Geschichte im Text
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Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

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Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

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Wie lässt sich über Geschichte schreiben, wenn diese zuverlässig nicht mehr zur Verfügung steht? Ausgehend von dieser Fragestellung untersucht der Band die Literatur der Gegenwart als jenen Schauplatz, auf dem die Konkurrenz von Fakten und Fiktion im Zeichen historischer Narration sowie im Sinne einer geschichtstheoretisch begründeten "Bruchhaftigkeit der Geschichte" verhandelt wird. Im ersten Teil werden die Signaturen eines seit dem 18. Jahrhundert kontrovers diskutierten Geschichtsbegriffes untersucht, der die Grenze zwischen Fiktion und Historie neu auslotet. Der zweite Teil gilt der Analyse historisch-fiktionaler Texte nach 1989: Diese erzählen nicht einfach von der Geschichte, sondern reflektieren dieses Erzählen bereits. Über traditionelle narratologische Fragen hinaus erfolgt die Textlektüre vor dem Hintergrund jüngster Erkenntnisse der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie, der Psychotraumatologie sowie der Medientheorie.

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1 Geschichte und Gegenwartsliteratur: Eine Einleitung

1995 hält der österreichische Autor Robert Menasse die Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse und verkündet darin programmatisch: »Vielleicht war »Geschichte« der größte historische Irrtum der Menschheit.«1 Menasse beruft sich auf einen Geschichtsbegriff, der am Ende des 20. Jahrhunderts seine Sinnhaftigkeit verloren hat und als vermeintlich falsch verstandenes Modell eines teleologischen Prozesses verantwortlich zeichnet für die »Abfolge von Greuel«, die sich hinter dem Katastrophenjahrhundert verbergen:
»Geschichte« ist so oder so ein sehr zweifelhaftes Konstrukt, die Annahme, daß sie einen immanenten Sinn und ein Ziel hat, ist reiner Glaube, und daß es Techniken gibt, sinnvoll in sie einzugreifen, das ist schon religiöser Irrsinn. Alle großen Menschheitsverbrechen wurden und werden immer von geschichtsbewußten Menschen begangen, immer mit dem Gefühl, »im Auftrag der Geschichte« zu handeln, und dieses Gefühl macht skrupellos. Jede »Lehre aus der Geschichte« ist dürftig und jedes »Geschichtsziel« ist so spekulativ, daß es abenteuerlich ist, damit den Eingriff in eine lebendige Wirklichkeit zu legitimieren. Kein sogenanntes »geschichtsbewußtes Handeln« kann glaubhaft voraussetzen, daß es so logisch funktioniert wie die einfache Abfolge von Saat und Ernte. Wenn es einen ›Misthaufen der Geschichte‹ gibt, dann ist das, was am dringendsten auf diesen Misthaufen gehört, unser Begriff von Geschichte selbst.2
Pointiert fasst Menasse hier die Umstände zusammen, die den Geschichtsbegriff an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zu einem problematischen machen. Zum einen sind spätestens mit der durch den linguistic turn fächerübergreifend postulierten Erkenntnis, dass eine der Sprache vorgängige Geschichte nur schwer zu haben ist, Geschichte und Vergangenheit unsicher geworden und Historiografie und Literatur, Fakten und Fiktion im Zeichen der Narration in ein neues Konkurrenzverhältnis getreten. Zum anderen warnt Menasse gerade angesichts dieses »zweifelhaften Konstrukts«, das sich hinter der Geschichte verberge, vor ihrer Instrumentalisierung: Als Handlungsrichtlinie könne die Geschichte am Ende eines Jahrhunderts, das von Verbrechen im Namen der Geschichte geprägt sei, keineswegs mehr funktionieren, allenfalls als Versuch, »dem Sinnlosen Sinn zu geben«3.
Menasses Plädoyer für eine Loslösung vom Konzept ›Geschichte‹ mithilfe eines auf die Gegenwart ausgerichteten Denkens und Handelns ist keineswegs als bloße Polemik oder gar als Angriff auf das akademische Feld der Historik zu verstehen, sondern führt geradewegs zu deren zentralen Einsichten: Einsichten, wie sie etwa Jörn Rüsen, einer der profiliertesten Geschichtstheoretiker der Gegenwart, in seinem programmatischen Essay Was ist Geschichte? formuliert:
Allerdings stellen die Schreckens- und Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts eine neue Herausforderung an das historische Denken und an einen zukunftsfähigen Geschichtsbegriff: Sie lassen sich nur schwer mit den bisherigen Sinnkonzepten des Historischen vereinbaren und verlangen neue Interpretations- und Darstellungsstrategien. Die Frage nach dem Menschen und seiner ›Natur‹ als Geschichte muß radikal neu gestellt und Sinnlosigkeit selber als Element eines sinnvollen Geschichtskonzepts berücksichtigt werden. Das kann und sollte zu neuen Praktiken des historischen Denkens und der Repräsentation der Vergangenheit führen […].4
Auch Rüsens Historiker-Kollege Lucian Hölscher verabschiedet sich von einer »durchgängigen historischen Kontinuität« der Geschichte und sieht die Zukunft seines Faches dadurch bestimmt, sich »dieser neuen Bruchhaftigkeit« der Geschichte zu stellen.5 Seine 2009 veröffentlichte Aufsatzsammlung mit dem bezeichnenden Titel Semantik der Leere beschließt er mit einem Beitrag zur Hermeneutik des Nichtverstehens, der an Rüsens Plädoyer für die ›Sinnlosigkeit‹ als Element eines gegenwartstauglichen Geschichtskonzepts anknüpft:
Sie [die Geschichtswissenschaft, S.C.] muss sich der Einsicht stellen, dass sich die Ordnungen der Erfahrung in keinem denkbaren epistemologischen Raum mehr zu einem homogenen Ganzen zusammenfügen lassen, dass sie sich überlagern, bruchhaft und einander wechselseitig ausschließend aufeinanderstoßen. Die Geschichtswissenschaft muss sich daher den epistemologischen Brüchen und in ihnen insbesondere den Prozessen des Nichtverstehens als historischen Tatbeständen zuwenden, d.h. eine Hermeneutik des Nichtverstehens entwickeln.6
Rüsen wie Hölscher belassen es keineswegs bei der resignierten Einsicht in ein aus epistemologischer Sicht fragwürdig gewordenes Geschichtsmodell: Vielmehr repräsentieren sie stellvertretend, wie im ersten Teil dieser Untersuchung ausführlich dargestellt wird, das Bemühen der aktuellen geschichtstheoretischen Forschung, an einer Orientierungsfunktion historischen Wissens festzuhalten, ohne die Problematik einer aufgrund konstruktivistischer wie poststrukturalistischer Befunde unsicher gewordenen Geschichte zu verschweigen.
Auch der Autor Robert Menasse beendet seine Rede in Frankfurt nicht, ohne einen Ausweg anzudeuten – allerdings einen, den er ausschließlich im Feld der literarischen Produktion verortet:
Was können wir tun? Was Sie tun können, weiß ich nicht. Sie tun, was Sie können. Was wir Autoren tun können, ist schreiben. Unser Schreiben ist ein lautes Singen in finsteren Wäldern. Dieses Singen soll uns die Angst nehmen, nicht Ihnen. Es sind Poetische Wälder – Gefallen findet, wer sie gefällt.7
Tatsächlich, darin liegt der zentrale Ausgangspunkt der vorliegenden Studie, sind es jene ›poetischen Wälder‹, die den medialen Schauplatz vergegenwärtigen, auf dem die Konkurrenz von Fakten und Fiktionen im Zeichen historischer Narration sowie die von Hölscher skizzierte »Bruchhaftigkeit der Geschichte« verhandelt werden: vorrangig in literarischen Texten, die sich auf vermeintlich historische Fakten zu berufen scheinen.
Das Feld historisch-fiktionaler Literatur ist dabei nicht einfach bestellt: Offenbar machen sich Texte, die über Geschichte schreiben, a priori verdächtig. Dort, wo sie nicht gleich mit dem Eskapismus-Vorwurf konfrontiert werden, wird ihnen die ästhetische Qualität mit Blick auf die hinter historischem Gewand und historischer Kulisse lauernde Kitsch-Gefahr gerne abgesprochen. Dass der Graben zwischen sogenannter E- und U-Literatur auch gegenwärtig ein tiefer ist, lässt sich selten so gut beobachten wie am Beispiel des historischen Romans.
In diesem Kontext repräsentativ ist noch immer Lion Feuchtwangers unmittelbar vor seinem Tod entstandene Verteidigungsschrift Das Haus der Desdemona oder Größe und Grenzen der historischen Dichtung (195658). Diese antizipiert jene Selbsterklärungsversuche, zu denen sich Autoren historischer Dichtung offenbar veranlasst sehen:
Mein Thema ist die historische Dichtung. Ich darf also beiseite lassen die Fülle der Erzählungen geschichtlichen Inhalts, die nur den Zweck verfolgen, dem Leser leichte Unterhaltung und dem Schreiber seinen Unterhalt zu verschaffen. Das sind unter hundert Büchern, die sich als historische Romane bezeichnen, achtundneunzig.8
Feuchtwangers Kritik gilt jenen Vertretern der Gattung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in seinen Augen für ihren Verruf verantwortlich sind durch triviale Texte, die mit der Darstellung einer »billige[n] romantische[n] Handlung« auf bloße Publikumswirksamkeit abzielen.9 Diese Vorbehalte gegen die Gattung haben in der Gegenwartsliteratur an Gewicht nicht verloren, sondern spiegeln sich in eindeutigen Positionierungen von Autoren, die mit dem historischen Roman aufs Schärfste abrechnen und ihre eigenen Texte gerade dort, wo sie explizit von der Historie erzählen, der Gattung mit Nachdruck entziehen. Tatsächlich, auch darauf wird im Verlauf der Untersuchung einzugehen sein, lässt sich ein drastisches Missverhältnis zwischen dem auf poetologischer Ebene vollzogenen Abschied von der Gattung und dem nicht abreißenden Erscheinen eben solcher Texte, die sie fortlaufend konstituieren, beobachten.
Allen Unkenrufen zum Trotz lässt sich die ungebrochene Tradition eines fiktionalen historischen Erzählens, auch jenseits sogenannter Unterhaltungs- und Trivialliteratur, nicht übersehen. Allein der Blick auf die Büchner-Preisträger der letzten Jahre führt die andauernde Relevanz historischer Stoffe unübersehbar vor Augen: Martin Mosebach, der Preisträger des Jahres 2007, feiert 2001 einen Erfolg mit seinem historischen Roman Der Nebelfürst, der im Wilhelminischen Deutschland der Jahrhundertwende spielt. Walter Kappacher wird 2009 nicht nur mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet, sondern veröffentlicht im gleichen Jahr mit Der Fliegenpalast einen von der Literaturkritik enthusiastisch besprochenen historischen Künstlerroman über die Figur Hugo von Hofmannsthal. Reinhard Jirgl, Büchner-Preisträger des Jahres 2010, bereichert das Genre im Jahr 2012 mit seinem am Übergang von Historie in Zeitgeschichte verorteten Familienroman Die Stille. Das literarische Oeuvre Friedrich Christian Delius’, der den Preis im Jahr 2011 erhält, thematisiert mehrfach historische Sujets und Figuren: etwa sein Roman Die Frau, für die ich den Computer erfand (2009) über die historische Figur des Computer-Pioniers Konrad Zuse oder Der Königsmacher (2003), der die Geschichte des 19. sowie das Erzählen dieser Geschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts gleichermaßen behandelt. Die Büchner-Preisträgerin des Jahres 2012, Felicitas Hoppe, veröffentlicht mit Johanna (2006) und Pigafetta (1999) gleich zwei historische Romane und legt mit ihrem Erzählband Verbrecher und Versager (2004) fiktionale »Porträtstudien« historischer Figuren vor.
Dass literarischer Anspruch und Publikumswirksamkeit sich nicht ausschließen, dokumentiert eindrucksvoll der literarische Sensationserfolg des beginnenden Jahrtausends, der ebenfalls auf das Konto des historischen Romans geht: 2005 erscheint Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, der national wie international gefeiert wird und den die New York Times auf ihrer Weltbestsellerliste 2006 an Platz zwei führt.10 Gerade der internationale Literaturbetrieb macht die andauernde Dominanz historisch-fiktionalen Erzählens sichtbar. Die britische Autorin Hilary Mantel wird zweimal mit dem Bookerpreis und damit dem wichtigsten britischen Literaturpreis ausgezeichnet – 2009 für ihren historischen Roman Wolf Hall und drei Jahre später für dessen Fortsetzung Bring up the bodies (2012). »Ein großartiger Triumph des historischen Romans«, kommentiert Andreas Isenschmid die Auszeichnung der Autorin in Die Zeit und Ronald Pohl spricht im Standard gar von einer »glanzvolle[n] Rehabilitierung« der Gattung.11 Radikaler im Sinne einer grundsätzlichen Erneuerung der Gattung bespricht Andreas Kilb Mantels Wolf Hall in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sein Lob der Autorin legt jene Vorbehalte gegen die Gattung offen, von denen sich der Literaturbetrieb (auf Seiten der Autoren wie der Leser) offenbar noch immer beherrscht zeigt. So heißt es bei Kilb über Mantels Roman:
Schon in diesem Anfang wird klar, worin die besondere Qualität von Mantels Roman liegt. Es ist eine Überblendung von objektiver und subjektiver Wahrnehmung, wie es sie im historischen Roman so noch nicht gegeben hat. Seit Walter Scott mit »Ivanhoe« das Genre vor zweihundert Jahren erfand, folgen seine Fiktionen, wenn man von Ausreißern wie Tolstois »Krieg und Frieden« absieht, dem immergleichen stereotypen Muster aus Beschreibung und Wechselrede, Schlachten- oder Boudoirgemälde und drehbuchmäßigem Dialog.12
Die Lobpreisung des Mantel’schen Roman geht in Kilbs Rezension mit einer Abrechnung der Gattung des historischen Romans einher, die sie auf jene Texte reduziert, welche seit jeher das Feld der Unterhaltungsliteratur und den Buchmarkt im erklärten Bemühen dominieren, Geschichte möglichst anschaulich zu vermitteln und in Übereinstimmung mit den historischen Fakten darzustellen, ›wie es wirklich war‹. »Der gewöhnliche historische Roman, wie ihn die Buchhandlungen zwischen ›Krimi‹ und ›Fantasy‹ anbieten«, schlussfolgert Kilb, »ist einerseits unsinnlich, andererseits ungenau: Er verhunzt sowohl die Geschichte als auch die Literatur.«13
Mit dem »gewöhnlichen« historischen Roman bezieht sich Kilb wohl auf jene mittels grell gestalteter Cover angepriesene »Kitschgeschichten aus früheren Zeiten«, die, wie Susanne Beyer in ihrer Standortbestimmung zum Genre anmerkt, »am liebsten bei Raubrittern (weiches Herz unter harter Rüstung) oder testosterongesättigten Piraten« spielen.14 Daniel Fulda hat unlängst eine empirische Studie zum populären Geschichtsroman veröffentlicht, die belegt, da...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Für Nils, Benedikt & ...
  6. 1 Geschichte und Gegenwartsliteratur: Eine Einleitung
  7. I. Teil: Von der Geschichte zum Text
  8. II. Teil: Historisierungsverfahren in der Gegenwartsliteratur
  9. Was bleibt von der Geschichte? Eine Schlussbetrachtung
  10. Siglenverzeichnis
  11. Literaturverzeichnis
  12. Fußnoten