1. Kapitel Das Recht im Dienst einer Partei
Seit Menschen in den verschiedensten Formen gesellschaftlicher Organisation miteinander leben, gibt es Verstöße gegen die allgemein akzeptierten Regeln. Betreffen sie den Bereich der juristisch definierten Straftaten, wird dies meist als »Kriminalität« umschrieben.
Über deren Ursachen und Hintergründe streiten die Gelehrten. Herrschafts- und gesellschaftskritische Theorien stehen neben Überlegungen zu biologischen Dispositionen, es gibt Ansichten, die kriminelles Handeln als lustbetonte Aktivität interpretieren, oder solche, die sie in Beziehung zu den verschiedenen Lebensetappen setzen. Andere sehen sie wiederum als Folge von Normbrüchen in der Gesellschaft, Ergebnis negativer Lernprozesse oder sozialer Desorganisation. Ob der Mensch böse oder gut ist, er durch ein Rechtssystem reglementiert werden muss und dieses Recht dann auch noch gerecht ist, wie Rechtsnormen entstehen, aus welchem Grund sie gelten und welche Rolle dabei das Rechtsgefühl spielt – all das ist umstritten. Trotzdem forderte das Leben Lösungen dafür. Sie ließen sich immer dann plausibel finden, wenn ein geschlossenes Weltbild dahinterstand.
War dieses nicht religiös geprägt, bestand ein breiter Konsens stets darin, kriminelles Verhalten in Bezug zu den jeweiligen gesellschaftlichen Zuständen und den sozialen Verhältnissen zu stellen. Die Gedanken dazu entwickelten sich über Jahrhunderte mit dem Streben, zu erkennen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Mit den tiefgreifenden Umwälzungen der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert entstanden neue Denkansätze. Sie reflektierten die krasser gewordenen Gegensätze in der Gesellschaft. Die Frage, wer welches Recht wozu durchsetzen kann, trat in den Mittelpunkt. Die durch die althergebrachte, göttliche Ordnung bestehende Gerechtigkeit aus den Vorstellungen der griechischen Antike stand in Frage. Die strafende und rächende Justitia des christlichen Mittelalters und der Neuzeit war nicht mehr unantastbar.
Einen der modernen Denkansätze formulierte 1845 der damals 27-jährige Karl Marx in seiner ersten gemeinsamen Streitschrift mit Friedrich Engels, 25 Jahre alt, unter dem Titel Die heilige Familie. Die zornigen jungen Männer forderten: »… nicht das Verbrechen am Einzelnen (zu) strafen, sondern die antisozialen Geburtsstätten des Verbrechens (zu) zerstören und jedem den sozialen Raum für seine wesentliche Lebensäußerung (zu) geben.« Engels verkürzte das auf die Formel: »Wir legen die Axt an die Wurzel des Verbrechens.« Das verband sich mit der Hoffnung, in einer »gerechteren Gesellschaft« würde es keine Kriminalität geben. An die Bourgeoisie gewandt, bewerteten sie 1848 im Kommunistischen Manifest deshalb das Recht als Mittel der herrschenden Machtstruktur: »Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist, ein Wille, dessen Inhalt gegeben ist in den materiellen Lebensbedingungen eurer Klasse.« Aus dem damit postulierten »Klassencharakter« jeglichen Rechtes folgte die Annahme, »die Muttermale der alten Gesellschaft« – so Karl Marx – dürften mit einer neuen sozialen Struktur von selbst verschwinden. Diese sollte die bislang Beherrschten zu Herrschenden machen und ihnen das Recht als Machtmittel, nun unter geänderten Vorzeichen als Instrument der »führenden Partei«, erhalten. Das bestimmte den Umgang mit Strafrecht und Kriminalität als Teil der »sozialistischen Revolution«, die sich nur gegen den Widerstand der alten Gesellschaft durchsetzen ließ.
»Schädlinge werden ausgemerzt«
Im Osten Deutschlands kam »der Sozialismus«, ebenso wie in den anderen Staaten Osteuropas, mit dem Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Die dort übliche Betrachtung des Rechtes als »Klassenfrage« und der daraus resultierende Umgang mit der Kriminalität war einer der Grundpfeiler der gesellschaftlichen Veränderungen. Wer an tradierten Rechtsvorstellungen festhielt oder sich den Umwandlungen entgegenstellte, galt schnell als »Schädling«, der »ausgemerzt« werden musste. Das aus der Landwirtschaft stammende Verb, das ursprünglich das Töten jener Schafe betraf, die zur weiteren Zucht der Herde ungeeignet schienen, beschrieb nun einen für »notwendig« erachteten Vorgang.
Angesichts der ungeheuerlichen Verbrechen der Nazis stieß er in Deutschland bei vielen auf Verständnis, denn über die Notwendigkeit eines Neuanfangs bestand in Ost und West Einigkeit. Das nicht nur physisch, sondern auch moralisch zerstörte Land hatte jegliche Maßstäbe verloren. Galten eben noch Kapitalverbrechen wie Mord und Raub als »Heldentaten«, musste nun fast eine ganze Generation zur Normalität zurückfinden. Gleichzeitig war strafwürdiges Verhalten, vom Diebstahl bis zum Schwarzmarktgeschäft, für die meisten Menschen die am ehesten realisierbare Überlebensstrategie. Die Kriminalität explodierte, deren Verfolgung stagnierte. In Art und Dimension glich sie sich in den verschiedenen Besatzungszonen und sank überall erst in den Jahren unmittelbar nach Gründung der deutschen Teilstaaten. Dann entwickelte sie sich entsprechend der unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnisse.
In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurde dazu mit Hilfe der Besatzungsmacht der radikale Ansatz einer Justizreform gewählt. Neben der Aufhebung der Gewaltenteilung ging es um ein »neues« Recht und ein »neues« Rechtsbewusstsein.
Dazu bedurfte es zunächst einmal neuen Personals. Im Osten waren bereits auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) vom September 1945 sämtliche NSDAP-nahen Justizbedienstete entlassen worden. In den ab 1946 für die Ausbildung neuer Richter eröffneten Volksrichterschulen und den Zentralen Richterschulen der ostdeutschen Justizverwaltung auf Länderebene wurden in Lehrgängen von sechs Monaten, deren Dauer dann auf zwei Jahre anwuchs, neue Richter herangebildet. Das wichtigste Kriterium ihrer Auswahl war die Bereitschaft, das Recht künftig zur Herrschaftssicherung der Partei anzuwenden. Parallel dazu etablierte sich erneut die Ausbildung von Juristen an den Hochschulen. Als in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre die Transformation der Juristischen Fakultäten im Sinne der Politik der SED abgeschlossen war, lieferten auch sie wieder Nachwuchs bei Richtern und Staatsanwälten. Damit galt das Volksrichterprogramm als abgeschlossen.
Die neue Funktion des Rechtes war derweil gesetzlich festgeschrieben. In den folgenden Jahren wurde sie in Etappen dem von der SED festgelegten, jeweiligen »Entwicklungsstand« der Gesellschaft angepasst. So bestimmte das erste Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) der DDR vom 2. Oktober 1952: »Die Rechtsprechung der Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik dient dem Aufbau des Sozialismus, der Einheit Deutschlands und dem Frieden …« In der Neufassung vom 17. April 1963 stand dann die »Lösung der politischen, ökonomischen und kulturellen Aufgaben des Arbeiter-und-Bauern-Staates beim umfassenden Aufbau des Sozialismus« im Vordergrund. Ab dem 27. September 1974 forderte das GVG: »Die Rechtsprechung und die damit verbundene Tätigkeit der Gerichte haben zur Lösung der Aufgaben der sozialistischen Staatsmacht bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft beizutragen …«
Mit einem Verfassungsänderungsgesetz vom 5. Juli 1990 schafften die Volksvertreter der DDR diese Funktion des Rechtes ab. Damit war die mit der Justizreform eingeleitete Geschichte einer eigenen Rechtsprechung der DDR noch vor deren Auflösung als Staat beendet.
Bis dahin konnte im DDR-Recht alles kriminalisiert werden, was der von der SED vorgegebenen »politischen Linie« widersprach. Das war beileibe keine Geheimpolitik. Schon vor Gründung der DDR erklärte Rolf Helm, damals Generalstaatsanwalt des Landes Sachsen und später Direktor der Zentralen Richterschule in Potsdam-Babelsberg, in der Sächsischen Zeitung vom 12. Dezember 1947: »Ich werde als Generalstaatsanwalt alle mir zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um auf dem Boden der geschaffenen realen Demokratie die dunklen Kräfte der Reaktion, die faschistischen Elemente, die Saboteure des Aufbaus, die verbrecherischen Volksfeinde zu verfolgen und die Mehrheit, die Demokraten und Sozialisten, vor einer Minderheit politischer Wühler und Kapitalhöriger, Wucherer und Schieber zu schützen.«
Nur wenige Monate nach Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurde damit mit grausamer Härte angefangen.
Die »Zeugen Jehovas« als erste Sündenböcke
Nachdem im April 1950 mit dem Prozess im Stadttheater Dessau gegen neun Führungskräfte der Deutschen Continental-Gas-Gesellschaft (DCGG) die Geschichte der »Ersten Instanz« am Obersten Gericht der DDR begonnen hatte und die Vorbereitung weiterer Wirtschaftsprozesse auf Hochtouren lief, schien es nun nötig, das »neue Recht« auch politisch anzuwenden.
Fand das Vorgehen gegen die großen Konzerne, deren Mitschuld am Krieg für viele außer Zweifel stand, breite Akzeptanz, sah es bei rein politischen Vorwürfen anders aus.
Vor der ersten Wahl in der DDR am 15. Oktober 1950, bei der es nur noch »Einheitslisten« zu bestätigen gab, protestierte der 18-jährige Schüler Hermann Joseph Flade aus Olbernhau im Erzgebirge mit rund 200 Flugblättern, die er mit einem Kinderdruckkasten fabriziert hatte. Als ihn eine VP-Streife beim Verteilen erwischte, stach er einem Polizisten eine nur wenige Zentimeter lange Klinge eines Taschenmessers in den Rücken. Daraus konstruierte der Staatsanwalt einen Mordanschlag, ein Exempel sollte statuiert werden. Im Saal der Gaststätte Tivoli fand ein Schauprozess statt, zu dem rund 1.200 Zuschauer aus den vorwiegend noch privaten Betrieben der Region entsandt wurden. Flade begriff offenbar überhaupt nicht den Ernst seiner Lage. Als Motiv gab er vor Gericht an: »Ich sagte mir, bei einer Wahl müsste auch eine andere Stimme gehört werden, da ich das nicht offen machen konnte, weil ich sonst von der Schule fliegen würde, musste ich das nachts im Geheimen tun.« Auftragsgemäß verurteilte das Gericht den Schüler am 10. Januar 1951 zum Tod unter dem Fallbeil.
Nun brach in ganz Deutschland ein Sturm der Entrüstung los. Flugblätter kursierten, an Hauswänden tauchten über Nacht Inschriften auf. Die noch nicht allzu fest im Sattel sitzende Staatsmacht reagierte. In der zweiten Instanz wandelte das Gericht das Todesurteil in fünfzehn Jahre Zuchthaus um. Hermann Joseph Flade verbüßte davon zwei Drittel in Bautzen, Torgau und Waldheim. 1960 wurde er amnestiert und ging in den Westen. 1980 starb er mit 48 Jahren an den Folgen der Haft.
Angesichts dieser und ähnlicher Erfahrungen konzentrierten sich nun die Bemühungen, den absoluten Machtanspruch der SED mit Hilfe der politischen Justiz zu demonstrieren, auf eine Gruppe von Leuten mit Westkontakten, die ohne besondere Ermittlungserfolge greifbar war, Überraschungen ausschloss und sich gegen den Inhalt jedweder Vorwürfe aus ihrem Selbstverständnis heraus kaum wehren würde.
Sie fand sich in den »Zeugen Jehovas« (Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania – Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft). Die »Zeugen Jehovas« erhielten in Deutschland 1921 die offizielle Rechtsfähigkeit und wurden ab 1922 als »gemeinnützig« anerkannt. Ein Jahr später errichteten sie ihr Büro in Magdeburg, 1926 wurde die »Internationale Bibelforscher-Vereinigung Deutscher Zweig« im Vereinsregister des dortigen Amtsgerichts eingetragen.
Wegen ihrer Totalverweigerung des Wehrdienstes und der Ablehnung des Führerkultes verboten die Nazis die »Zeugen Jehovas« und verfolgten die »Bibelforscher«. Da sich viele von ihnen weiter aktiv missionarisch und antimilitaristisch betätigten, folgten Strafen wegen »Wehrkraftzersetzung«. Die Krankenschwester Helene Gotthold aus Herne wurde Ende 1944 in Berlin-Plötzensee enthauptet.
Nach dem Krieg sah man die »Zeugen Jehovas« wegen des erlittenen Unrechts zunächst als NS-Opfer in der Sowjetischen Besatzungszone und erlaubte ihre »gottesdienstliche Betätigung«. Zusätzlich zu ihrem Büro in Magdeburg eröffneten die »Zeugen Jehovas« 1946 eine Zweigstelle in der amerikanischen Zone in Wiesbaden-Dotzheim.
Bereits vor Gründung der DDR geriet die Vereinigung in den Verdacht, Spionage zu betreiben. Ihre Mitglieder fertigten sogenannte »Gebietskarten« an, die Informationen über politische Entwicklungen, Adressen und besondere Vorkommnisse enthielten, und leiteten diese an ihre Zentrale in den USA weiter.
Walter Ulbricht entwickelte am 13. September 1949 ein Zehn-Punkte-Programm gegen die Aktivitäten der Gruppe. Innenminister Karl Steinhoff (SED) verbot die »Zeugen Jehovas«. Am 3. und 4. Oktober 1950 fand ein erster großer Schauprozess gegen sie statt.
Angeklagt waren neun führende Funktionäre des Vereins, darunter der hauptamtliche »Kreisdiener« für Westmecklenburg, Lothar W., und der Leiter der juristischen Abteilung der Wachtturmgesellschaft, Willi H., aus Magdeburg.
Den Kern der Anklage vor dem Obersten Gericht unter Leitung der späteren Justizministerin Hilde Benjamin (SED) bildete der Absatz 2 des Artikels 6 der DDR-Verfassung: »Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen …« Die Verfassung sagte, dass »Boykotthetze« ein Verbrechen sei, aber niemand wusste, worin es bestand und was sich dahinter verbarg. Im Prozess gegen die »Zeugen Jehovas« lieferte nun Hilde Benjamin eine folgenschwere Interpretation des Verfassungsartikels: »Artikel 6 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik ist ein unmittelbar anzuwendendes Strafgesetz. Die in ihm aufgezählten Handlungen stellen keine einzelnen Tatbestände, sondern Begehungsformen eines Tatbestandes dar.«
Mit dieser Formulierung war der Bruch zu den bisherigen, rechtsstaatlichen Auffassungen vollzogen. Der frühere Oberrichter am Obersten Gericht, Rudi Beckert, bewertete das so: »Das OG hat in seinen Urteilen Handlungen für strafbar erklärt, die in keinem Gesetz standen. Das traf vor allem auf den Verfassungsbegriff ›Boykotthetze‹ zu. Sie sollte alles erfassen, was die Grundlagen des Staates angreift, gefährdet oder zerstört … Wer also gegen den Staat auftrat, verletzte dessen Verfassung und konnte sich nicht darauf berufen, demokratische Rechte ausgeübt zu haben. Der Kreis war geschlossen; es war ein Teufelskreis.«
Die neun Angeklagten wurden wegen Verstoßes gegen Artikel 6 der Verfassung zu zweimal lebenslänglicher Strafe, dreimal fünfzehn Jahre, einmal zwölf Jahre, zweimal zehn Jahre und einmal acht Jahre Haft verurteilt.
Nach diesem »Pilotprozess« erhielten 21 weitere »Zeugen Jehovas« am 5. November 1950 vom Landgericht Dresden Haftstrafen von lebenslänglich (drei), zwölf Jahren (zwei), zehn Jahren (sieben), acht Jahren (vier), sieben Jahren (ein), fünf Jahren (zwei) und drei Jahren (zwei) wegen Spionage. Das Landgericht Magdeburg verurteilte am 18. Dezember 1950 sieben Mitglieder der ...