Jerusalem
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Jerusalem

Stadt der untergehenden Sonne

  1. 224 Seiten
  2. German
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Jerusalem

Stadt der untergehenden Sonne

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Jerusalem, heilige Stadt und Kampfplatz dreier Religionen, ein unbegreiflicher Ort: Klagemauer, Grabeskirche, Felsendom, Jaffator, Ölberg und steinerne Gassen, in denen die Geschichten ihrer Bewohner jeden Fremden, der sie betritt, in unendliche Verwirrung stürzen. In seinen dichten Reiseaufzeichnungen geht Alexander Ilitschewski der unermesslichen Vielschichtigkeit Jerusalems, der Stadt auf dem Vulkan, auf den Grund. Er lässt sich unmittelbar beeindrucken, beschreibt das Unbegreifliche, die Schönheit und Hässlichkeit dieser Stadt ›expressiv-impressionistisch‹ wie ein Jazzpianist und analysiert mit glasklarer Schärfe die Abgründe der Geschichte, die sich in der Stadt spiegeln und auf Schritt und Tritt fühlbar sind. Mit den Augen dieses ungewöhnlichen, kolossalen Schriftstellers wirft der Leser einen tiefen Blick in einen unbekannten Kosmos.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783957574916

Mauerspaziergänge

1.

Reiseliteratur ist ein unweigerlich unpräzises Genre, und darin liegt ihr Vorteil und ihre Schwäche. Die Schwäche besteht in der Nähe zum Objekt, gut beschrieben in der Redewendung: »Ich seh den Wald vor lauter Bäumen nicht.« Ihr Vorteil ist die verfremdende Distanz, dank der zum Beispiel Natascha Rostowa, die keinen Schimmer hatte, was da auf der Theaterbühne vor sich ging, das Wichtigste sah: den Pappmond, dessen Aufgehen den weiteren Verlauf des Romans bestimmen sollte – indem er sie dazu bewog, auf das Werben Kuragins einzugehen. Auf eine solche kindliche Wahrnehmung der Wirklichkeit, die einen Blick in das Wesen einer anderen Welt gewährt, kann ein Reisender nur hoffen, wenn er sich zu Orten aufmacht, deren Straßenschilder und Warenetiketten sich seinem Verständnis entziehen.
Mein liebstes Beispiel für die Kuriosität von Reisenotizen ist Lewis Carrolls Tagebuch seiner Reise durch Europa und Russland. In diesen Aufzeichnungen lassen sich, abgesehen von seiner besonderen Faszination für kleine Mädchen (Graf Golizyn konnte bis zuletzt nicht begreifen, warum es den englischen Schriftsteller so sehr nach einem Foto seiner Tochter in voller Größe gelüstete), ebenso Momente expressiver Treffsicherheit finden. Wenn Carroll beispielsweise die Berliner Synagoge besucht, liest sich das wie die Beschreibung einer Reise zu einem fremden Planeten; unter anderem hält er die goldenen Stickereien auf dem Tallit für Gebetsriemen. Dann wiederum bemerkt er, dass Spaziergänge durch Petersburg von weniger als fünfzehn Meilen wegen der enormen Entfernungen sinnlos sind: Es scheint, als ginge man durch eine Stadt, die von Riesen für Riesen erbaut worden ist. Carrolls Moskau ist eine Stadt aus Weiß mit grünen Dächern, mit vergoldeten Kuppeln und durch unüberwindliche Schlaglöcher verwüsteten Straßen; eine Stadt der Droschkenkutscher, die fordern, man möge ihnen ein Drittel draufschlagen, »weil heut die Kaiserin Geburtstag hat«. Nicht weniger meisterhaft hat der Autor von Alice den Jahrmarkt von Nischni Nowgorod und die dort Anwesenden beschrieben – seltsame Gestalten mit ungesunder Gesichtsfarbe in wehenden bunten Gewändern zwischen Persern und Chinesen; wer sie waren, werden wir nie erfahren, doch dafür werden wir uns immer an den Vergleich der Wehklage des Muezzins in der tatarischen Moschee mit dem Schrei der Unheil verkündenden Todesfee erinnern.
Jerusalem – mein Reiseziel – ist in geografischer und historischer Hinsicht derart vielschichtig und unerschöpflich, dass jeder Reisende, der dorthin gerät, unvermeidlich mit Verfremdung konfrontiert ist, er muss prinzipiell danebengreifen bei dem Versuch, seinem Gedächtnis die durch die Bewegung im Raum angestoßenen Facetten zu entlocken. Thelonious Monk erreichte durch ein clowneskes Spiel mit steif gespreizten Fingern jene virtuose Unschärfe, jenes »expressiv Impressionistische«, das bisweilen treffender ist als jede mimetische Beschreibung des Klassizismus. Doch dafür muss man eben Thelonious Monk sein.

2.

Bekanntlich beginnt ein Theaterbesuch mit der Parkplatzsuche. Und der eines Landes – mit der Schlange am Check-in. »In jeder Passagiermenge findet sich in aller Regel ein Jude mit Pejes und Kindern / schließe dich seinem Reigen an«, schrieb Brodsky in seinem Gedicht Einladung zur Reise.1 Und tatsächlich, zigmal überprüft bei Flügen in alle Himmelsrichtungen: Die richtige Schlange findet man, indem man nach einem breitkrempigen Hut mit Schläfenlocken darunter Ausschau hält.
Am Schalter von El Al bilden die Pilger ein eigenes Schlangenende. Ein akkurater junger Hochwürden mit protestantischem Bärtchen wie Trotzkis (der momentane Trend in der Auslandsabteilung der Russisch-Orthodoxen Kirche, die vor dem Ausland zivilisiert wirken will) und einem riesigen goldenen Kreuz an einer dicken und doch eleganten – den Türketten in den Häusern der Neureichen ähnlichen – goldenen Kette (Prunk für Schönheit zu halten ist eine byzantinische Eigenart). Ein schneeweißer Kragen, den eine Frau zurechtzupft, wahrscheinlich seine Mutter; sie tritt zur Seite und betrachtet ihren Schützling aus der Distanz, mit unverhohlener Genugtuung: So jung und schon so eine hohe Position, eine große Karriere liegt vor ihm. In Anton Tschechows Erzählung Der Bischof bekommt seine Eminenz Besuch von der Mutter, die ihn einschüchtert und die man nur ungern zu ihm lässt … Jedenfalls ist dieser junge Priester übertrieben wohlerzogen, das Kreuz übertrieben groß und die Kette maßlos.

3.

Am Flughafen Moskau-Domodedowo, vor den zwei geöffneten Büdchen der Passkontrolle, eine riesige Menschenmenge, wie auf den Bahnhöfen zu Zeiten des Bürgerkriegs. Ich stehe da und denke ungefähr: »Die Bipolarität Russlands: Dreifaltigkeit und Dreigespann. Rubljow und Gogol. Wir beten und stehlen. Tschechow schrieb, dass es für den russischen Menschen Gott entweder gibt, oder es gibt Ihn nicht; eine aufgeklärte Mitte ist unerreichbar.«

4.

Der junge Securitymann ruft mich zum Schalter und verschwindet selbst. Ich schaue mich um. Plötzlich ist er wieder da, wie aus dem Nichts.
»Wen suchen Sie da in der Menge?« – Fangfrage.
»Sie.«
Er lächelt, doch dann besinnt er sich auf die Anweisungen, das Gesicht wird streng.
»Kennen Sie jemanden in der Schlange? Warum haben Sie sich umgesehen?«
Nach und nach muss ich diesem gewissenhaften jungen Mann alles über mein Leben erzählen, über den Fonds Avi Chai, die Zeitschrift Lechaim, den Verlag Knischniki, darüber, wie mir meine Frau beim Kofferpacken geholfen hat, und worüber ich in Jerusalem schreiben will. Bis ich plötzlich das Gefühl habe, am Ende fliegt der noch mit – so gute Freunde sind wir geworden. Seine zwei Vorgesetzten, in anderer Uniform, durchbohren mit ihren Blicken derweil die Menge, mustern streng jeden Einzelnen. Und mir fällt wieder ein, wie ich vor zwanzig Jahren auf einem Schiff in den Hafen von Haifa einfuhr; bewegte See, die sich in der Bucht beruhigt; alle Passagiere an der Reling zusammengetrieben, damit die Leute vom Grenzschutz, mit einem Motorboot aus dem Hafen gekommen, sie gut sehen können. Jetzt, am Flughafen, spüre ich genau die gleichen durchdringenden Blicke auf mir wie von jenem Boot aus, das damals zwei, drei Runden um unser Schiff drehte. Kontrolle auf allen Ebenen – Aussehen, Verhalten, Herkunft usw. – ist die Gewähr für Sicherheit. Wenn man aus dem Haus geht, sieht man auch nach, ob Gas und Wasser abgedreht sind.

5.

Ich gehe zum Gate, wo das Flugzeug bereitsteht, und betrachte unauffällig die Menge; merke, wie das Auge auf jüdisch aussehenden Gesichtern ruht: Diese Gesichter vermitteln aus irgendeinem Grund Sicherheit; wahrscheinlich ist es das Gefühl der Zugehörigkeit – immerzu erinnert uns jemand an jemand anderen, wenn auch unbewusst … Ich trete ans Aussichtsfenster und beobachte die Flugzeuge auf dem Rollfeld. Ein bulliger, stämmiger Schlepper, der gerade eine Boeing 747, groß wie ein Schiff, von der Gangway gezogen hat, kriecht unten vorbei, auf seiner niedrigen Bordwand steht in riesigen Lettern: »EIMER ABSTELLEN VERBOTEN«.
Ein leerer Gepäckwagenzug kreist beim Wenden unter den Flugzeugflügeln wie ein Karussell, traurig: ein leeres Karussell im herbstlichen Park, verwaiste Pferdchen, Raketen, Tiere – ein Symbol für das sich dem Ende zuneigende Fest des Sommers …
Ein auffälliges Paar mit Kleinkind: Der junge Familienvater, ein bärtiger, schüchtern wirkender Schmächtling mit Brille, Käppi und Zizit, fügt sich den Kommandos einer Frau im Kopftuch, die ich erst für eine Pilgerin gehalten hatte. Sie ist herrisch und hat eine dezidierte Vorstellung davon, was aus dem Handgepäck rausund was drinbleiben soll; hinten auf dem Käppi des Mannes eine Känguru-Silhouette; der bezaubernde kleine Junge heißt Motja; mit dem spricht die Mutter nicht weniger herrisch und in demselben Vokabular wie mit ihrem Mann.
Vor dem Fenster kriecht eine Boeing 787 Dreamliner vorbei, bemalt mit Chochloma-Mustern in hellblauen anstatt der traditionellen schwarz-goldenen Töne. Plötzlich wird mir bewusst, dass die Eltern des kleinen Motja eine sehr spezielle Art haben, miteinander zu reden: Ihre Sprache ist die der Schrift und keine mündliche. Das nervt – wie alles, was bemüht wirkt. Das gesprochene Russisch lässt genügend Raum für Intellekt wie für Noblesse, was beides seit jeher das Unterpfand für eine klare, lebendige Sprache war und nicht für Verkniffenheit. Diese beiden hier drücken sich in geschraubten Wendungen aus, und darin spürt man den kleinbürgerlichen Wunsch, gebildet zu wirken, was der Rede die starre Bandage der Schriftlichkeit anlegt und die Sprache verknöchert. Das kann auch mit den Mühen der Zweisprachigkeit zusammenhängen – wenn das Gesagte zugleich der Übersetzung zugänglich sein will. Das Dolmetschen ist nicht bloß eine Kunst, sondern eine praktische Unmöglichkeit. Nicht umsonst kann man die großen Simultanübersetzer an einer Hand abzählen. Am Ende verlangt Motjas Mutter, dass der Vater den Kinderwagen zusammenklappt, und der schlägt sich dermaßen hilflos mit der Konstruktion herum, dass ich mich in der Hoffnung wiege, er sei doch nicht ihr Mann, sondern der jüngere Bruder.

6.

Die Entfernung zum Horizont beträgt in einer Höhe von elftausend Metern dreihundertfünfundsiebzig Kilometer. Unter dem Flügel kriecht die Schwarzmeerküste vorbei, scharf umrissen durch die vielen Lichter entlang der Uferlinie, und dann taucht die Küste Kleinasiens vor uns auf, üppiger und weitläufiger übersät von Licht.
Nachts aus dem Flugzeugfenster betrachtet, gleichen...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Mauerspaziergänge (1.–65.)
  4. Fotografische Vergrößerung
  5. Zwei Etüden
  6. Vorväter
  7. Ankunft
  8. Nachwort
  9. Anmerkungen
  10. Endnoten
  11. Literatur
  12. Inhalt
  13. Impressum