Ein ungeladener Gast. Text und Identität/Fremde
Yoko Tawada
Gäste aus fernen Ländern werden hierzulande sehr freundlich empfangen. Mit ihnen redet man Englisch, und manche Deutsche machen einen fröhlichen Eindruck, wenn sie Englisch reden dürfen, als könnten sie sich dadurch von Leistungsdruck und Kontrollwahn, die in die deutsche Sprache hineingewachsen sind, befreien.
Ein tschechischer Nachbar meiner japanischen Bekannten in Kalifornien erzählte mir einmal, dass er in Deutschland viel lieber Englisch spreche als Deutsch. Er wird als Gast aus Amerika freundlich behandelt, solange er Englisch spricht. Wechsele er aber zu Deutsch, werde er wegen seines leichten Akzents sofort zur Kategorie Mitteleuropa (was viele Deutsche insgeheim „Osteuropa“ nennen) zugeordnet, und damit verliert er den Status des Gastes, aber er wird auch nicht ins Wohnzimmer der deutschen Sprache eingelassen, obwohl jeder weiß, dass ein wichtiger Teil der deutschsprachigen Literatur an Orten, die heute zu Tschechien, Rumänien oder Polen gehören, entstanden ist.
Der Tscheche aus Kalifornien fragte mich nach meiner Erfahrung in Deutschland. In meinem Fall, musste ich zugeben, ist der „Akzent“ in meinem Gesicht noch größer als der in meiner Aussprache, sodass ich sofort anhand meiner äußeren Erscheinung kategorisiert werde. Dabei spielt es keine Rolle, welche Sprache ich spreche. Ich werde auch freundlich ins familiäre Wohnzimmer eingeladen, weil bei mir nicht die Gefahr besteht, eine innere Fremde zu werden, die man nicht sofort als solche erkennen kann.
Aber es gibt doch Bildungsbürger, die mich mit Bemerkungen wie „Es ist erstaunlich, wie gut Sie Deutsch sprechen!“ so oft unterbrechen, dass ich mich ausgegrenzt fühle und nicht weiterreden kann. Oder sie fragen mich ständig, ob ich dieses und jenes deutsche Wort kennen würde. Die Auswahl dieser Wörter verrät meistens, dass sie sich selber nie mit einer Fremdsprache intensiv beschäftigt haben. Anscheinend ist es für sie unheimlich, dass jemand weder dazugehört noch fremd ist.
Manche glauben, das Erlernen einer Fremdsprache sei Leistungssport, und jeder Muttersprachler könne die Leistung messen. Dabei benutzen sie ihren bürgerlichen Geschmack als Messgerät. Wer den besitzt, kann sofort die genaue Zahl vom Gerät ablesen und sagen, wie gut ein Satz formuliert ist. Der eigene Geschmackssinn kann aber auch zum Verhängnis werden. Es hat lange gedauert, bis ich mich gegenüber meiner Muttersprache Japanisch so weit öffnen konnte, dass ich die Sätze, über die die meisten Japaner stolpern würden, schätzen lernte.
Ernst Jandl war einer, der hemmungslos auf die deutsche Grammatik hämmerte und aus ihr eine Musik machte, eine Art Schlagzeugmusik. Hier ein Beispiel:
schreiben und reden in einen heruntergekommenen sprachen
sein ein demonstrieren, sein ein es zeigen, wie weit es gekommen sein
mit einen solchenen: seinen mistigen
leben er nun nehmen auf den schaufeln von worten
und es demonstrieren als einen den stinkigen haufen denen es seien. es
nicht mehr geben einen beschönigen nichts mehr verstellungen. oder sein
worten, auch stinkigen
auch heruntergekommenen sprachen – worten in jedenen fallen
einen masken vor den wahren gesichten denen zerfressenen
haben den aussatz. das sein ein fragen, einen tötenen.
(Ernst Jandl, von einen sprachen)
Die Muttersprache auseinanderzunehmen und daraus eine neue Baustelle zu machen, ist eine Knochenarbeit. Eine andere, aber genauso spannende Arbeit besteht darin, mit einer Fremdsprache, die mit einer ewigen Baustelle vergleichbar ist, literarisch umzugehen.
Beim Schreiben fallen mir viele Fragen ein, in der die linguistischen Themen poetologische Bedeutung bekommen. Zum Beispiel: Warum gibt es die Singular- und die Pluralform? Warum nimmt man den Unterschied zwischen einem Apfel und zwei Äpfeln so ernst, dass man sogar die Form des Apfels ändern muss, wenn der Unterschied zwischen zwei Äpfeln und drei Äpfeln egal ist? Wie kann man den Sonderstatus der Singularität begründen? Sollte jemand, der nicht monotheistisch eingestellt ist, trotzdem diese grammatikalische Regel akzeptieren? In der russischen Sprache gibt es eine Form zwischen Singular und Plural, die für die Menge zwischen zwei und vier zuständig ist. Das sind die Heiligen, die zwischen dem einen Gott und dem Volk der Pluralität stehen. Als ich in München zum ersten Mal die Begrüßung „Grüß Gott!“ hörte, fragte ich mich spontan: „Welchen Gott soll ich grüßen?“ Es gibt ungefähr acht Milliarden Götter in Japan, aber keinen einzigen Artikel.
All diese Gedanken, die mir einfallen, haben sicher damit zu tun, dass ich Japanisch kann. Aber meine Gedanken kann man nicht ins Asylheim einsperren, das man japanische Herkunft nennt.
Die Kritiker, die glauben, sie könnten wie Schullehrer jeder literarischen Arbeit eine Note geben, können keinen Text unbenotet behalten. Was sie nicht sofort beurteilen können, können sie nicht in ihrem monokulturell sauber aufgeräumten Denkraum dulden. Entweder landet die unbenotete Arbeit im Papierkorb oder sie wird auf einen fernen Ort, auf die „Herkunft“, abgeschoben. Weil sie sich auf ihren bürgerlichen Geschmack blind verlassen, können sie oft das Fremdartige nur als das Minderwertige wahrnehmen. So können sie das Fremdartige entweder als negativ benoten oder auf seine „fremde Herkunft“ verweisen, um es aus der „eigenen“ Gegenwart auszusperren. Die letztere Methode ist sicherer, wenn man auf keinen Fall als fremdenfeindlich, islamfeindlich, antisemitisch oder eurozentristisch gelten will.
Die „Herkunft“ ist die Insel für den Vollstreckungsaufschub. Manche Autoren sind froh darüber, dass sie nicht sofort umgebracht worden sind. Andere sterben in Einsamkeit. Die Verbannungsinsel liegt so weit weg, dass ihre Existenz ohne Probleme vergessen werden kann.
Einmal traf mich der Begriff der Herkunft wie ein Blitz, der die dunkle Verbindung zwischen Celans Zeit und meiner Zeit beleuchtete und mich mit seinem Schlag verletzte. Es passierte in einer Rezension über Paul Celan, die ich in seinem Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann las.
Celan hat der deutschen Sprache gegenüber eine größere Freiheit als die meisten seiner dichtenden Kollegen. Das mag an seiner Herkunft liegen. Der Kommunikationscharakter der Sprache hemmt und belastet ihn weniger als andere. Freilich wird er gerade dadurch oftmals dazu verführt, im Leeren zu agieren.1
Nachdem ich diese Stelle der Rezension einige Male gelesen hatte, waren meine Körperzellen vor Angst und Wut wie gelähmt. Ich war schockiert, weil mir das Ablehnungsmuster vom Kritiker Günter Blöcker bekannt vorkam. Man findet es heutzutage nicht nur in einer offensichtlichen Ablehnung wieder, sondern auch in einer Befürwortung. Ich höre immer wieder, ich würde wegen meiner „Herkunft“ der deutschen Sprache gegenüber eine große „Freiheit“ besitzen und deshalb neue Blicke in die deutsche Kultur „hineinbringen“, so lange, wie ich nicht „im Leeren“ agiere.
Die Dichtung versucht stets, die Sprache von der kommunikativen Kompromissform zu befreien, und die Herkunft der Freiheit befindet sich für jeden dichtenden Kollegen hier und jetzt.
In den fünfziger Jahren bestand für Celan keine konkrete Gefahr, wegen seines Judentums umgebracht zu werden, und die meisten Intellektuellen wollten auf keinen Fall als antisemitisch gelten. Celans Zeitgenossen dachten, dass er in Bezug auf die Rezension überreagiert habe, weil er krank oder, wie man heute gerne sagt, durch seine Vergangenheit „traumatisiert“ war, das heißt, wegen der Vergangenheit sich kein „realistisches“ Bild von der Gegenwart machen könne. Der Gegenwart wird ein realistischer Charakter zugeschrieben, während aus der Vergangenheit ein Fälscher gemacht wird. In Celans Poesie gibt es keine „Vergangenheit“, die vergangen ist, sondern das Gedächtnis, das im Rausch funktioniert.
Celan thematisiert in seinem Brief an die Feuilleton-Redaktion den Begriff der Herkunft, der eigentlich eine „grafische“ (und nicht geografische oder topografische) Umstrukturierung der Gegenwart bedeuten könnte, aber in diesem Fall als Verbannungsort, als Alternative zur Vernichtung angeboten wurde.
Im heutigen Deutschland ist es kein Tabu, ein Tabu zu brechen. Wer das bewusst tut, kann stolz auf sich sein. Ein Provokant bekommt, wenn er Glück hat, eine Kritik zurück, aber sie verletzt ihn nicht. Celan schrieb seine Gedichte nicht als Provokation. Als er abgelehnt wurde, bemerkte er, dass er genau den wunden Punkt derjenigen getroffen hatte, die ihn aggressiv ablehnen mussten. Seinen Kollegen fehlte das Gespür dafür, wie eng und provinziell der Geschmack der Zeit war, nach dem die Literatur beurteilt wurde. Das Wort „Geschmack“ klingt harmlos, ist es aber nicht, denn der Geschmackssinn kann das Leben retten oder vernichten. Wenn ein Körper kein anspruchsvolles Nahrungsmittel akzeptiert, das exotisch, neu, alternativ oder ungewöhnlich schmeckt, kann das eventuell daran liegen, dass er geschwächt oder krank ist.
Celan war ungeschützt und verletzlich, weil er keine Provokation beabsichtigte. Ihm wird der fehlende Kommunikationswille vorgeworfen, was absurd ist, denn er war mehr als kommunikativ: Er hatte sich selbst schonungslos der Sprache gegenüber geöffnet, ohne seine Dichterperson durch ein Manifest zu schützen. Damit hat er auch diese eine Sprache, Deutsch, so weit geöffnet, dass sie aufhörte, eine Sprache zu sein.