1. Rückblick auf die Arbeit und ihre Teile
Die Einzelinterpretationen des Hauptteils haben versucht, in engem Anschluss an den uns überlieferten Text der Tragödien die einzelnen Chorpassagen nachzuvollziehen, ihre Reflexion im motivisch-thematischen Rahmen des jeweiligen Stücks zu verorten sowie ihre dramaturgische Funktionalisierung zu bestimmen. Die Ausführungen wollten dabei im Besonderen dem Einzelstück gerecht werden und so zum Verständnis der chorischen Technik innerhalb der konkret vorliegenden Tragödie beitragen.
Rückblickend lässt sich dabei festhalten: Das uns erhaltene Werk des Sophokles zeichnet sich durch einen immensen formalen, inhaltlichen und dramaturgischen Reichtum aus. Bereits das durch die sieben erhaltenen Tragödien eröffnete Spektrum dramaturgischer Techniken ist so umfassend, dass eine zwar konzise, allerdings das ganze Werk umfassende Darstellung einzelner Aspekte wie der Chorführung (des Szenenaufbaus, der Prologtechnik, des Umgangs mit Haupt- und Nebenpersonen usw.) kaum möglich zu sein scheint; ebenso schwer ist es, konkrete Leitthemen oder inhaltlich-motivische Grundprobleme anzugeben und dabei allen sieben Einzelstücken mit ihren jeweiligen Helden sowie den in ihnen verhandelten Geschehnissen gerecht zu werden.1 Eine Darstellung, die den Anspruch erhebt, distinkte Aspekte des Gesamtwerks zu beleuchten, muss daher von der genauen Analyse der vorliegenden Stücke ausgehen und sowohl ihr Instrumentarium als auch ihre Kategorien an der Beschäftigung mit den Texten selbst entwickeln. Mit den in der Einleitung allgemein gehaltenen Ausführungen zu Reflexionsstrategien und dramaturgischer Funktionalisierung sowie der Einteilung der Interpretationen nach den drei Rollenidentitäten der Chöre hat die vorliegende Arbeit diese Maßgabe umzusetzen versucht.
Besondere Notwendigkeit für dieses Vorgehen ergab sich aus dem spezifischen Themenkomplex der Arbeit: Das äußerst polymorphe und polyvalente Phänomen „tragischer Chor“ hat nicht nur in den letzten Jahrzehnten bedingt durch den performative turn innerhalb der Klassischen Philologie besondere Aufmerksamkeit erlangt. Mit ihm greifen wir vielmehr ein zentrales Moment einer der wirkmächtigsten Literaturgattungen der Antike, wobei Sophokles darüber hinaus den vielleicht populärsten der drei Tragiker darstellt.2 Dass dabei der Chor ein dem modernen Verständnis von Drama weitgehend fremdes Element, in der attischen Kultur des fünften Jahrhunderts allerdings ein sowohl in der Lebenswelt wie in der Literatur geradezu omnipräsentes Phänomen darstellt, ließ es notwendig erscheinen, den Interpretationen eine ausführlichere Einleitung voranzustellen. In ihr wurde sowohl der Sitz im Leben als auch die spezifische Einbindung des Chors innerhalb der Gattung Tragödie beleuchtet.
2. Allgemeine Gesichtspunkte der sophokleischen Chorführung
Unter allgemeinen Gesichtspunkten ließen sich bei der Betrachtung der einzelnen Tragödien einige formale Gegebenheiten sowie standardisierte Einsatzmöglichkeiten des Formteils „Chor“ beobachten, von denen hier allerdings nur die wichtigsten wiederholt werden sollen. So dient der Chor unabhängig von seiner Rollenidentität bereits durch die im Lauf des Stücks mehr oder weniger regelmäßige Darbietung lyrischer Partien als gliederndes Moment des Einzeldramas. Dabei konnte gezeigt werden, dass sowohl der Häufigkeit, d.h. der Anzahl der reflektierenden Partien,1 als auch ihrer Positionierung im Ablauf des Stücks eine bewusste Entscheidung des Dichters zu Grunde liegt. Gerne lässt Sophokles dabei gerade am Beginn der Stücke, d.h. mit dem Übergang vom Prolog zur Parodos bzw. der Auftrittsszenerie des Chors, emotional völlig konträr bestimmte Partien aufeinanderprallen.
Darüber hinaus kommt es gerade den reflektierenden Partien des Chors mit einiger Regelmäßigkeit zu, hinter- bzw. außerszenische Abläufe in der dramatischen Gegenwart oder der Vorgeschichte darzustellen (Visualisierung/Imagination) und so dem vorderszenischen Geschehen weitere Handlungsebenen einzublenden. Dass damit keine objektive Ausleuchtung bzw. Berichterstattung verbunden war, sondern eine dramaturgisch in je eigener Weise funktionalisierte Ausleuchtung aus der Perspektive des Chors vorlag, wurde ad locum gezeigt.
Fast in allen Tragödien ist es zudem Aufgabe der Chorpartien, die Gestalt des Haupthelden/der Hauptheldin/der Haupthelden auszuleuchten. Dies geschieht in vielfältiger Form: Bald tritt der Chor der entsprechenden Person (den Personen) als emotionaler Resonanzboden oder bewusster Kontrapunkt entgegen, bald bildet der Hauptheld/die Heldin ein bzw. das motivisch-thematische Zentrum der chorischen Reflexion.
Die chorischen Partien dienen des Weiteren oft zur wirkungsvollen Darbietung tragischer Ironie. Voraussetzung dafür ist, dass sich der Rezipient gegenüber dem Chor durch einen spezifischen Wissensvorsprung auszeichnet, der entweder auf generellem mythologischen Vorwissen2 beruhen kann oder durch die im Prolog mitgeteilten Informationen hergestellt wird.3 In solchen Fällen kommt besonders den Fehleinschätzungen, Irrtümern oder unbewusst den eigentlichen Sachverhalt treffenden Aussagen des als dramatis persona das Geschehen beurteilenden Chors die Funktion zu, implizit den Fortgang des Geschehens anzudeuten oder eine Alternative zu entwerfen, die durch den tatsächlichen Fortschritt der Handlung konterkariert wird. Von besonderer Prominenz ist dabei die geradezu typische Konstruktion, dem Eintritt der Katastrophe – konkret: ihrer Einleitung, Aufdeckung bzw. der visuellen Konfrontation mit ihren Folgen – ein hoffnungsvolles oder überschwänglich optimistisches Lied vorzuschalten; das vom Rezipienten rein affirmativ nicht nachzuvollziehende Lied bildet so die Kontrastfolie, auf der sich das verheerende Geschehen umso deutlicher abzeichnen kann.
Im Ganzen konnte dabei gezeigt werden, wie souverän Sophokles über das ihm zu Gebote stehende formale und gattungstechnische Instrumentarium sowohl der Chorlyrik als auch der Tragödie im Ganzen verfügt. Gerade die Einbindung von Anklängen an genuin chorische, zum Teil kultische Formen (Gebets- und Invokationshymnen,4 Epinikien5 u.a.) erwies sich in den jeweiligen Zusammenhängen als dramaturgisch absichtsvoll motiviert und gleichzeitig besonders wirkungsvoll funktionalisiert. Sophokles versteht es dabei, die Konventionen der Gattung Tragödie in besonders wirkungsvoller Weise seiner dramaturgischen Aussageabsicht anzupassen bzw. gegebenenfalls zu überschreiten: Besonderes Augenmerk verdiente dabei der Abtritt des Chors sowie die Inszenierung des Selbstmords des Protagonisten auf offener Bühne im Aias; es konnte dabei konkret gezeigt werden, inwieweit gerade die Chorpartien der solchermaßen zweigeteilten Tragödie trotz des bewussten Bruchs innere Geschlossenheit und Rundung verleihen. Aber auch in weniger drastischen Arrangements zeigte sich die besondere Fertigkeit des Dichters, durch die geschickte Kombination einzelner Formteile zu lyrisch-chorischen Großabschnitten eine besondere dramaturgische Wirkung zu erzielen.6
Als ein die Komposition unseres Autors bestimmendes Prinzip war verschiedentlich die sogenannte chorische bzw. dramaturgische Ökonomie erwähnt worden: Gerade der Verzicht auf die Einschaltung einer chorischen Partie oder die Beteiligung des Chors, wo sie zu erwarten gewesen wäre,7 verleiht der entsprechenden Passage besondere dramaturgische (dabei je im Einzelfall genauer zu bestimmende) Wirkung. Für den Dichter ist die chorische Reflexion so kein dramatisches Dauerphänomen, das bei jeder sich bietenden Gelegenheit zur Vertiefung der Emotionalität oder der Ausdeutung zentraler Momente des Handlungsgeschehens zur Anwendung käme, sondern ein bewusst eingesetztes Instrument, dessen Positionierung wie Wegfall der jeweiligen dramaturgischen Aussage- bzw. Wirkabsicht unterworfen ist.
3. Verhältnis der drei Spektren zueinander: chorisches Koordinatensystem
Dass dabei die einzelnen Chöre hinsichtlich ihrer Rolle im Gefüge der jeweiligen Tragödie fest verankert sind, sich ihre Aussagen und Lieder (zum größten Teil) als Äußerungen einer an der Handlung teilnehmenden Person verstehen lassen und Aristotelesʼ Postulat vom „mitspielenden Chor“ bei Sophokles (vgl. Einleitung) damit zutrifft, musste angesichts der umfangreichen Arbeiten zu dieser Fragestellung nicht im Einzelnen erwiesen werden. Wesentlich interessanter waren die (wenigen) Fälle, in denen die Aussagen des Chors nur mit Mühe aus der jeweiligen Situation unter Einbeziehung des Wissensstands sowie des Charakters des Chors erklärt werden konnten.1 Die vorliegende Arbeit hat dabei (im Anschluss an BURTON) zu erweisen versucht, dass im Zweifelsfall die vom Dichter beabsichtigte dramaturgische Wirkung der Partie bzw. Szene Vorrang vor der konsequenten Zeichnung der Figur des Chors einnimmt.2
Ein herausgehobenes Interesse galt angesichts der drei Gruppen chorischer Rollenidentitäten der Frage, inwieweit zwischen dem vom Dichter dem Chor in souveräner Bestimmung zugedachten Charakter als dramatis persona auf der einen, der konkreten Art der Reflexion sowie der dramaturgischen Funktionalisierung auf der anderen Seite eine Relation besteht. Konkret gefragt: In welchem Verhältnis stehen die drei in der Einleitung umrissenen Spektren zueinander? Die nach den einzelnen Abschnitten des Hauptteils gesetzten Gesamtschauen sind dieser Problematik nachgegangen. Es ließ sich dabei tatsächlich ein gewisser Zusammenhang der drei Spektren in den durch gleiche oder ähnliche chorische Rollenidentität verbundenen Tragödien feststellen.
Ohne die einzelnen Ergebnisse hier in extenso wiederholen zu wollen, soll Folgendes festgehalten werden: Die Chöre wehrfähiger Männer (Philoktet und Aias) spiegeln in herausgehobener Weise den personellen Bezugsrahmen der beiden Soldatenstücke. Ihnen kommt es als im weitesten Sinne dramatisierten Person zu, auf Basis eines rollenimmanenten Abhängigkeitsverhältnisses zu ihrer jeweiligen Bezugsperson innerhalb des Personenspektrums die Aufmerksamkeit auf den Protagonisten (sowie die eigene Lage innerhalb der Handlung) zu bündeln. Die weitestgehend imaginierend-visualisierenden Partien dienen so der Fokussierung auf das zentrale Moment der Handlung selbst; nur in geringen Ansätzen finden sich dabei kontextualisierende Momente, die das Geschehen in einem weiteren Bezugsrahmen verorten oder ausdeuten. Besonders konsequent war in dieser Hinsicht der Chor des Philoktet komponiert, der – im höchsten Maße dramatisiert – das Geschehen, an dem er teilnimmt, keiner umfassenden Deutung unterzieht.
Die beiden Frauenchöre (Trachinierinnen und Elektra) fühlen sich den jeweiligen (weiblichen) Protagonistinnen emotional besonders verbunden und stehen ihnen bald als Resonanzboden, bald als Kontrastfolie ihrer Gefühlswelt gegenüber. Das enge, teilweise geradezu vertraute Verhältnis fußt dabei auf einer besonders weitgreifenden Identifikation des Chors mit der Hauptheldin, ihren Ansichten und grundsätzlichen Zielen. Während dabei in der Elektra Chor und Protagonistin die Erfüllung ihrer Wünsche erleben, kommt es in den Trachinierinnen zum Bruch zwischen den namensgebenden Frauen des Chors und Deianeira. Die chorische Reflexion dient darüber hinaus im Besonderen der Vergegenwärtigung der Bipolarität, die den dargestellten Handlungen eigen ist: In der bald konkret persönlich greifbaren, bald religiös überhöhten, meist imaginierenden bzw. visualisierenden Bezugnahme auf den zweiten Handlungsträger und die mit ihm assoziierten Momente blenden die Chorpartien dabei die zweite Ebene des Geschehens ein. Gerade die Intrigensituation der Elektra lässt den Chor so zum Träger dramatischer Ironie werden, wohingegen in den Trachinierinnen die Imagination der Herakles-Gestalt durch den realen Auftritt des Helden nach dem Eintritt der Katastrophe konterkariert wird. In beiden Tragödien entwerfen die Chöre dabei auf Basis drameninterner Motive und Themen einen größtenteils theologisch-religiösen Deutungsrahmen, in den sie das Geschehen einordnen bzw. überhöhen.
Die Greisenchöre der drei Tragödien, die zentrale Episoden aus dem thebanischen Sagenkreis bzw. dessen Implementierung in eine spezifisch athenische Aitiologie darstellen (Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos, Antigone), eint ihre rollenimmanent starke Identifikation mit dem jeweils (freilich anachronistisch, d.h. aus Sicht des fünften Jahrhunderts) als Polis vorgestellten Handlungsort Theben bzw. Athen. Auf Basis dieser Loyalität zum als Kultgemeinschaft verstandenen Stadtstaat kommen dem Glauben an das Eingreifen der personifizierten (traditionellen) Gottheiten sowie überindividueller allgemeiner, teils abstrakter Prinzipien sowie der hohen Wertschätzung gewisser kultisch-religiöser Momente innerhalb der Geschehens- und Weltdeutung der Greisenchöre besondere Relevanz zu. Ein zentrales Anliegen der Greise ist dabei die (Wieder-)Herstellung einer gestörten kultisch-politischen Ordnung. Darüber hinaus partizipieren die Chöre an einer gemeinschaftlichen, teils konkret politischen, teils allgemein-gnomischen memoria, die das persönliche Erinnerungsvermögen der Greise ergänzt. Angesichts dieser rollenimmanenten Prinzipien nimmt der begrifflich-thematische Zugang über theologische bzw. philosophische Themen eine eminent wichtige Stellung in der Reflexion der Greisenchöre ein. Dramaturgisch dienen die Chorpassagen in herausragender Weise dazu, weite, d.h. die unmittelbare Handlungsebene übersteigende Deutungshorizonte zu eröffnen.3 Entweder wird dabei das dramatische Geschehen durch den Chor explizit in einem derartigen Rahmen verortet und ausgedeutet,4 oder die konkrete Verbindung der Handlung zum aufgeworfenen reflektorischen Bezugssystem wird nur implizit angedeutet.5 In diesem Fall bleibt es angesichts der chorischen Ambiguität dem Rezipienten überlassen, die konkrete Verbindung zwischen Reflexion und Handlung zu finden sowie beides auf Basis seines eigenen Wissensstandes auszudeuten.
Wenn sich auch in der herausgearbeiteten konkreten Verknüpfung der drei Spektren weder ein strenger Formalismus noch eine exklusive Verengung auf den einen oder anderen Extrempol eines Spektrums bezüglich der Reflexionsstrategien oder der dramaturgischen Funktionalisierung greifen lässt, bilden die solchermaßen zusammengefassten Entsprechungen dennoch greifbare Tendenzen. Sie ermöglichen eine Einordnung der erhaltenen Tragödien bzw. Tragödiengruppen innerhalb eines chorischen Koordinatensystems, bei dem die drei Spektren die Achsen bilden. Im solchermaßen eröffneten Raum haben zwei Gruppen den weitesten Abstand voneinander: auf der einen Seite die Greisenchöre, denen – in aller Vereinfachung – die Attribute6 „loyal gegenüber der Polis, bedeutende begrifflich-thematische Reflexion, Kontextualisierung“ zukommen, auf der anderen die der wehrfähigen Männer, deren Präsenz sich mit den Schlagworten „existenzielles Abhängigkeitsverhältnis von der Bezugsperson, imaginierende Reflexion, Fokussierung“ umreißen lässt7. In der Mitte zwischen diesen beiden Gruppen kommen die Frauenchöre zu stehen: Ihre Bindung an nur einen Akteur, die der inneren Logik der bipolaren Handlungen verpflichtete Visualisierungstendenz der Reflexion sowie die auf die Protagonistin fokussierenden Implikationen b...