Letzte Haut
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Letzte Haut

  1. 480 Seiten
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Über dieses Buch

Korruption in Buchenwald: Vom schuldhaften Kampf gegen das Böse im BösenDie unwahrscheinliche und doch wahre Geschichte eines SS-Richters, dessen Auftrag es war, die Korruption in den Konzentrationslagern zu bekämpfen. Ein detailliert recherchierter und fesselnder historischer Roman. Drastisch und temporeich erzählt Altwasser vom schuldhaften Kampf gegen das Böse im Bösen.18 Monate untersucht der SS-Ermittlungsrichter und Polizeibeamte Dr. Schmelz 1943/44 die Verhältnisse im KZ Buchenwald. Ausgerüstet mit einem personengebundenen Geleitbrief hat er freie Einsicht in alle Bereiche des Lagers. Noch im Winter 1944 wird der Kommandant des Konzentrationslagers, Karl Koch, in einem Geheimprozess wegen Wehrkraftzersetzung, Unterschlagung und Mord zum Tode verurteilt. Schmelz überführt mit Koch einen Mann, der sich mit Himmler duzt. Dies gelingt dem Juristen mit dem besten Diplom seines Jahrgangs, weil er nach hartem Ringen mit sich selbst zum Mörder an zwei sowjetischen Kriegsgefangenen wird: Er beweist mit dem "Prinzip der Ausschließlichkeit" persönlich motivierte Morde - mit Mord.Mit diesem atemberaubenden und erschütternden historischen Roman wird der Staffelstab des Erzählens über die Verbrechen des Nationalsozialismus an die Enkelgeneration übergeben.

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Information

BERUFEN
Von Männern lernt man, Vertrauen zu haben, von Frauen hingegen, wie man es bricht. Aufgewachsen ist mein Großvater Kurt Schmelz als Einzelkind, jedoch in unmittelbarer Nähe dreier Tanten, die zusammen zwar sieben Töchter aber keine Ehe mehr hatten. Der Krieg, wie es immer so schön heißt, habe sie ihnen genommen. Diesmal war es der Krieg von neunzehnhundertvier, die Schlacht am Warterberg in Deutsch-Südwestafrika, derselbe Krieg, der den Vater meines Großvaters nur deshalb verschont hatte, weil er sich bei der Musterung stumm gestellt hatte. Stumm und taub. Noch Jahre später sprach er nur hinter verschlossenen Türen und zugezogenen Gardinen.
Mein Großvater wurde im Juni des Jahres neunzehnhundertneun im hessischen Frankfurt geboren, an einem Tag, an dem es eines der stürmischsten Sommergewitter gegeben haben soll, die Hessen je erlebt hatte.
Es regnete an diesem Tag aus Eimern, nur dass die Eimer groß wie Fässer waren. Alle elf Frauen, die ganze weibliche Verwandtschaft, brachten das Neugeborene unter Planen, die sie straff hielten, durch die Straßen Frankfurts, bugsierten alles durch die enge Hofeinfahrt, um über den Hof ins Haus zu kommen, wo der Vater meines Großvaters im vierten Stock am Küchentisch saß und darauf wartete, dass sich die Wohnungstür öffnete.
Der Schnaps stand auf dem Tisch, die Gläser auch, alle seine Freunde waren im Streik geblieben, doch er vertraute einfach darauf, dass wenigstens einer der Kollegen kommen werde und mit ihm anstoße. Mindestens einer oder sogar alle zusammen, denn unter Männern sei es ja üblich, dass man sich auch ohne große Worte verstehe und einander vertraue.
„Ein Junge! Ein Kurti!“, rief ihm eine der Tanten schon vom Flur aus entgegen, so der Vater nickte und alle acht Gläser mit Doppelkorn füllte. Er stand auf, ging ins Schlafzimmer, sah seiner Frau kurz ins erschöpfte Gesicht und nickte ihr anerkennend zu, bevor er an die Wiege trat, die er aus den Brettern von Obstkisten gezimmert hatte, die eigentlich fürs Anheizen der Öfen gedacht waren, mit denen das Gebäude der Preußischen Staatsbahn gewärmt wurde, in der er als Heizer im Rang eines Oberassistenten arbeitete, während die Frau als Aushilfe in einer Buchhandlung dazuverdiente. Sie kamen über die Runden, wie es immer so schön heißt.
„Ein Junge also!“, sagte der Vater und sah in die Wiege: „Ein Kurt also! – Kein Kurti!“
Und so ein zerknautschtes Gesicht, dachte er, so viele Falten! Soviel unnütze Haut! Als gäbe es eine zweite.
Dies aber sagte er nicht laut. Die Möglichkeit einer zweiten Haut, der Vater hielt sie dem Sohn offen, solange er konnte. Er vermittelte ihm diesen Gedanken ohne große Worte. Unter Männern sei es üblich, mit Taten zu sprechen. Er sagte an diesem Tag überhaupt gar nichts mehr, ging wieder in die Küche und wartete auf seine Kollegen, die ja auch seine Freunde waren. Oder sollte er ebenfalls zum Streik gehen und dort seinen Mann stehen? War das wichtiger? Der Zwerg dort, der lief ihm ja nicht weg. Immerhin könnte er den Schnaps mitnehmen, und überhaupt, war es jetzt nicht viel zu eng in dieser Wohnung? All diese Frauen und Mädchen. Er glaubte, diese Gemeinschaft schiebe ihn geradezu raus. Wie hieß es doch so schön in dieser Oper? ‚Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.‘ Und so ging er eben. Reisende solle man nicht aufhalten.
Zwar fragte er sich noch einmal direkt, was wohl wichtiger sei, er ging zwar gedanklich noch einmal zurück zur Entscheidung, doch sei diese ja schon in dem Augenblick gefallen, in dem er in die Küche gesehen und den leeren Tisch mit den vollen Gläsern gemustert habe. Und noch ehe er sich recht versah, waren die acht Gläser leer und die Erkenntnis in ihm gereift, dass ab jetzt gar kein Platz mehr für ihn in dieser Wohnung sei. Die Bettstelle im Schlafzimmer habe er ja schon für den Sohn räumen müssen. Und nun also auch den Küchentisch.
Dem Sohn müsse geopfert werden, meinte der Vater, wie Männer immer denken, wenn sie zu Tätern werden. Er meinte, er müsse opfern. Der Sohn habe ihn verdrängt. Kurt sei der Mittelpunkt, der Mond aber sei in der Hauptsache kalt.
„Verwöhnt mir den Jungen nicht!“, sagte er also auf dem Flur: „Ich vertraue ihn euch an. Verheizt ihn mir nicht.“
Mehr soll er damals nicht gesagt haben, als er ging und nicht mehr zurückkam: Verheizt ihn mir nicht.
Könnte so nicht der Schulaufsatz meines Enkels über mich beginnen, dachte der zweiundsiebzigjährige Schmelz in seiner dunklen Wohnung, sofern ich einen Enkel hätte.
Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Flurläufer, vermied jegliche Bewegung, während er in seiner Vergangenheit herumwühlte. Herumwühlte, um aber was zu finden? Was? Kurt Schmelz atmete aus. Nein, es ging ja gar nicht ums Was, es ging ja immer nur ums Wie.
Mein Großvater Kurt Schmelz wuchs also ohne Vater und unter elf Frauen und Mädchen auf, und so konnte er es gar nicht erwarten, als er nach dem halbjährigen Volontariat im Bankhaus Goldschmid zu Frankfurt am Main endlich in die Welt hinausziehen konnte, um zu studieren.
In der Zeit der großen Massenarbeitslosigkeit zwischen den Weltkriegen studierte er eisern das Fach Weltwirtschaftsrecht; in Berlin, kurz in Frankfurt, in Rom, in Den Haag und in Kiel.
Monatlich musste er mit hundertfünfzig Mark auskommen, was natürlich nicht ging, weshalb er nebenher noch arbeitete, während seine Kommilitonen sich in Verbindungen herumschlugen. Und während sie Seilschaften bildeten, wurde er zum großen Einzelgänger und zum besten Studenten Deutschlands.
Wie sein Vater, der ihm unbekannt blieb, war er schweigsam, sehr schweigsam, aber das Schweigen hatte immerhin den Vorteil, alles sagen zu können.
Seine Umgebung bekam immer mehr Angst vor seinem Blick, eine große Unerträglichkeit legte sich um ihn und breitete sich aus, denn sobald man ihm in die Augen sah, wurde man von tausenden Wörtern niedergerannt. Eine Aura schützte ihn vor Angriffen. Mein Großvater hatte sie einmal seine zweite Haut genannt.
Ein anderes Mal meinte er, er habe während des Studiums weltumfassend zu denken gelernt, während sein Land in der Weltwirtschaftskrise versunken sei. Sein Leben sei immer gegensätzlich des öffentlichen Lebens verlaufen, und so etwas könne man sich nicht aussuchen, so etwas sei Schicksal, denn Schicksal sei das Gegenteil von Zufall.
Wie jeder Muttersohn war auch er umtriebig, ein Getriebener, ein unverwüstlich Reisender. Mein Großvater konnte von heute auf morgen Verbindungen abbrechen und neue aufbauen, um sie dann wieder nur zu beenden. Beziehungen fanden bei ihm nur als Nichtbeziehungen, als Unbeziehungen, als Sehnsüchte statt.
Er meinte zwar immer, er habe nie Gefühle investiert, weil er nicht wisse, dass es Gefühle gebe, aber wenn er dies sagte, dann grinste er auch immer, so dass man nie wusste, was man davon halten sollte. Ihm zu vertrauen war also schwer. Er schützte sich davor, Beziehungen eingehen zu müssen. Er ließ sich nie in die Karten blicken, doch manchmal kam es einem auch so vor, als habe er gar kein Blatt zum Ausspielen. Wie lange kann ein Mann einen Bluff durchhalten, wenn sich der Einsatz Runde um Runde erhöht? Wann verliert er die letzte Haut und wann das ganze Gesicht?
Die Mundwinkel des alten Schmelz’ verzogen sich nach oben, während der Rest seines Gesichts starr blieb. Die Wangen schmerzten, er ließ die Winkel wieder fallen.
Gefühle, die er hegte, wurden ihm von den Frauen, unter denen er aufwuchs, verboten. Sie bekämpften seine Gefühlswelt, ohne zu wissen, dass sie es taten. Sie wollten ihn einfach nach ihrem Vorbild erziehen und übersahen beflissen, dass er kein Mädchen war. Während er unter ihren unbewussten Handlungen also litt, reifte sich in ihm die Gewissheit aus, dass nur bewusstes Handeln eine männliche Tat sei. Und wie gern wollte er doch ein Mann sein, der Tatsachen schafft, der immer wieder Tatsachen schafft, von denen man in Kneipen redet, in Kneipen und auf Familienfesten.
Hätte es einen Vater gegeben, an den sich der Sohn hätte anlehnen können, hätte es einen Vater gegeben, der die Frauen in ihrer unmenschlichen Fürsorge in die Schranken verwies, dann wäre aus meinem Großvater bestimmt ein vollkommener Mensch geworden. So aber fühlte er sich immer nur als halber Mensch, der sich vor dem freiwilligen Betreten der weiblichen Welt lange hütete.
Es war also kein Zufall, dass er zum besten Studenten seines Jahrganges in ganz Deutschland wurde, es war also Schicksal. Es war das Schicksal, das der Vater durch sein Nichthandeln dem Sohn hinterließ, indem er ihn schnöde und feige mitten in der Allmacht der weiblichen Welt allein ließ, aus welcher der Sohn aber floh, sobald er konnte. Fliehende sind eben schwer aufzuhalten, manchmal erst mit dem Tod.
Als er mit zweiundvierzig Jahren dann doch noch heiratete, war er müde geworden vom Leben. Er nahm ein Mädchen zur Frau, das gerade erst zweiundzwanzig Jahre geworden war. Von ihr hatte er nichts zu befürchten, erst später, als ihr aufging, sie werde niemals zur Mutter gemacht werden, keimte in ihr ein Hass, der riesige Schatten warf. Doch mit Hass konnte mein Großvater viel besser leben als mit Liebe.
Am schlimmsten muss für sie gewesen sein, dass mein Großvater einer Scheidung nie zustimmte, am schlimmsten und unverständlichsten, denn war es meinem Großvater doch bisher stets ein Leichtes gewesen, Beziehungen zu kappen, noch ehe sie zu solchen geworden waren. Doch konnte man dieses Zusammensein überhaupt eine Beziehung nennen?
Vielleicht war es doch Ausdruck seiner Liebe, aber ganz sicher war es Vertrauen. Mein Großvater, der unter den ständigen Lügen und Widerlügen aufwuchs, aus denen das Weibliche besteht, der keinen Satz so nehmen konnte, wie er ausgesprochen worden war, der in der weiblichen Welt des Elternhauses die Position des Deppen inne hatte, beschloss also in der Hochzeitsnacht, meiner Großmutter all das Vertrauen aufzubürden, das sich in ihm angesammelt hatte. Sicherlich, irgendwie konnte man das Liebe nennen, war sie doch fortan die einzige Frau, mit der er sich abgab, während er sich bemühte, es in seiner Arbeitswelt und in seiner Freizeit nur noch mit Männern zu tun zu haben.
Er hatte ihr zum dreißigsten Hochzeitstag einen breiten Bilderrahmen geschenkt, der einzig einen Vers von Goethe umfasste: „Will die Kraft dir schier versagen / Vorwärts! ist das rechte Wort.“
Das war ein paar Wochen vor seinem Tod gewesen, doch ich greife vorweg und das will ich nicht, weil ich den Weg zum sicheren Ende nicht kenne.
Während er also in seiner Frankfurter Wohnung dahinsiechte und qualvoll starb, alleingelassen, erkannte seine Frau in einem billigen Hotel am Frankfurter Bahnhof in diesem Spruch, den er ihr geschenkt hatte und vor dem sie geflohen war, die ganze Brutalität und Feigheit ihres Ehemannes. ‚Will die Kraft dir schier versagen, Vorwärts! ist das rechte Wort.‘
Mein Großvater Kurt Schmelz, Jahrgangsbester und einer der Jüngsten, promovierte an der Universität Frankfurt am Main. Zeitgleich erschien die Veröffentlichung seiner Dissertation ‚Kriegspropaganda und Kriegsverhütung‘ als Band vier der wegweisenden Schriftenreihe ‚Wesen und Wirkungen in der Publizistik‘, in der er vehement für die Trennung von politischer Führung und Justiz eintrat. Er deckte am Beispiel des Spanisch-Amerikanischen Kriegs von achtzehnachtundneunzig auf, wie eine Propaganda einen ganzen Krieg entfesseln konnte: „In den Vereinigten Staaten von Nordamerika hatte das Zeitungskapital schon bald die Entdeckung gemacht, daß nichts den Zeitungsabsatz mehr hebt, als sensationelle Nachrichten. Der größte Lieferant an Sensationen ist aber der Krieg. Der Krieg ist für die Zeitungen das große Geschäft, weil er die Sensation laufend liefert, und die Nachrichten, gleichgültig ob sie günstig oder ungünstig sind, stets gleich begierige Leser finden. Sind keine sensationellen Ereignisse da, so müssen sie eben gemacht werden! Die Nutzanwendung aus diesen Erkenntnissen haben – in wahrhaft ‚amerikanischem‘ Maßstab – zuerst die Hearst und die Pulitzer Blätter gezogen. Sie begannen ihren Feldzug mit der Verpflichtung der besten Federn und Zeichner Amerikas. Diese wurden nach Cuba entsandt, wo wieder einer der, in der Geschichte des Landes unzähligen, Aufstände begonnen hatte, um in Wort und Bild über die Lage Bericht zu erstatten. Auf Genauigkeit kam es hierbei natürlich nicht an. Sensationell mußten die Berichte sein! Die beiden Unternehmen standen in einem furchtbaren Konkurrenzkampf. Jedes suchte dem anderen den Rang abzulaufen. Die Berichterstattung konnte deshalb gar nicht nervenaufpeitschend genug sein! So strömten denn die ungeheuerlichen Gräuelnachrichten und Gräuelzeichnungen von den angeblichen Leiden des ‚armen, kleinen‘ Cubas in das amerikanische Publikum. Ganzseitige Überschriften (!) und Bilder in Vierfarbdruck schrien angebliche Brutalität und Barbarei der Spanier ins Volk. Methoden der Meinungsbeeinflussung wurden angewandt, wie sie selbst der Weltkrieg nicht überboten hat. Die spanische Regierung traf ihre Gegenmaßnahmen, die zunächst in einer scharfen Handhabung der Zensur bestanden. Neues Agitationsmittel! ‚Spanien will die Verbreitung der Wahrheit hindern!‘ ‚Nun erst recht!‘ Man schmuggelte Nachrichten durch die Sperre. Wo dies nicht ging, erfand man sie. Was nun geschah, mußte kommen. Spanien schritt zur Verhaftung von Berichterstattern. Neuer Sturm in der Öffentlichkeit. Amerikanische Bürger rechtlos, der spanischen Willkürjustiz ausgeliefert, die Regierung muß intervenieren! Erschütternde Berichte über das furchtbare Los der gefangenen Journalisten gingen hinaus in die Welt. Geld wurde für sie gesammelt. Befreiungskomitees wurden gegründet, sensationelle Fluchtversuche organisiert. Unterdessen ging die Werbung um Sympathie für die Aufständischen weiter. Ihre Taten wurden glorifiziert. Ihr Kampf galt der Sache der Freiheit und der Demokratie. Erinnerungen an den eigenen Freiheitskampf wurden wieder lebendig gemacht. Aufrufe erschienen für die Aufstellung und Ausrüstung von Hilfsexpeditionen. Sie hatten Erfolg. In den Vereinigten Staaten lebende Cubaner, amerikanische Abenteurer und Fanatisierte versuchten auf Cuba zu landen. Vielen gelang es. Viele fielen in die Hände der spanischen Behörden. Kerkerstrafen und Todesurteile waren die Sühne. Das erste Blut war nun geflossen. Die Öffentlichkeit wurde mobil gemacht, Parlament und Senat bestürmt. Die Regierung mußte Vorstellungen erheben. Spanien erwiderte mit Vorwürfen hinsichtlich der amerikanischen Untätigkeit gegenüber den Versuchen der Freischärler. So kam der Notenkrieg zwischen den beiden Regierungen in Gang. Zur besseren Überwachung der Küsten seiner cubanischen Besitzungen sieht sich nun Spanien genötigt, Kreuzer in die dortigen Gewässer zu entsenden. Neue Alarmstufe! ‚Spanien rüstet zum Kriege!‘ ‚Wenn wir nicht sofort zuschlagen, dann …‘ ‚Der Krieg steht unmittelbar bevor!‘ Unbeabsichtigte Verletzungen der amerikanischen Hoheitsgewässer ereignen sich. Proteste und Gegenproteste hageln. In diese Situation platzt die nie aufgeklärte Explosion der ‚Maine‘, und der Krieg ist da. Dieser Krieg, der gegen den Willen der Regierungen, ohne daß irgendwie lebenswichtige Interessen Amerikas auf dem Spiel gestanden hätten, von der Propaganda erzwungen worden ist, hat die Hoffnung der beiden ihn betreibenden Zeitungsunternehmen voll erfüllt. Schon während des Schürens des Konflikts hat Pulitzers’ ‚World‘ ihren Absatz von 15 000 auf über 820 000 steigern können, während das ‚Journal‘ Hearsts eine Zunahme bis zu 2,5 Millionen buchte …“, schrieb mein Großvater sechsunddreißig und deckte so auf, dass die Propaganda die Wurzel und der Krieg selbst der Stamm sei.
Mein Großvater, Kurt Schmelz, definierte warnend den Begriff der Kriegspropaganda: „Für die Kriegspropaganda ist es nicht wesentlich, daß sie sich als solche bezeichnet. Zu Beginn ihres Wirkens wird sie im Gegenteil Sinn und Zweck des Propagandainhalts verschleiern. In einem bestimmten Abschnitt ihres Ablaufes kann sie sogar die Sachlage scheinbar in ihr Gegenteil verkehren, indem sie sich als Propaganda für einen wirklichen, dauerhaften, endgültigen Frieden ausgibt. (Der allerdings nur über den Umweg des Krieges erreicht werden kann.)
Erst bei den Endstufen ihrer Tätigkeit appelliert sie an die Gewalt der Waffen und wird dann zur eigentlichen Kriegshetze.
Die Propaganda braucht auf ihr Ziel, den Krieg, nicht unmittelbar zuzusteuern. Sie kann ihn auch auf Umwegen erzwingen. Es genü...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. INHALT
  4. Verdächtigt
  5. Verhaftet
  6. Berufen
  7. Bewiesen
  8. Verhandelt
  9. Vollstreckt
  10. Epilog
  11. Impressum