar, dass eine eigene, neue Forschungsfrage zum Thema Nachbarn gefunden werden musste. Und es kristallisierte sich heraus, dass die Kinder herausfinden wollten, was aus den ehemaligen Einwohnern des Dorfes Pöhl geworden ist, wo sie hingezogen sind und wie es ihnen heute geht.
Projektplan und Ideensammlung
Den 28. Februar als Abgabetermin sollten nicht nur die Tutoren immer im Auge behalten. So motivierte ich die Schüler, sich in selbstständiger Gruppenarbeit zu überlegen, was alles zu einer Wettbewerbsteilnahme bzw. einem Projekt dazugehört. Hoch konzentriert und gewissenhaft gingen die Kinder ans Werk. Wir nutzten und sortierten alte Projektunterlagen, den Ordner der »Großen« und trugen wichtige Details zusammen. Ein Vater, beruflich im Management tätig, unterstützte uns beim Entwurf eines Arbeits- und Zeitplanes.
Als sehr hilfreich für alle Beteiligten empfinde ich einen Projektplan. Farbig gestaltet, wird er im Fach- oder Klassenraum für alle gut sichtbar ausgehängt. Nach jedem Arbeitstreffen dient er als Reflexions- und Entwicklungsinstrument. Der Plan ist kein starres System, Veränderungen werden farbig eingearbeitet, Ergänzungen oder Termine eingetragen, sodass der Entwicklungsprozess stets gut nachvollziehbar ist.
Unser Projektplan (Foto: GW 2013-1454)
Frau Gabler hat alles in eine Reihenfolge gebracht und wir haben den Plan dann in unsere Zimmer gehängt und immer abgestrichen, was wir alles so geschafft haben. Deshalb sind es so viele verschiedene Farben. (…) Das Ausmalen haben wir immer zum Schluss unserer Stunden gemacht, auch um zu sehen, was wir beim nächsten Mal erledigen müssen.
(GW 2013-1454, S. 5)
Für die Kinder ist es meist die erste Teilnahme an einem solch langen und umfangreichen Projekt. Abfolge und Schritte zur Fertigstellung sind ihnen nicht bewusst, nicht nachvollziehbar. Jedoch auch als Lehrkraft kann man sich verzetteln. So ist der Projektplan für alle ein gutes Instrument zur Orientierung, das erfahrungsgemäß gut angenommen wird und später zum Selbstläufer avanciert.
Besonders wichtig ist in diesem Prozess, dass die Kinder feststellen, wo bei der Planung noch etwas fehlt – es muss ja außer dem Sammeln von Informationen am Ende auch ein vorzeigbares Ergebnis herauskommen – und wo sie sich vielleicht zu viel vorgenommen haben.
Parallel zur Projektplanung begann die Kreativitätsphase, in der die Kinder viele Vorhaben und Wünsche formulierten, etwa eine Ausstellung in der Schule, ein Geschichtenbuch, Plakate und einen eigenen Film. Manches ließ sich am Ende nur verwirklichen, weil z.B. eine ganze Klasse gewonnen wurde, Geschichten über Nachbarn zu schreiben.
Um die Kreativität anzuregen, haben wir einen Tunnel im Klassenraum gebaut, unseren »Ideentunnel«. Darin konnten die Kinder eine »Gedankenreise« machen und ihren Wünschen, Träumen und »Spinnereien« freien Lauf lassen. Beim ersten Gang durch den Tunnel werden die Ideen und Wünsche sozusagen nur gedanklich eingefangen und noch einmal durchdacht. Beim zweiten Durchlaufen des Tunnels äußern die Kinder ihre Ideen, Wünsche und Träume. Diese zwei Schritte dienen der besonderen Konzentration und erhöhen ihre Wertigkeit. Eine Doppelstunde genügte, um die Ideensammlung abzuschließen. Die Ergebnisse wurden in den Projektplan eingearbeitet sowie die Zeitpunkte bis zur Fertigstellung festgelegt.
3. Recherche: Möglichst viele beteiligen!
Ende September begann für uns die Verwirklichungsphase. Nun sollten die Kinder die anfangs festgelegte Forschungsfrage aufgreifen und möglichst viel über die Bewohner des Dorfes Pöhl herausfinden. Dazu entwarfen die kleinen Spurensucher einen speziellen Forschungsauftrag an alle anderen Kinder der Schule: Sie sollten bei Eltern, Großeltern und Nachbarn nachfragen, wer in dem alten Dorf Pöhl gewohnt, wer von den Opas an der Talsperre mitgebaut hat und wer noch alte Fotos besitzt. Sie gestalteten einen Briefkasten, in den die Antwortbriefe eingeworfen werden sollten. Der Forscherbriefkasten wurde – begleitet von großer Freude und Neugier – regelmäßig zu Beginn unserer Arbeitstreffen geleert.
So erfuhren die Kinder, dass manche ihrer Großmütter im alten Dorf gewohnt hatten oder dass das Dorf noch kurz vor Abriss als Kinderferienlager genutzt wurde, dass das Baumaterial der Pöhler Häuser für den Bau neuer Häuser genutzt wurde und dass den meisten Einwohnern eine »schöne neue Wohnung mit geraden Wänden und Wasser aus der Leitung« zugesprochen wurde. Diese Dinge sind für die Kinder heute selbstverständlich; deshalb staunten sie über diese Aussage und wurden nachdenklich. Kindern, denen es sonst schwerfiel, in Sachunterricht oder Deutsch Zusammenhänge zu erkennen, machten hier erstaunliche Fortschritte. Sie waren plötzlich in der Lage, relevante Fragen zum Thema zu formulieren und sich die nächsten Arbeitsschritte zu überlegen.
Nachdem die ersten Informationen gebündelt und der Inhalt des Briefkastens sortiert worden waren, bedankten sich die Kinder bei allen Helfern, persönlich oder mit einem kurzen Brief. Diese erste Recherche dauerte bis zu den Herbstferien. Der Briefkasten blieb aber auch später noch hängen – für Nachzügler.
Um die historischen Zusammenhänge des Talsperrenbaus zu erfahren, bedarf es einer Recherche im Internet und in Bibliotheken. Ich habe den Schülerinnen und Schülern entsprechende Bücher, z.B. eine Chronik des Dorfes Pöhl, empfohlen und wenige Internetseiten zum Thema vorgegeben, um ihnen eine lange Suche zu ersparen. Ein bibliothekserfahrener Schüler der 4. Klasse hat für uns die wichtige Chronik ausgeliehen. Bei einer eigenen Bibliotheksrecherche fanden die Kinder aber auch andere Bücher zum Dorf Pöhl.
Das Verständnis und die Analyse solch umfangreicher und nicht kindgerecht geschriebener Darstellungen fallen den Kindern allerdings sehr schwer. Hier können die Tutoren helfen, indem sie wichtige Passagen kopieren und dazu gezielte Fragen aufschreiben. Zu diesen Fragestellungen können die Kinder nun im kopierten Text Markierungen vornehmen – eine ihnen bereits vertraute Arbeitsweise.
Gleichzeitig recherchierten die Kinder im Internet, wo sie z.B. viele Bilder des Ortes auf der Seite http://www.dorf-poehl.de/ fanden. Mit Einverständnis des Betreibers dieser Webseite durften wir die Fotos für unsere Ausstellung nutzen.
Zeitzeugen und Experten
Wie wichtig Zeitzeugen für die Forschung sein können, hatten die Kinder schon durch ihren Briefkasten erfahren. Zwei Experten kamen für die Geschichte des Dorfes Pöhl und der Talsperre in Frage. Dazu wollten die Kinder mit der Großmutter einer Schülerin sprechen, die im Alter von 14 Jahren das Dorf verlassen musste.
Obwohl die Motivation groß war, diese Menschen einzuladen, stellte sich dieser Teil der Arbeit als besonders schwierig heraus, weil d...