Ein neues Ägypten?
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Ein neues Ägypten?

Reise durch ein Land im Aufruhr

  1. 264 Seiten
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Ein neues Ägypten?

Reise durch ein Land im Aufruhr

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Über dieses Buch

Die Luxus-Badeorte der reichen Ägypter am Roten Meer und die Armenviertel der Metropole Kairo, die Siedlungen der Fellachen am Nil und die einstmals glänzende Hafenstadt Port Said sind nur einige der Stationen, die Asiem El Difraoui auf seinen Reisen durch Ägypten besucht hat - immer auf der Suche nach den Menschen hinter den Nachrichten: Wer begreifen will, warum Ägypten nicht zur Ruhe kommt, muss die gesellschaftlichen Fliehkräfte verstehen lernen.Wenig haben weltliche Revolutionäre, Salafisten, Frauenrechtsaktivistinnen, Nubier, Kopten und Beduinen gemeinsam - außer dass sie für Bevölkerungsgruppen stehen, die erstmals ihre Rechte fordern. In der Zeit nach dem Sturz Husni Mubaraks bot sich eine historische Gelegenheit: Zum ersten Mal sprachen die Menschen offen über ihre Hoffnungen, Sorgen und Erwartungen.Asiem El Difraouis politischer Reisebericht liefert den Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Situation. Nicht nur der Westen fragt sich, wohin Ägypten treibt; auch für die arabische Welt sind die Entwicklungen am Nil wegweisend. Wird der Freiheitswille irgendwann in eine Demokratie münden? Oder wird sich eine neue Diktatur etablieren? Fest steht nur: Ägyptens Vielfalt bedeutet Chance und Gefahr zugleich.

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Der Tahrir-Platz von oben

Pierre, »Guru der Revolution«
Der Mann ist ein Hüne, ein ironisch-zynischer Hüne, und das war er auch schon vor knapp 30 Jahren. Etwa 120 Kilo schwer und knapp zwei Meter groß, mit wirrem Haar und einem intellektuellen Rauschebart, der allmählich grau wird. Schon damals hatte nicht nur ich das naive Gefühl, der Mann könne irgendwie die Welt – oder zumindest Ägypten – auf seinen Schultern tragen – intellektuell. Das hat Pierre Sioufi nicht getan, aber er könnte behaupten, was er aus Bescheidenheit nie tun würde, dass er oder bzw. seine Wohnung für 18 Tage das Zentrum der Welt war, zumindest medial. Das war 2011, während der Ereignisse, die zum Sturz des ägyptischen Diktators Husni Mubarak führten. Pierres Wohnung oder besser gesagt sein ganzes Haus liegt am Platz der Befreiung, dem mittlerweile legendären Tahrir-Platz. Es war der letzte Neubau, der Anfang der sechziger Jahre dort genehmigt wurde. Aber auch schon vorher, seit Anfang des letzten Jahrhunderts, hatten Pierres Vorfahren hier auf demselben Grundstück zwischen Innenstadt und Nil ein Haus. Pierre lebte bis zum Tod seiner Mutter vor wenigen Jahren noch in den ehemaligen Dienstbotenzimmern – Kammern oder besser kleine Häuschen – auf dem Flachdach des zehnstöckigen Gebäudes. Auch ohne das Treiben der zahlreichen Katzen war auf dem zur Terrasse umfunktionierten Dach mit einer der besten Aussichten Kairos oftmals einiges los. Kairos Intellektuelle, Künstler und ein paar westliche Ägyptenbegeisterte trafen sich hier, und Pierre hielt Hof. Bei meinem letzten Besuch vor zehn Jahren wurden mit braunem Reis gefüllte Tauben, eine ägyptische Spezialität, serviert. Interessanter noch als das Essen waren die Gespräche. Etwa mit einer libyschen Schauspielerin, die berichtete, Gaddafis Söhne würden ihr Land reformieren. Konversationen unter dem Licht einer riesigen Leuchtreklame, die auf dem Dach montiert war. Ich glaube, es war Werbung für Sony, auch Pierre erinnert sich nicht mehr genau. Davor, als es die US-Fluglinie noch gab, warb sie für TWA.
Noch spannender ging es bei Pierre während der historischen Umbrüche im Jahr 2011 zu. Während der zweieinhalb Wochen von Massenprotesten, die der Mubarakdiktatur ein Ende bereiteten, war seine Wohnung mit dem einmaligen Blick auf den Tahrir-Platz Medienzentrum und Planungsquartier der Demonstranten zugleich. Es wurde über die Ereignisse getwittert, gefacebookt, gemailt und gebloggt. Al Jazeera filmte von hier die Bilder, die auch über andere Fernsehsender um die ganze Welt gingen. Hunderttausende Menschen, die ihre Schuhe gen Himmel streckten, als Mubarak seine letzte Durchhalterede hielt, der Freudentaumel nach seinem Rücktritt, aber auch die schreckliche Gewalt der sogenannten »Schlacht der Kamele«, als vom Regime gedungene Schläger auf Kamelen und zu Pferd und mit Peitschen und Stöcken bewaffnet versuchten, die Demonstranten zu vertreiben.
Zwei Jahre später sitzt Pierre gelassen und etwas müde in seinem Büro. In dem Chaos auf dem alten Holztisch vor ihm liegen noch Flugblätter und Aufkleber aus der wilden Zeit zu Beginn der Umbrüche. Warum er seine Wohnung zur Verfügung gestellt habe? Um die Demonstranten zu schützen, antwortet er, sie hätten ja einen Zufluchtsort gebraucht. Filmen lassen habe er Al Jazeera vor allem deshalb, weil er hoffte, durch die mediale Aufmerksamkeit die jungen Revolutionäre auf dem Tahrir vor dem Schlimmsten zu bewahren. Pierre hat natürlich wesentlich mehr getan, als nur Demonstranten Schutz zu bieten. Er hat sie beraten, die jungen Revolutionäre, die Kids, wie er sie nennt, und ermutigt. Die New York Times bezeichnete ihn deshalb als Guru der Revolution – was sicherlich etwas übertrieben ist.
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Pierre, »Guru der Revolution«, in seiner Wohnung am Tahrir-Platz
Er selbst verweigert zumeist Fernsehinterviews und mochte die Aufmerksamkeit der Medien nie wirklich. Obwohl er auch einmal Schauspieler war, will er keinesfalls auf die politische, geschweige denn auf die Weltbühne. Wer ist dieser 52-jährige Hüne mit der Hornbrille? Über sich selbst hat er einmal gesagt: »Ich bin nicht mehr als ein Salonrevolutionär, vielleicht weil ich es mir leisten kann. Wenn ich das nicht könnte, dann wäre ich vielleicht ein echter Revolutionär unten auf der Straße.« Als ich weiterfrage, sagt er: »Hör auf mit den Fragen, Pierre ist einfach Pierre.« Ich würde ihn als Privatintellektuellen bezeichnen, mit künstlerischem Touch: Neben seiner Schauspielerei hat er Ausstellungen und Happenings organisiert.
Pierres Zynismus, seine Ironie, auch Selbstironie oder einfach sein Fatalismus machen ihn zu einem herausragenden Analytiker Ägyptens und guten Sparringspartner. Er lässt sich nur selten zu blinder Passion, Emotion und Hysterie hinreißen, wie es andere seiner Landsleute, egal welchem politischen Lager sie angehören, gerne tun. Entsprechend ernüchternd fällt auch sein Rückblick auf den Februar 2011 aus: Der Sturz Mubaraks sei natürlich das Resultat eines Militärcoups mit dazwischengeschobenen Volksprotesten gewesen. Die Armee habe ihre eigene zunehmende Entmachtung durch das Regime zugunsten des Mubarak-Sohns Gamal und seines Klans nicht mehr ertragen. Das Argument, die Militärs hätten damals die Proteste einfach nicht mehr unterbinden können, lässt er nicht gelten. Sie hätten sie im Keim ersticken können. Zwei oder drei Stockwerke seines Hauses seien von der mächtigen staatlichen ägyptischen Tourismuskette Misr Travel angemietet. Dort arbeiteten viele ehemalige und aktive Offiziere der Armee, darunter auch Mitglieder des Militärgeheimdienstes, die bestens informiert gewesen seien und seine Wohnung sofort hätten räumen können. Auch der Sturz des ersten gewählten Präsidenten, Mohammed Mursi, sei ein Militärputsch gewesen. Der Kampagne Tamarod, die nach eigenen Angaben 22 Millionen Unterschriften zum Rücktritt des Präsidenten sammelte, hat er von Anfang an misstraut, da er vermutet, sie sei von den Militärs gesteuert. »Ich brauche nirgendwo zu unterzeichnen, um mich als Rebell auszuweisen«, betont er. Die Armee wolle die Machtposition wieder zurückerobern, die sie seit ihrem ersten Coup unter Gamal Abdel Nasser und den »Freien Offizieren« im Jahre 1954 innehatte. Auch damals wurde der Putsch in eine Revolution umgemünzt.
Ich teile Pierres Meinung nicht ganz. Die Militärs wollen ihre Privilegien sichern, das ist eindeutig. Die Feststellung, die Armee sei ein Staat im Staate, ist schon fast banal. Vielleicht ist sie sogar der Staat oder, wie die Ägypter sagen, der tiefe Staat: Ehemalige Offiziere sind überall im Staatsapparat vertreten. Die fast 500.000 Mann zählenden Streitkräfte sind sehr stark von dem sowjetischen Modell beeinflusst, seit sich Gamal Abdel Nasser in den fünfziger Jahren mit den US-Amerikanern überwarf und Militärberater aus der damaligen UdSSR ins Land holte. Seitdem besitzt die Armee ihre eigenen Rüstungsbetriebe, eigene Krankenhäuser – die besten des Landes –, eigene Sozialklubs und Ferienheime. Als Anwar as-Sadat sich im Jahre 1973 von den Russen abwandte und wieder ein liberales Wirtschaftssystem einführte, wurden die Streitkräfte »kapitalistisch«. Sie besitzen Großbäckereien, Hightech-Unternehmen, Waffenfabriken und zahlreiche Luxushotels. Durch Firmen in allen Wirtschaftszweigen des Landes finanzieren sie sich zum Teil selbst. Ihr Budget ist geheim, und die Verwunderung war nicht übermäßig groß, als die Armee den defizitären Staatshaushalt im Jahre 2011 mit einem Kredit von einer Milliarde Dollar bezuschusste. Die ägyptischen Streitkräfte sind gleichzeitig mit rund 1,5 Milliarden Dollar jährlich nach Israel die zweitgrößten Empfänger amerikanischer Militärhilfe. Ehemalige Offiziere sind Minister, Provinzgouverneure, Leiter wichtiger Staatsbetriebe und auf vielen anderen strategischen Posten zu finden. Der Militärgeheimdienst ist die vermutlich am besten informierte Institution des Landes.
Bei der Armee Karriere zu machen bedeutet nicht unbedingt, viel Geld zu verdienen. Doch die Offiziere und ihre Familien werden ihr ganzes Leben lang betreut. Sie machen Urlaub in Heimen der Armee, heiraten in den Klubs der Streitkräfte und haben eine für ägyptische Verhältnisse exzellente Gesundheitsversorgung. Ihre Söhne können in Militärakademien und Hochschulen zu Technikern oder Ärzten ausgebildet oder selbst Offiziere werden. All dies schafft bei den Militärs natürlich einen starken »Esprit de Corps«, einen Korpsgeist, bei dem die Loyalität vor allem sich selbst gilt.
Trotzdem wird die Armee, auch wenn sie es versuchen würde, wohl nie mehr die unumstrittene Machtposition erlangen, die sie bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts innehatte. In den vergangenen Jahrzehnten ist eine doch relativ große Mittelschicht mit politischem Bewusstsein und eine stärkere Zivilgesellschaft entstanden. Das Land hat sich der Welt geöffnet und weiß durch Satellitenfernsehen, Internet und soziale Medien, was in der Welt geschieht. Große Teile des Volkes haben seit den Massendemonstrationen, die zum Sturz Mubaraks führten, das Bewusstsein der eigenen Macht und Stärke erlangt. »Wir haben keine Angst mehr. Für die Zukunft unserer Kinder sind wir bereit zu sterben.« Diese Sätze sind 2013 überall in Ägypten und in allen Bevölkerungsschichten zu hören. Die Armee musste während der 16-monatigen Regierungszeit des obersten Militärrates von Februar 2011 bis Juni 2012 selbst die leidvolle Erfahrung machen, dass sie das neue Ägypten nicht regieren konnte. Hinter den Kulissen die Fäden ziehen, nicht alle, aber viele, und die eigene Autonomie bewahren – das sind wohl auch nach ihrer Intervention zur Absetzung der Muslimbrüder die Ziele der Militärs. Ganz genau weiß dies aber niemand außerhalb des Führungsstabs der Streitkräfte. Wie die Armee ihre Entscheidungen trifft, ist selbst auf Militärfragen spezialisierten ägyptischen Experten nicht bekannt. Das ist auch für sie ein »schwarzes Loch«.
Das Eingreifen der Armee und die Absetzung des ersten gewählten Präsidenten des Landes verurteilt Pierre. Ihm wäre es lieber gewesen, Mursi wäre noch ein bisschen an der Macht geblieben. Er ist überzeugt, dass spätestens nach dem Ende des Fastenmonats Ramadan im August 2013 das Regime in sich zusammengefallen wäre, weil es dann kein Brot mehr gegeben und das ganze Volk rebelliert hätte. Während der Massenproteste auf dem Tahrir-Platz im Juli ist Pierre ans Mittelmeer gefahren. Er wollte auch mal seine Ruhe haben. Den Schlüssel seiner Wohnung hat er einem Freund gegeben. »Man weiß nie, was passiert, vielleicht brauchen die Kids auf dem Platz wieder Schutz.« Journalisten des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera würde er aber nicht mehr reinlassen, die würden nur noch einseitig zugunsten der Muslimbrüder berichten.
Ich frage ihn, ob er mir sein Resümee der ägyptischen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte seit der Geburt des sogenannten »modernen Ägyptens« und vor allem auch seiner zum Teil bis heute weiter bestehenden Probleme geben kann. Lachend verneint er. Zweihundert Jahre seien ihm zu viel, hundert vielleicht. Dabei braucht er selber gar nicht viel zu sagen, denn er besitzt in gewisser Weise einmalige historische Dokumente, die die Geschichte des »modernen Ägyptens« illustrieren: weit über 10.000 Postkarten. Ihn interessieren vor allem Karten mit politischer Aussagekraft. In Ägypten wurden seit der Erfindung der Fotografie Postkarten hergestellt. Die einzige für die Geschichte des modernen Ägyptens relevante Periode vor der Erfindung der Fotografie ist Napoleons Eroberung des Landes Ende des 18. Jahrhunderts. Die Expedition des Franzosen wurde jedoch ausgiebig durch eine Gruppe von Forschern im Tross der Armee dokumentiert – von der Flora und Fauna, den Menschen und natürlich den pharaonischen Monumenten, die erstmals im 19. Jahrhundert in Europa bekannt wurden und eine Ägyptomanie entfachten. In Ägypten löste die Niederlage gegen die Heere Napoleons einen ungeheuren Schock aus. Die europäische Überlegenheit attestierte den sich für unverwundbar haltenden Herrschern des Landes, aber auch dem osmanischen Sultan in Istanbul ihre eigenen Schwächen und ihre Rückständigkeit. In Ägypten regierten zur damaligen Zeit die Mameluken, Nachfahren von Sklaven aus Zentralasien, dem Kaukasus und Südosteuropa, die verschiedenen Sultanen und Kalifen nicht nur in Ägypten, sondern auch im Irak und im späteren Osmanischen Reich als Militärelite dienten. »Wir wurden schon immer von Soldaten und ihren Nachfahren regiert«, kommentiert Pierre lakonisch. Der Schock der Niederlage gegen die Franzosen traf insbesondere die Überzeugung, die islamisch-arabisch-osmanische Zivilisation sei der christlich-europäischen weit überlegen, ins Mark.
Die Notwendigkeit eines raschen Wandels wurde offensichtlich. So startete Muhammad Ali Pascha, der wenige Jahre nach dem Abzug der französischen Truppen Herrscher Ägyptens wurde, ein ambitioniertes Modernisierungsprogramm. Der ursprünglich aus Albanien stammende osmanische Offizier legte den Grundstein des heutigen Zentralstaates.
Unter dem Vorwand der Hochzeit seines Sohnes lud er die in den Provinzen so mächtigen Mameluken in die Zitadelle von Kairo ein und ließ sie dort ermorden. Nach dem Massaker an der alten Militärelite führte er die allgemeine Wehrpflicht ein – die Basis der heutigen ägyptischen Armee. Mit einer aggressiven Expansionspolitik eroberte er in der Folgezeit große Teile der Levante und die heute zwei Sudans. Der Pascha führte eine zentralistische Bürokratie ein und legte das Fundament für eine moderne Industrie und ein modernes Ausbildungssystem, indem er junge begabte Ägypter zum Studium nach Europa, vor allem nach Frankreich, schickte. Viele von ihnen wurden durch den Kontakt mit der europäischen Kultur führende Intellektuelle in Ägypten, aber auch der arabischen Welt und legten den Grundstein für die Nahda, die Renaissance arabischer Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. »Wäre Muhammad Alis Experiment gelungen, dann wäre Ägypten heute ein Teil Europas, aber natürlich war er ein Diktator wie alle anderen nach ihm auch«, merkt Pierre an.
Das älteste Foto Kairos, das mir bekannt ist, zeigt die gewaltigen Steinformationen der Hügel um Kairo, die mächtige Zitadelle mit ihren imposanten, von Sultan Saladin im 12. Jahrhundert gebauten Wehrmauern und Türmen. Dahinter sind Dutzende von hohen Minaretten des historischen Zentrums zu sehen. Kairo war im Mittelalter die größte Stadt der Welt mit prunkvollen Palästen, öffentlichen Bädern, den allerersten Krankenhäusern und der um 970 gegründeten Al-Azhar, eine der ältesten Universitäten überhaupt. Sie hat bis heute als religiöse Autorität einen großen Einfluss auf das Land. Al-Qahira, das arabische Wort für Kairo, bedeutet »die Siegreiche«. Von der durch arabische Invasoren gegründeten Stadt aus beherrschten mächtige Dynastien von Sultanen und Kalifen zeitweise große Teile des Nahen Ostens und Nordafrikas, bis die osmanischen Sultane das Land am Nil 1517 eroberten. Faktisch war Ägypten aber auch unter den Osmanen über lange Zeiträume unabhängig.
Die ersten Postkarten aus Pierres Sammlung stammen aus der Zeit von Muhammad Alis Nachfolger, dem Khediven Ismail. Etwa eine Abbildung der Eröffnung des Suezkanals im Jahre 1869 und des Kairoer Opernhauses, in dem 1871 die spektakuläre Uraufführung von Verdis Oper Aida gefeiert wurde. Ismail selbst ist in westlichen Anzügen oder mit Orden geschmückten Uniformen und dem roten Fes zu sehen, einer leicht kegelförmigen Kopfbedeckung, die in allen formal dem Osmanischen Reich unterstehenden Gebieten als Zeichen der Moderne eingeführt wurde. Der osmanische Vizekönig von Ägypten wollte das Land in rasantem Tempo weiter modernisieren und europäisieren. Dabei verschuldete er jedoch den Staat trotz hoher Einnahmen aus dem Baumwollanbau so stark, dass dies die schleichende Kolonisierung des Landes durch Großbritannien zur Folge hatte, eine europäische Großmacht, die schon lange ein enormes Interesse an dem geostrategisch wichtigen Ägypten und vor allem am Suezkanal hatte, dem kürzesten Seeweg nach Indien – dem Kronjuwel des britischen Kolonialreichs. Trotz teilweise massiven Widerstands der Bevölkerung und der ägyptischen Armee im Jahre 1882, deren Offiziere bereits damals versuchten, gegen das aus Albanien stammende Königshaus zu putschen, wurde Ägypten zum Protektorat Britanniens. Aus dieser Zeit besitzt Pierre Postkarten, die reiche Europäer auf Urlaubsreisen vor pharaonischen Monumenten, den Pyramiden von Gizeh, den Tempeln von Luxor oder den ersten Luxushotels wie dem Old Catarakt in Assuan zeigen. Das Hotel war Inspiration für Agatha Christies Bestseller Tod auf dem Nil. Andere Karten romantisieren glückliche ägyptische Bauern und Bäuerinnen mit Tonkrügen auf den Köpfen vor Palmenhainen am Nil. In Wirklichkeit wurden reiche ausländische Investoren und ägyptische Großgrundbesitzer immer reicher und Ägyptens Bauern, die Fellachen, immer ärmer.
Diese Kluft wurde durch den Ersten Weltkrieg, in dem Großbritannien Zehntausende von Soldaten für den Kampf gegen das Osmanische Reich stationierte, noch größer. Rücksichtslos stellten die Briten die ägyptische Wirtschaft auf eine Kriegswirtschaft um, was zu einer weiteren Verarmung der Bevölkerung führte. Dies verschaffte der nationalistischen Bewegung Ägyptens großen Zulauf. Die Wafd, arabisch für Delegation, wurde gegründet. Gemeint war damit eine nationalistische ägyptische Abordnung zu den Versailler Friedensgesprächen, der aber die Teilnahme verweigert wurde. Trotzdem konnte die Wafd Ägypten letztendlich so stark mobilisieren, dass die Briten 1921 das Land unilateral in die Unabhängigkeit entließen, aber durch eine andauernde Truppenpräsenz und die Kontrolle über den Suezkanal weiterhin starken Einfluss auf die Geschicke des Landes ausüben konnten. Die Wafd, welche damals den ersten Premierminister des unabhängigen Ägyptens stellte, existiert seitdem ununterbrochen – wenn auch zum Teil im Untergrund – als liberale und weltliche Partei.
In der Zwischenkriegszeit blühte der Nationalismus weiter auf. Doch gleichzeitig entwickelte sich in Kairo und Alexandria, der damaligen Sommerkapitale, das sogenannte »kosmopolitische Ägypten«: Armenier, reiche Levantiner, Italiener, Griechen und Franzosen strömten in das Land am Nil. Gute Geschäfte und auch ein freies, ungezügeltes Leben lockten. Die wohlhabenden Einwanderer mischten sich im gesellschaftlichen und kulturellen Leben mit der türkisch-osmanischen und der ägyptischen Oberschicht des Landes.
Pierres Postkarten zeigen die schicke Gesellschaft in den noblen Kaffeehäusern im französischen oder italienischen Stil, aber auch erotisch posierende Frauen in orientalisch-ägyptischer Anmutung. Laut Pierre genoss die Oberschicht ein phantastisches Leben, das jedoch mit der sozialen Realität der übrigen Ägypter nichts gemein hatte. Er selbst ist ein Überbleibsel dieser kosmopolitischen Elite und spricht mit Leichtigkeit und oftmals im gleichen Satz wechselweise Arabisch, Französisch und Englisch. Seine Familie hat ihre Ursprünge im Irak, der Levante und in Griechenland und kam Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer Farbenfabrik, die deutsche Lizenzprodukte herstellte, zu ihrem Vermögen. Ein Vorfahr Pierres soll im Krieg 1871 gegen Frankreich sogar Militärarzt auf deutscher Seite gewesen sein.
In der Periode zwischen den zwei Weltkriegen existierten in Ägypten ein reges Vielparteiensystem und eine lebhafte Presselandschaft. Die tiefgreifenden Probleme des Landes wurden jedoch weitgehend ignoriert: die schon damals phänomenale Korruption der Elite, die Armut der Massen und eine längst überfällige Landreform. Ägypten galt als »das Land der 1000 Familien«, sie besaßen über 90 Prozent des gesamten Grund und Bodens.
1928 gründete der Grundschullehrer Hassan al-Banna, auch als Reaktion auf die Verwestlichung des Landes und die großen sozialen Missstände, in der Stadt Ismāilia am Suezkanal eine Organisation, die wie keine andere nicht nur Ägypten, sondern die gesamte islamische Welt geprägt hat: die Muslim...

Inhaltsverzeichnis

  1. Statt eines Vorworts
  2. Der Tahrir-Platz von oben
  3. »Augen öffnen«
  4. Kampf gegen Mobvergewaltigungen
  5. Held, Opfer und Täter
  6. Gekaufte Wählerstimmen und ein Poet in seiner Gruft
  7. Linguine mit Langusten
  8. Große Konspiration
  9. »Islam ohne Zuckerguss«
  10. Mythos und Misere
  11. Tödliche Spiele
  12. »Hier demonstrieren wir mit der Panzerfaust«
  13. Zurück an den Nil
  14. »Ist das noch mein Land?«
  15. Nachtzug
  16. Dank und Bedauern
  17. Zeitleiste – ausgewählte Eckdaten
  18. Der Autor
  19. Impressum