IV
Lukas
(Rom, 60−90)
1
Es vergehen zwei Jahre. Jene zwei Jahre, über die man nichts weiß und die ich versucht habe mir vorzustellen. Lukas nimmt seinen Bericht mit dem August 60 wieder auf, dem Jahr, in dem der Statthalter Felix durch einen anderen ersetzt wird: Porcius Festus. In der Menge von Akten, die dieser bei seinem Amtsantritt aufarbeitet, entdeckt er auch jene von Paulus, diesem Rabbi, der in einem abgelegenen Flügel des Palasts unter Hausarrest steht wegen »irgendwelcher Streitigkeiten die jüdische Religion und einen gewissen Jesus betreffend, der tot ist, aber vom Gefangenen immer noch für lebendig gehalten wird«. Festus zuckt mit den Schultern, er weiß nicht, was daran strafbar sein soll. Doch man erklärt ihm, man sei hier eben unter Juden, und bei den Juden sei alles kompliziert und jede noch so kleine Diskussion könne zu einem Aufstand führen. Einerseits fordern die Hohepriester Paulus’ Kopf, und um des lieben Friedens willen wäre es besser, ihnen nachzugeben, andererseits verlangt Paulus nichts mehr und nichts weniger als ein Urteil des Kaisers, wozu er als römischer Bürger auch berechtigt ist. Kurz, eine verzwickte Angelegenheit, die Felix durch sein Aussitzen verschlimmert und bewusst seinem Nachfolger überlassen hat.
Ein paar Tage nach Festus’ Ankunft besuchen der König von Judäa Herodes Agrippa und seine Schwester Berenike den neuen Statthalter. Dass der lokale Herrscher dem Gesandten aus Rom seine Aufwartung macht und nicht umgekehrt, zeigt deutlich, wer hier die Macht hat. Agrippa, ein Urenkel des prunkliebenden, grausamen Herodes des Großen, ist ein jüdischer, durch und durch hellenisierter und romnaher Playboy – vergleichbar mit den in Cambridge erzogenen Maharadschas zu Zeiten des British Raj. Als junger Mann hat er eine Zeitlang mit dem Kaiser Caligula in Saus und Braus auf Capri gelebt. Nun wieder im Lande langweilt er sich ein wenig. Berenike ist hübsch und intelligent. Sie lebt mit ihrem Bruder zusammen, angeblich schlafen sie auch miteinander. Während des Gesprächs vertraut ihnen Festus seinen Ärger mit Paulus an. Agrippas Neugier ist geweckt. »Den Mann würde ich gern anhören«, sagt er. Daran soll’s nicht liegen: Man lässt Paulus holen, der in Ketten gelegt zwischen zwei Soldaten erscheint und sich nicht lange bitten lässt, wieder einmal seine Geschichte zu erzählen. Es ist bereits die dritte Version davon in der Apostelgeschichte, Lukas wird ihrer offenbar nicht müde. Wie immer zieht Paulus’ Bericht von seinem Ingrimm als Verfolger, seinem Weg nach Damaskus und der großen Wende die Zuhörer in ihren Bann, doch bei der Auferstehung steigen sie aus. »Du bist verrückt, Paulus«, unterbricht ihn Festus an dieser Stelle, »du weißt zwar viel, aber du bist total übergeschnappt.« »Ich bin nicht übergeschnappt«, antwortet Paulus, »was ich sage, ist wahr und vernünftig.« (Wahr: vielleicht, vernünftig: nun ja …) Er wendet sich an Agrippa: »Glaubst du den Propheten, König Agrippa?« – will heißen: Wenn du ihnen glaubst, was hindert dich dann, auch mir zu glauben? Belustigt gibt Agrippa zurück: »Ich merke schon, worauf du hinauswillst, bald sagst du mir, ich sei bereits Christ, nur wisse ich es noch nicht, es fehlt nicht mehr viel!« Darauf antwortet Paulus wie aus der Pistole geschossen: »Wenig ist schon viel, und alles, was ich euch, die ihr mir zuhört, wünsche, ist, dass ihr werdet wie ich … allerdings ohne diese Ketten!« Hahaha.
Ein Gespräch unter weltoffenen, geistreichen Leuten von guter Gesellschaft, woraus Agrippa dasselbe schließt wie Festus: Paulus ist nichts vorzuwerfen. Hätte er sich nicht in den Kopf gesetzt, den Kaiser anzurufen, könnte man ihn einfach ohne großes Aufsehen freilassen. Aber er hat sich nun mal an den Kaiser gewandt. Na, dann viel Spaß, denkt sich Agrippa und zieht einen skeptischen Flunsch, denn er hat seinerzeit selbst um die Gunst von drei Cäsaren geworben; bei der Thronbesteigung des dritten trieb er die Liebesdienerei sogar so weit, dass er eine Stadt seines kleinen Königreichs in »Neroniade« umbenannte. Paulus will sein Urteil in Rom erhalten, also soll er es in Rom erhalten.
Für Liebhaber von Seefahrtsgeschichten im Stil von Zwei Jahre vorm Mast ist das folgende Kapitel sicher ein Hochgenuss: Küsten- und Hochseeschifffahrt, Unwetter, Schiffbruch, Überwinterung auf Malta, Aufstand der Besatzung, Hunger und Durst …Mich persönlich langweilt das, deshalb beschränke ich mich auf die Anmerkung, dass die Überfahrt lang und gefährlich ist, dass sich Paulus währenddessen ebenso mutig wie anmaßend erweist, wenn er erfahrenen Seeleuten Lektionen in Navigation erteilt, und dass ihm Lukas mit seinen beeindruckenden Kenntnissen des Fachvokabulars in nichts nachsteht. Da gibt es nicht nur Haltetaue, abgelassene Anker und gelöste Steuerruder, sondern auch von einer Blinde ist die Rede – über die mich eine Anmerkung der TOB wissen lässt, dass es sich um ein kleines, am Bug des Schiffes gehisstes Segel handelt, ein Vorläufer der Fock, nur dass eine Fock dreieckig und eine Blinde viereckig ist.
Und was parallele Lebensläufe angeht, ist festzuhalten: Der sechsundzwanzigjährige sadduzäische Aristokrat Joseph ben Mathitjahu, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht Flavius Josephus hieß, unternahm genau dieselbe Reise und hinterließ einen fast ebenso bewegten Bericht davon. Allerdings muss Josephus in komfortableren Verhältnissen gereist sein als Paulus, denn er war kein Gefangener, sondern Diplomat oder eher ein Lobbyist an der Spitze einer Delegation von Tempelpriestern, die nach Rom fuhren, um bei Kaiser Nero die Interessen ihres Standes durchzusetzen.
2
Wegen allem, was später folgte, erinnert man sich kaum daran, doch als Nero die Kaiserwürde erlangte, machte er erst einmal eine recht gute Figur – nach Tiberius, der ein Paranoiker war, nach Caligula, der schlichtweg verrückt war, und nach Claudius, der stotterte, soff und von Frauen gehörnt und beherrscht wurde, deren Namen in der Geschichte untrennbar mit zügellosen Ausschweifungen – im Fall von Messalina – und mit Intrigen – im Fall von Agrippina – verbunden blieben. Sobald Agrippina Claudius dank eines vergifteten Pilzgerichts losgeworden war, machte sie sich daran, den legitimen Nachfolger Britannicus zugunsten ihres eigenen Sohnes aus dem Weg zu räumen. Dieser war der gerade siebzehnjährige Nero, und sie rechnete wohl damit, mit ihm als Marionette regieren zu können. Zur Unterstützung ließ sie dafür jemanden aus Korsika zurückrufen, dem wir bereits begegnet sind und der, bei Claudius in Ungnade gefallen, seit acht Jahren in der Verbannung auf der Insel versauerte: der berühmte Seneca, die offizielle Stimme des Stoizismus, der Großbankier und so ambitionierte wie enttäuschte Politiker, der nun in der Rolle der grauen Eminenz und als Hauslehrer des jungen Herrschers im großen Stil seine Geschäfte wieder aufnahm. Nero selbst hatte sich zu Beginn seiner Regentschaft den Ruf eines Philosophen und Menschenfreunds erworben. Man erzählte sich, wie er beim Unterschreiben seines ersten Todesurteils ausgerufen habe: »Ich wünschte, ich hätte nie schreiben gelernt!« Mehr noch als die Philosophie mochte er jedoch die Kunst: Poesie, Gesang und außerdem Zirkusspiele. Er begann, selbst aufzutreten, eigene Verse zu deklamieren und sich dabei auf der Lyra zu begleiten oder in die Arena hinunterzusteigen und Wagen zu lenken. Das schockierte den Senat, gefiel jedoch dem Volk. In der gesamten julisch-claudischen Dynastie war Nero der populärste Kaiser, und als sich dieser pausbäckige, hinterlistige Junge, den seine Mutter glaubte sein ganzes Leben lang kontrollieren zu können, dessen bewusst wurde, begann er sich zu emanzipieren. Das beunruhigte Agrippina. Um ihn zur Ordnung zu zwingen, zog sie aus den Kulissen wieder den Stiefsohn hervor, den sie zuvor ausgeschaltet hatte: Britannicus. Nero, der sich von seiner Mutter bedroht fühlte, tat genau das, was sie an seiner Stelle getan hätte. Britannicus wurde wie Claudius vergiftet aufgefunden. Racine geht in seinem perfiden Theaterstück, das sich aus dieser Episode speist, stillschweigend über die Rolle des Hauslehrer-Philosophen hinweg, und tatsächlich weiß niemand, ob Seneca von diesem Komplott gewusst hat oder nicht. Dagegen gilt es als sicher, dass er nach Britannicus’ Ermordung ohne mit der Wimper zu zucken weiter die Tugenden seines Schülers wie seine Milde und Nachsicht pries – nicht eingerechnet die Anmut seines Gesichts und die Lieblichkeit seines Gesangs, durch die er Apollo selbst in nichts nachstünde, schreibt er in einer besonders absurden Lobrede.
Seneca wird seinerseits bald in Ungnade fallen und Agrippina unter Umständen ermordet, die wir wie alles, was man in diesem Kapitel erfährt, dank zweier großer Historiker dieser Epoche kennen: Tacitus und Sueton. Doch so weit sind wir noch nicht, als Josephus und seine Delegation von jüdischen Priestern am kaiserlichen Hof vorstellig werden. Noch ist Nero das »Ungeheuer im Werden«, als das Racine ihn zeichnen wollte. Er hat sich seiner Mutter und seines Mentors noch nicht entledigt, aber er schüttelt bereits ihr Joch ab. Er verlässt Octavia – Claudius’ Tochter, mit der Agrippina ihn verheiratet hat, um die Familienbande noch enger zu knüpfen – für eine Kurtisane namens Poppaea. Fünfzehn Jahrhunderte später wird Monteverdi aus ihr die Hauptfigur der amoralischsten und explizit erotischsten Oper der gesamten westlichen Musik machen. Poppaea muss tatsächlich ein Teufelsweib gewesen sein, aber was uns an dieser Stelle vor allem interessiert, ist, dass sie Jüdin war – oder Halbjüdin oder zumindest Proselytin. Auch Neros Lieblingsschauspieler war Jude, und die alten römischen Senatoren äußerten sich besorgt über diese doppelte Einflussnahme auf den Kaiser. Wie der Satiriker Juvenal, die römische Version der universellen Figur des charmanten, scharfzüngigen und talentierten Reaktionärs, beklagten auch sie, dass sich der Schlamm des Orontes in den Tiber ergoss – will heißen, dass es in der Ewigen Stadt von orientalischen Einwanderern wimmelte, deren lebendige, selbstbewusste Religionen bei den jüngeren Generationen besser ankamen als die blutleeren Zelebrationen der offiziellen Götter. Neros Vorstellung vom Judentum muss recht konfus gewesen sein: Hätte man ihm gesagt, die Sitte fordere, am Sabbat Jungfrauen zu opfern, hätte er es, denke ich, geglaubt und begrüßt. Jedenfalls war Josephus, der sich vorgenommen hatte, bei seiner diplomatischen Mission römischer als die Römer aufzutreten, fast peinlich überrascht, auf einen Kaiser zu treffen, der ein Freund der Juden und geradezu – um eine Vokabel von Antisemiten einer anderen Epoche zu benutzen – »verjudet« war.
Von diesen kaiserlichen Sitten und Marotten ahnt Paulus natürlich nichts. Er lebt in der kleinen, geschlossenen Welt seiner Gemeinden und weiß vielleicht gerade einmal, dass der Cäsar jetzt Nero heißt. Wie Josephus geht er in Pozzuoli, in der Nähe von Neapel, von Bord, doch Josephus verlässt eine Kabine erster Klasse und er den Laderaum, und während sich die Lobby von Hohepriestern mit großem Gepränge auf den Weg nach Rom macht, geht er nicht nur wie gewöhnlich zu Fuß, sondern zudem noch in Ketten gelegt. In einem Kinofilm würde man wohl der Versuchung nicht widerstehen können, inmitten des offiziellen Trosses Räder zu zeigen, die eine Fontäne von Schlamm aufspritzen und eine Reihe von Sträflingen besudeln, unter denen man Paulus ausmacht. Mit seinem Bart, seinem zerfurchten Gesicht und seinem dreckstarrenden schwarzen Mantel, den er seit sechs Jahren trägt, hebt er den Kopf und sieht dem weiterfahrenden Zug nach. In einem seiner Weggefährten erkennt man auch Lukas wieder, in einem anderen Timotheus und, das rechte Handgelenk durch eine etwa ein Meter lange Kette an das linke des Apostels gefesselt, den Zenturio, der ihn seit Caesarea bewacht. Dieser Zenturio ist etwas mehr als nur ein Statist. Die Apostelgeschichte lässt uns wissen, dass er Julius hieß und, weil er seinen Gefangenen während der Reise schätzen gelernt hatte, alles tat, um ihm das Leben zu erleichtern – was auch in seinem eigenen Interesse lag, denn beide konnten sich nicht einmal zum Pinkeln voneinander entfernen.
In dieser Besetzung erreicht man Rom.
3
In seinem Alltagsleben im Alten Rom z...