Zwei Winter
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Zwei Winter

Erzählung

  1. 160 Seiten
  2. German
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Zwei Winter

Erzählung

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Über dieses Buch

Sie waren alle erst seit acht Wochen Soldat, waren durch den Oktober und November gekrochen und gelaufen, hatten gelernt, das Gewehr mit verbundenen Augen auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Es war die letzte Novembernacht vor dem 1. Advent und niemand hatte verstanden, warum gerade sie die Standortwache übernehmen mussten... Gropius leistet in den 60er-Jahren seinen Wehrdienst ab. Er passt nicht ins Bild, das man sich von Soldaten macht, ist kein stumpfer Befehlsempfänger, der nichts hinterfragt. Ihm kommt es nicht in den Sinn, seine Zeit einfach abzureißen oder sogar zu verlängern, um einige Jahre gut versorgt zu sein und dabei eine ruhige Kugel zu schieben.In Gesprächen mit den Kameraden, bei Gefechtslärm im Manöver, bei der Verkostung des Erdbeerkompotts der Frau des Unteroffiziers betrachtet er sich und die Welt und zieht seine persönlichen Schlüsse. Die Reflektionen, Situationsschilderungen und Dialoge übermitteln subtile Eindrücke aus dem militärischen Leben. Manche der aufgeworfenen Fragen reichen in die Jetztzeit hinein und berühren die Diskussion um die Abschaffung der Wehrpflicht.

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Information

Jahr
2012
ISBN
9783864559686
Die Wände der Standortwache in Osterode hatten eine blassgraue Farbe, die Heizkörper unter den Fenstern waren klein, in einem kranken Elfenbein gestrichen und verströmten eine ungewöhnliche Hitze, welche die Luft so trocken machte, dass sie den acht Soldaten, die an dem Holztisch in der Mitte saßen, staubig vorkam.
Es war kurz vor 18 Uhr, draußen war es schon vollkommen dunkel, und durch die Fenster sahen sie im bläulichen Neonlicht einer Bogenlampe am Tor, dass es leise regnete.
Sie waren alle erst sei acht Wochen Soldat, waren durch den Oktober und November gekrochen und gelaufen, hatten gelernt das Gewehr mit verbundenen Augen auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Es war die letzte Novembernacht vor dem ersten Advent und niemand hatte verstanden, warum gerade sie, noch einen Monat vor dem Ende der Grundausbildung, die Standortwache übernehmen mussten: Im Schilderhäuschen vor dem Tor zu stehen, Ausweise zu kontrollieren oder Vorgesetzte zu grüßen, vor allem bei der Ablösung die richtigen Schritte zu machen und dazu den richtigen Text zu murmeln, hatte in ihnen das Gefühl entstehen lassen, vor einer sinnlosen Aufgabe zu stehen, aber auch gleichzeitig vor einer seltsamen Bewährungsprobe.
Sie zu definieren, hätte niemand vermocht. Vermutlich bestand sie aus der Angst, in den zwei Stunden der Torwache jemandem zu begegnen, der das Recht gehabt hätte, auf den Sitz der Krawatte oder die geputzten Stiefel zu achten, ohne dass man in der demütigenden Grundstellung Gelegenheit gehabt hätte, irgendetwas Rechtfertigendes zu äußern; unter dem Verzicht auf Körpersprache nicht die Hände heben zu dürfen; der Frage nachzugehen, wie man bei der Kälte an sein Taschentuch käme. Durfte man sich überhaupt schnäuzen? Vor dem Grüßen – während des Grüßens? Durfte man das Gewehr, das mit scharfer Munition geladen war, vorher oder währenddessen von der Schulter nehmen und für einen Moment, einen kleinen Moment in die Ecke des Häuschens stellen, um Entschuldigung bitten, sich mit dem Taschentuch mit beiden Händen schnäuzen, oder müsste man die Nase tropfen lassen?
Harmonierte das mit der Grundstellung, von der ihnen eingebläut war, dass sie heilig sei, so heilig, dass ein zwischen die Arschbacken gepresstes Fünfmarkstück seine Prägung verlöre? War diese brutale Metapher komisch oder sollte sie komisch sein?
Sie hatte an jenem letzten Novemberabend 1966 jede Bedeutung verloren und war eingegangen in ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit, das den Kopf und die körperliche Haltung dessen überwältigt hatte, der nun als erster um achtzehn Uhr den ersten Wachwechsel seines Lebens absolvieren sollte. Den in der Wachstube Verbleibenden wurde eine irrationale Erleichterung zuteil; sie hatten in den letzten Sekunden vor seinem Wegtreten dem ersten Opfer noch auf die Schulter geklopft und dabei »viel Vergnügen« gesagt. Durch die für einen Moment geöffnete Tür war feuchte, kalte Luft geweht, die sich mit der trocken-staubigen Luft vermischte und die Zurückbleibenden für einen Moment frösteln ließ.
Eine gewisse Ruhe war über die am Holztisch Sitzenden gekommen und führte dazu, dass erst Einer, dann ein Zweiter und ein Dritter entspannte Gesichtszüge ausdrückte, bis schließlich ein Vierter ein Gespräch mit den Worten einzuleiten versuchte: »Wir sind doch alles Idioten.« Auch wenn die anderen die Vieldeutigkeit dieser Worte nicht hätten erklären können, fingen sie an zu grinsen und nickten, bis auf Ludger Gropius, der die zweite Wache um zwanzig Uhr übernehmen musste.
Währenddessen war die Temperatur draußen etwas gesunken und Gropius glaubte als erster ein paar Schneeflocken erkannt zu haben, die sich in den Regen mischten.
Der Abzulösende hatte in den ersten zwei Stunden seiner kalten Wache scharfe Gesichtszüge bekommen und innerhalb des knappen Quadratmeters seiner Standfläche des öfteren schon seine Position im kleinsten zu verändern versucht, um dem kalten Wind, der inzwischen schräg von der linken Seite her an dem Häuschen vorbei pfiff, nicht immer die linke Gesichtshälfte in demselben Winkel darbieten zu müssen. Außerdem hatte er gemerkt, dass ein leichtes Vorbeugen des gesamten Oberkörpers seine Absätze spürbar entlastete, und er probierte öfter, wie weit er sich vorbeugen konnte, ohne das Gewehr auf seiner rechten Schulter ausbalancieren zu müssen.
Doch bei allen Versuchen, seine Stellung von rechts nach links und wieder zurück zu variieren, gelang es ihm nicht, die langsam emporkriechende Kälte zurückzuweisen; von außen betrachtet schien sie schon an seiner Kinnspitze angekommen zu sein, er jedoch war des Glaubens, sie von den Knien abwärts zurückgedrängt zu haben.
Da auch er von dem Gefühl der heiligen Grundstellung durchdrungen war, hatte er sich erst nach langer Zeit des Abwartens und des Nachdenkens darüber, in Wahrheit erst zehn Minuten vor dem Ablaufen seiner Wachzeit, dazu entschlossen, auf seine Armbanduhr zu sehen und dann gefangen in der Dunkelheit des Häuschens auf den Leuchtziffern zu erkennen, dass es tatsächlich nur noch knapp zehn Minuten bis zu seiner Ablösung waren. Er meinte auch, aus dem rechten, inzwischen leicht vertränten Augenwinkel heraus an der Widerspiegelung des Lichtscheins, der aus dem Wachhaus auf den nassen Asphalt fiel, auf menschliche Bewegungen im Inneren der Wache schließen zu können. Das erfüllte ihn mit einer bis dahin kaum vorstellbaren Vorfreude auf einen warmen Fußboden und einen heißen Kaffee, von dem er hoffte, dass ihn die Kameraden schon bereitgestellt hätten.
Der wachhabende Offizier war an jenem trüben November-wochenende ein Fähnrich namens Schulz, dessen Ehrgeiz es möglicherweise zu verdanken war, dass es überhaupt zu dieser ungewöhnlichen Situation einer Standortwache gekommen war, die, vollkommen unüblich, von Rekruten innerhalb ihrer Grundausbildung geleistet werden musste.
Dieser Mann hatte, ohne es zu ahnen, das Maß an Antipathie gegenüber der militärischen Ordnung, welche in diesen bisherigen acht Wochen von den meisten empfunden wurde, alptraumartig verstärkt.
Sei es, dass er sein Schiffchen in der gleichen Weise bis auf die Nase heruntergezogen trug wie der verhasste Zugführer Leutnant Heizmann. Sein Armschlenkern – während er beim Exerzieren neben der Truppe in selbem Schritt marschierte – war wie das Schaufeln von Luft nach hinten, auf eine eigenartige Weise raumgreifend, als wolle er schneller voran als die nebeneinander im Gleichschritt laufenden Soldaten. Dabei konnte er Kommandos in der heiseren Tonlage eines Schäferhundes bellen, der in einer einsamen Gartenanlage den Zaum bewachen muss. Man spürte, dass er vorhatte möglichst schnell Leutnant zu werden und mit Hilfe der ihm anvertrauten Rekruten seine Karriere zu beschleunigen. Demgemäß herrschte eine bedrückende Stille, als Schulz den Wachraum betrat und an Gropius gewendet sagte: »Übrigens Gropius – Sie machen die Wache von zwanzig bis dreiundzwanzig Uhr, es geht nicht anders, einer ist ausgefallen.« Wer ausgefallen war, wusste niemand, es gab auch keine weiteren Erklärungen und auch keine Zeit dafür, denn es war drei Minuten vor acht und Gropius hatte sich schon erhoben und den langen Mantel angezogen, dessen Schnitt an die Wehrmachtsmäntel erinnerte, die in Dokumentarfilmen über den Russlandfeldzug zu sehen waren. Darin hält das Koppel den Mantel im Wesentlichen zusammen, ein heulender Schneesturm zerrt am hochgestellten Kragen, darüber die schmalen Gesichter unter dem berüchtigten Helm mit dem breiten Rand. Solche Mäntel hatten sie auch.
Gropius erinnerte sich mit Schaudern an jene Bilder, aber er schien den Wachwechsel am Tor mit einer Routine zu absolvieren, als hätte er die Schritte schon viele Male geübt, den Text viele Male gesprochen.
Vielleicht war es auch eine Art Vorfreude auf drei Stunden kommandierte Einsamkeit, ein Sichaustestenkönnen in der vorgegebenen Zeit. »Sind drei Stunden Einsamkeit nicht besser als zwei?« Er rechnete, dass von den 180 Minuten schon mindestens vier bis sechs vergangen sein mussten und verglich die empfundene Zeit mit dem Schmelzen einer Schneeflocke auf seiner Stiefelspitze. Vier bis sechs Minuten mussten schon vergangen sein, waren unwiederbringlich vergangen wie eine Schneeflocke. Metaphern sollten weder pathetisch noch kitschig sein, korrigierte sein Gefühl die plötzliche Trauer über die Vergänglichkeit der letzten vier bis sechs Minuten. Aber das sprachliche Bild war doch weder kitschig noch pathetisch. Es sollte nur zum Ausdruck bringen, dass die Zeit wie diese Schneeflocke vergangen war. Er spürte in dieser Aussage eine sprachlich kränkelnde Wiederholung eines Gedankens und kam auf die Idee, dass gerade in der Wiederholung eines erlebten Vorgangs im besten Sinne des Wortes wieder-holen eine Möglichkeit läge, sich das Schöne und Angenehme wiederzuholen.
Man brauchte also nur etwas zu wiederholen, dann wäre es wieder da. Aber sollte man etwas wiederholen, damit es wieder da wäre? Es konnte doch nicht wirklich da sein und sich aus einer vollendeten Vergangenheit in die Gegenwart verwandeln. Und wenn es das wirklich gäbe, wäre es doch etwas ganz Neues und nicht etwas, das man sich wiedergeholt hätte. Die Verwandlung der Schneeflocke ließe sich auch nicht wiederholen; sie hätte einen anderen Aggregatzustand erreicht und wäre zu Wasser geworden; das allerdings könnte wiederum gasförmig werden, dann kondensieren und wieder zu Schnee werden. Das aber, sagte sich Gropius, wäre keine Wiederholung, sondern ein Kreislauf. Der Unterschied zwischen Kreislauf und Wiederholung ist nicht erschöpfend zu behandeln, sagte er sich und fühlte seine Denkschwäche wie den Stahlhelm auf seinem Kopf.
In der Wachstube waren die Soldaten auf eine andere Weise mit sich und der Zeit beschäftigt: Sie hatten auf dem Tisch eine Pistole auseinandergenommen und setzten sie so schnell sie konnten wieder zusammen. Einer nach dem anderen kam an die Reihe. Sie schrieben die Zeit auf, die sie dafür brauchten und ermittelten auf diese Weise einen Gewinner. So die Zeit totzuschlagen erschien ihnen naheliegend, zumal man sich dabei gedanklich nicht anstrengen musste.
Fähnrich Schulz, der mit seinen etwas zu langen Armen nach dem Rechten sah, war hereingekommen und konnte sein Interesse an dem Spiel der Rekruten hinter einem angewiderten und arroganten Gesichtsausdruck verbergen. Jene Züge hatte er perfekt von seinem Vorgesetzten übernommen, allerdings sah er ohne sein Schiffchen auf dem Kopf wesentlich jünger aus. Auch fehlte ihm dessen leicht versoffener Unterton in der Stimme, als er sagte: »Macht bloß keine Scheiß mit den Dingern.« Diese Bemerkung, die im Angesicht der auseinandergenommenen Pistolen auch einem besorgten Zivilisten über die Lippen hätte kommen können, empfanden die Rekruten als ungewohnt unmilitärisch, ja fast kameradschaftlich, drehten sich nach ihm um, wunderten sich tatsächlich über einen jugendlichen Ausdruck und waren zufrieden, auf diese Art und Weise Zustimmung zu erhalten. Auch für den Fähnrich schien seine Aufgabe als Wachhabender neu zu sein, denn er blickte etwas sorgenvoll aus dem Fenster. Offenbar hatte er Angst, es könnte ein Vorgesetzter draußen am Fenster vorbeigehen und in der erleuchteten Wachstube die mit Pistolen spielenden Soldaten wahrnehmen. Da er aber den kleinen Augenblick an Sympathie, den er bei den Soldaten erreicht und empfunden hatte, nicht vergeuden wollte, tat er so, als gäbe es wichtigeres, zog sein Schiffchen auf die Nase und ging.
Gropius konzentrierte sich auf seine rechte Schulter, auf welcher der Gewehrriemen gleichmäßig nach unten zog.
In den Häusern längs der Straße vor der Kaserne und weiter unten in der Stadt sah man Lichter an- und wieder ausgehen, ein alter VW heulte im zweiten Gang die Straße hoch. Weit weg knallte ein blechernes Garagentor ins Schloss; auf der Straße ging niemand. Gropius hatte sich schon nach den ersten zehn Minuten soweit es ging in das Innere des Häuschens gestellt, denn der Wind hatte gedreht und kam nun schräg von vorne, so dass immer häufiger eine Schneeflocke seine Fußspitze erreichte. Er hatte keine Lust mehr, über die Vergänglichkeit der Zeit nachzudenken, sondern überlegte, ob er die Plane über seinem Motorrad, einer alten Horex mit Seitenwagen, richtig festgemacht hatte. Die Maschine stand draußen vor dem Tor, etwa fünfzig Meter von ihm entfernt, aber sie war doch in seiner augenblicklichen Lage unerreichbar weit weg.
Wer mochte auf die Idee gekommen sein, ausgerechnet in dieser Stadt eine Straße mit dem Namen »Freiheit« auszuzeichnen. Er erinnerte sich, dass er am Tage seiner Ankunft eine Straße hochgefahren war, die sich Freiheit nannte, vielleicht hatte da jemand vorhin das Garagentor zugemacht – auch möglich, dass das mehr in seiner Nähe geschehen war. Vielleicht gehörte die Garage zu dem alten VW, der vorhin vor der Kaserne vermutlich im zweiten Gang gefahren war. Gropius konnte sich nicht genau erinnern, ob der VW vor oder nach dem Garagentorknall vorbeigefahren war.
»Wozu das Gewehr?«, frage er sich. »Wenn man damit auf einhundert Meter einwandfrei treffen kann, wie weit mag es überhaupt schießen? Vielleicht zwei Kilometer? Er beschloss, sobald als möglich jemanden danach zu fragen. »Wenn hier nun ein Schuss losgehen würde, ginge er durch die Decke; irgendwo fiele das Geschoss wieder herunter, vielleicht direkt neben seine Horex oder vielleicht sogar auf den Seitenwagen. Am Ende der Wache müssten sie alle ausgegebenen Patronen wieder zurückgeben, darüber wurde Buch geführt. Zwanzig Schuss passten in ein Magazin, nun waren aber nur drei drin. Kein Vertrauen und keine Freiheit, sagte er sich.
Von der hinteren Straßenseite hörte er Männerstimmen, die näher kamen. Es mussten drei oder vier sein, die sich während des Gehens laut unterhielten und auch dabei lachten. Dann bogen sie rechts um die Ecke und standen eigentlich ganz unterwartet vor dem Wachhäuschen. Während sie sich weiter unterhielten, hatten sie schnell ihre Ausweise gefunden, Gropius gelangweilt hingehalten, der in der Dunkelheit kaum etwas erkennen konnte und auch nichts erkennen wollte – und gingen weiter. Sie waren in Zivil. Der letzte der Vier hatte beim Ausweissuchen etwas mehr Zeit gebraucht, war Gropius dabei sehr nah gekommen und hatte mit dem Wort »Scheißwetter heute« eine stark riechende Schnapsfahne entweichen lassen, die durch den schräg einfallenden Wind an Gropius vorbei ins Innere des Häuschens flog, wo sie sich nach zwei oder drei Sekunden verflüchtigte.
Gropius war sich in dieser Sekunde trotz seiner Bewaffnung wehrlos vorgekommen und überlegte, was denn zu tun sei, wenn sich jemand weigerte, womöglich noch ein Besoffener, seinen Ausweis zu zeigen. Wie sollte man sich verhalten, wenn man angepöbelt würde. Da ein Warnschuss nicht infrage käme, müsste man das Gewehr in die Ecke stellen und dem Anpöbler eins in die Schnauze hauen. Schließlich handelte es sich hier ja um eine reine Männergesellschaft. Aber mit dem zugeknöpften schweren Mantel wäre man nicht so beweglich wie der andere in seinem Parker. Wie sähe es aus, wenn man in diesem Mantel dem anderen hinterherrennen und dabei mehrfach brüllen würde: »Bleib Stehen!« Womöglich hätte in dieser Zeit ein anderer, ein mit dem Flüchtling Befreundeter, auch in Zivil gekleideter Kamerad sich des Gewehres angenommen, einen Warnschuss in Richtung Osterode abgegeben und wäre dann unerkannt abgehauen. Gropius hätte umkehren müssen, hinein in sein Wachhäuschen, ringsumher wären in den Kompanien die Fenster aufgegangen und er hätte die Frage, wer da geschossen hätte, wahrheitsgemäß beantworten müssen.
»Alles Unsinn«, sagte sich Gropius und setzte seinen rechten Fuß etwas weiter als in der Rührt-Euch-Stellung üblich nach vorne. Der Stiefel drückte über dem Spann, außerdem fühlte er deutlich, wie die Sohlen kalt wurden. Der Kinnriemen des Stahlhelms fühlte sich gleichzeitig ebenfalls kalt an und kratzte unter dem rasierten Kinn. Er lockerte ihn ein wenig an der Gurtschnalle. Nun hing er unter dem Kinn einige Millimeter durch, wurde aber ohne Körperkontakt noch kälter. Vielleicht wäre es besser ihn ganz festzuziehen; dann ließe möglicherweise auch das Kratzen nach. Er überwand die kleine Schrecksekunde des Zusammentreffens von kaltem Gurt und kaltem Kinn und wartete darauf, dass das Kratzen nachließ.
In einiger Entfernung, für ihn unerreichbar, versuchte jemand einen Wagen anzulassen, der aber nicht anspringen wollte. Die Umdrehungen des Anlassers wurden von Mal zu Mal schwächer. Er meinte, dass es dem Geräusch nach ein VW sein müsste. In seinem Beiwagen nahm er immer zum Zwecke des Gewichtsausgleichs eine Ersatzbatterie und einen größeren Werkzeugkasten mit. Er hätte dem VW-Fahrer gerne geholfen, der inzwischen offenbar die Startversuche aufgegeben hatte. In der Erinnerung versuchte Gropius die Anlassversuche nachzuzählen und kam auf sechs. »Der Mann hätte schon nach dem dritten Versuch abbrechen und nach dem Fehler suchen müssen«, sagte er sich und empfand in seiner Situation Hilflosigkeit. Bis auf die zurückgekehrten Soldaten, die er hatte passieren lassen, hatte sich nichts weiter ereignet. Allerdings schmolzen die Schneeflocken nicht mehr, sondern bildeten auf dem schwarzen Asphalt im Lichtschein bläulich-weiße Muster, die schon am einigen Stellen zusammenhingen.
Er schob den linken Ärmel seines Mantels etwas hoch, krempelte den Stulpenrand seines Lederhandschuhs nach unten, um auf seine Armbanduhr sehen zu können und erkannte mit Entsetzen, dass sie auf der Stellung 8:35 Uhr stehengeblieben war. Der Schreck über diese Wahrnehmung war der Auslöser für eine sich entwickelnde Wut über seine Lage und brachte ihn dazu, etwa eineinhalb Meter aus dem Häuschen herauszutreten, um in Richtung auf die 2. Kompanie eine Standuhr zu erkennen, von der er glaubte, dass sie 22:10 Uhr anzeigte. Nach dem Zurücktreten in seine schwarzen vier Wände zog er die Handschuhe aus, stellte die Armbanduhr auf 22:10 Uhr und klopfte mit ihr mehrmals gegen die Holzumrandung, bis er beruhigt feststellte, dass sich der Sekundenzeiger bewegte.
Die offenbar schon verstrichene Zeit versuchte er in Einklang zu bringen mit der empfundenen Zeit und glaubte sein Zeitgefühl korrigieren zu müssen. Er säße also, wenn es eine normale zweistündige Wache gewesen wäre, schon seit zehn Minuten wieder im Warmen.
Seltsamerweise war es inzwischen deutlich heller geworden. Die Schneemuster hatten sich zu einer zusammenhängenden Fläche weiterentwickelt und reflektierten das Licht der Bogenlampe weit in die Toreinfahrt hinein. Seine Nase kam ihm gefühllos vor. Wenn er sie mit dem Lederhandschuh der rechten Hand etwas nach hinten drückte, spürte er die Kälte des Handschuhs nicht mehr. Er fingerte mühevoll nach einem Taschentuch in der rechten Manteltasche, dabei stieß der Gewehrkolben dumpf gegen die rechte Wand. Es wäre besser gewesen, er hätte das Taschentuch in der linken Seite untergebracht, aber er war erleichtert, als er mit dem Tuch nach seiner Nase fühlte, da sie offenbar wieder in die Normalstellung zurückgekehrt war. Mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand konnte er sie massieren und spürte durch ein schmerzhaftes Kribbeln, wie das Leben in sie zurückkehrte.
Das Gewehr schien unterdessen mit dem dreifachen Gewicht an seiner Schulter zu ziehen. Die Auf- und Abbewegungen dagegen hatten seine Haltung insgesamt müde gemacht. Der Rand des Helmes verdeckte das Gesicht bis zur Hälfte, aber das durch den Schnee zurückgeworfene Licht offenbarte schmale und blasse Züge um die Mundpartie, die nicht zu seinem jugendlichen Alter passten.
Der Wind hatte zugenommen und Gropius fand die geschützteste Position in der Mitte des Hauses. Nach der gefühlten Zeit hätte die Ablösung schon längst kommen müssen, sagte er sich, aber wollte sich nicht auf seine innere Uhr verlassen. Nach der Armbanduhr, die er unter dem Ärmel suchte, waren aber erst zehn Minuten vergangen. Mit einem erneuten Schreck stellt er fest, dass sie wieder stehengeblieben war. Mehrere Flüche, die inzwischen zur Umgangssprache der Rekruten gehörten, entfuhren ihm.
Von der linken Seite näherten sich Stimmen. Wieder waren es einige Soldaten, die in ihre Unterkunft wollten, deren Schritte man aber nicht hören konnte, da sie auf einer inzwischen geschlossenen Schneedecke gingen. »Ganz schön kalt heute«, sagte einer, Gropius antwortete: »Genau«, und sah den Vieren hinterher, bis sich ihre Umrisse im Licht der Bogenlampen und Schneeflocken verloren.
Es waren noch ungefähr zehn Minuten bis zu seiner Ablösung und seine Gedanken gingen zu seinem Motorrad, das inzwischen auch schneebedeckt sein musste. Damit bei Schnee zu fahren, war ein besonderes Vergnügen. Man konnte leicht das Hinterrad ausschwenken und, wenn man einen Passagier im Seitenwagen hatte, in beide Richtungen schräg durch die Kurven driften.
Es blieb nicht mehr viel Zeit bis zur Ablösung. Der nächste hatte die Zeit von dreiundzwanzig bis ein Uhr und kam in diesem Augenblick im langen grauen Mantel von der rechten Seite. Es war Sandmüller, der beim Nähertreten einen müden Eindruck machte, den Spruch ganz leise murmelte und intensiv nach Kaffee roch.
In der Wachstube lagen die Zurückgebliebenen auf den Holzpritschen, es war nur noch eine Neonröhre angeschaltet, gesprochen wurde nicht mehr. Zwei Stunden bis zur nächsten Wache waren nicht viel. Mit der dünnen Wolldecke hatten sie sich zugedeckt und fühlten die braunlackierten Bretter unter ihrem Rücken.
Zwei Stunden laufen entlang des Zaunes um das gesamte Kasernengelände. Da schaffte man vielleicht zwei Umrundungen. In den fünf Kompaniegebäuden brannte nirgendwo Licht. Im schwach erleuchteten T-Bereich standen die Kanonenjagdpanzer, die Hotchkiss und kettengetriebenen MTW’s. Ein Sammelsurium an Zerstörungskraft, die Gropius schon bei der ersten Wahrnehmung beeindruckt und auch gefangen hatte. Weit weg von der 2. Kompanie hatte er das Dröhnen der Motoren gehört, zuerst war es noch das Heulen der M 48 Kampfpanzer gewesen, dann später der tiefe Basston der Kanonenjagdpanzer, die mit dem Auspuff senkrecht nach oben das riesige Gelände beschallen konnten.
Sein Vater hatte früher vom ersten Winter des Russlandfeldzuges erzählt, wie sie mit Hilfe von mit Benzin gefüllten Radkappen Feuer unter den Ölwannen und Differentialen gemacht hatten, um das steif gefrorene ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt