Die Auferweckung der Lärche
eBook - ePub

Die Auferweckung der Lärche

Erzählungen aus Kolyma 4

  1. 664 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Die Auferweckung der Lärche

Erzählungen aus Kolyma 4

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

"Es geht ohne Schalamow überhaupt nicht." Karl SchlögelMit Die Auferweckung der Lärche liegen nun die 6 Zyklen der Erzählungen aus Kolyma erstmals vollständig auf Deutsch vor. Die insgesamt ca. 1600 Seiten umfassenden Erzählungen zählen zu den eindrucksvollsten literarischen Texten der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts und eröffnen einen immer wieder verstörenden Blick in dessen Abgründe.Der abschließende Band der Erzählungen aus Kolyma wird - wie schon der dritte Band Künstler der Schaufel - zwei Erzählzyklen enthalten. Die Werkausgabe wird mit Romanen, Briefen und Gedichten fortgesetzt."Eine vorbildlich edierte Werkausgabe präsentiert Warlam Schalamow als einen der großen russischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts."Volker Strebel, literaturkritik.de, Mai 2012

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Die Auferweckung der Lärche von Warlam Schalamow, Franziska Thun-Hohenstein, Gabriele Leupold im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Littérature & Littérature générale. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Die Auferweckung der Lärche

Der Pfad

In der Tajga hatte ich einen wunderbaren Pfad. Ich hatte ihn selbst angelegt im Sommer, als ich mir Brennholz für den Winter besorgte. Um die Hütte herum gab es viel Reisig – konusförmige Lärchen, grau und wie aus Pappmaché, steckten im Sumpf wie Pfähle. Die Hütte stand auf einer Anhöhe, umringt von Krummholzbüschen mit grünen Nadelquasten – zum Herbst hin zogen die von Nüssen geschwollenen Zapfen die Zweige zum Boden. Durch dieses Krummholzdickicht führte der Pfad in den Sumpf, aber der Sumpf war nicht immer ein Sumpf gewesen – ein Wald wuchs dort, aber dann sind die Baumwurzeln vom Wasser verfault und die Bäume gestorben, vor langer, langer Zeit. Der lebendige Wald hat sich um den Fuß des Berges bis an den Bach zurückgezogen. Der Weg, den Automobile und Menschen nahmen, lag auf der anderen Seite der Anhöhe, weiter oben am Berghang.
Die ersten Tage tat es mir leid, die fetten roten Maiglöckchen zu zertreten und die Iris, die mit ihren Blütenblättern und ihrem Muster aussahen wie riesige lila Schmetterlinge; die dicken blauen Riesenschneeglöckchen knackten unangenehm unter dem Fuß. Die Blüten hatten, so wie alle Blüten im Hohen Norden, keinen Duft; einmal ertappte ich mich bei einer automatischen Bewegung – du pflückst einen Strauß und führst ihn an die Nase. Doch dann habe ich es mir abgewöhnt. Am Morgen sah ich mir an, was über Nacht auf meinem Pfad passiert war – hier hat sich ein Maiglöckchen aufgerichtet, ein gestern von meinem Stiefel zerdrücktes, es ist zur Seite ausgewichen, aber doch wieder aufgelebt. Ein anderes Maiglöckchen ist schon für immer zerdrückt und liegt da wie ein umgekippter Telegrafenmast mit Porzellan-Isolatoren, und die zerrissenen Spinnweben hängen daran wie zerfaserte Leitungen.
Und dann war der Pfad ausgetreten, und ich nahm nicht mehr wahr, dass sich mir Krummholzzweige in den Weg legten, die, die mir ins Gesicht schlugen, brach ich ab und nahm die abgebrochene Stelle nicht mehr wahr. Zu beiden Seiten des Pfades standen junge Lärchen von etwa hundert Jahren – ich sah sie grün werden, sah sie die feinen Nadeln auf den Pfad streuen. Der Pfad wurde von Tag zu Tag dunkler und war schließlich ein gewöhnlicher dunkelgrauer Bergpfad. Niemand außer mir benutzte ihn. Blaue Eichhörnchen hüpften darauf, und die Spuren der ägyptischen Keilschrift der Rebhühner habe ich immer wieder gefunden, auch eine dreieckige Hasenspur kam vor, aber Vögel und Wildtiere zählen ja nicht.
Ich benutzte meinen Pfad fast drei Jahre lang. Darauf ließen sich gut Gedichte schreiben. Wenn ich, zurückgekehrt von einer Reise, wieder darauf ausschritt, stellte sich auf diesem Pfad ganz gewiss eine Strophe ein. Ich hatte mich an den Pfad gewöhnt, hielt mich dort auf wie in einem Arbeitszimmer im Wald. Ich erinnere mich, wie schon vor dem Winter Kälte und Eis den Matsch auf dem Pfad erfassten, und der Matsch sah verzuckert aus wie Marmelade. In zwei Herbsten ging ich vor dem Schnee auf diesen Pfad – um eine tiefe Spur zu hinterlassen, die vor meinen Augen für den ganzen Winter erstarrt. Und im Frühjahr, wenn der Schnee getaut war, sah ich meine Zeichen vom vorigen Jahr, trat in die alten Spuren, und Gedichte schrieben sich wieder leicht. Im Winter stand mein Kabinett natürlich leer: Der Frost lässt einen nicht denken, schreiben kann man nur im Warmen. Im Sommer konnte ich alles herzählen, und alles war viel bunter als im Winter auf diesem Zauberpfad – das Krummholz und die Lärchen und die Heckenrosenbüsche brachten stets ein Gedicht, und wenn mir nicht fremde Gedichte von entsprechender Stimmung einfielen, dann murmelte ich ein eigenes, das ich, zurück in der Hütte, aufschrieb.
Im dritten Sommer lief über meinen Pfad ein Mensch. Ich war gerade nicht zu Hause, ich weiß nicht, ob es ein umherwandernder Geologe war oder ein Bergbriefträger oder ein Jäger – der Mensch hinterließ die Spuren seiner schweren Stiefel. Von da an konnte ich auf diesem Pfad keine Gedichte mehr schreiben. Die fremde Spur war im Frühjahr hinterlassen worden, und den ganzen Sommer schrieb ich auf diesem Pfad keine einzige Zeile. Zum Winter wurde ich an einen anderen Ort versetzt, und es tat mir auch nicht leid – der Pfad war hoffnungslos verdorben.
Manches Mal habe ich versucht, über diesen Pfad ein Gedicht zu schreiben, doch es ist mir trotz allem niemals gelungen.
<1967>

Graphit

Womit werden Todesurteile unterschrieben: mit Kopierstift oder Passtusche, mit Kugelschreibertinte oder Alizarin, vermischt mit reinem Blut?
In jedem Fall wird kein einziges Todesurteil mit einfachem Bleistift unterschrieben.
In der Tajga können wir keine Tinte gebrauchen. Regen, Tränen und Blut lösen jede Tinte, jeden Kopierstift auf. Kopierstifte darf man in den Paketen nicht schicken, sie werden bei Durchsuchungen eingezogen – dafür gibt es zwei Gründe. Der erste: Der Häftling kann damit jedes Dokument fälschen; der zweite: So ein Stift dient als Druckfarbe bei der Herstellung der Spielkarten der Ganoven, der »stirki«, und also …
Zugelassen ist nur ein schwarzer Bleistift, einfacher Graphit. Die Verantwortung des Graphits ist an der Kolyma außerordentlich, ungewöhnlich groß.
Die Kartographen haben mit dem Himmel gesprochen, haben den Sternenhimmel ins Auge gefasst, nach der Sonne geschaut und einen Festpunkt auf unserer Erde bestimmt. Und über diesem Festpunkt, einer auf dem Gipfel eines Bergs, auf einem Felsgipfel in den Stein getriebenen Marmortafel – stellten sie einen Dreifuß auf, ein Lattensignal. Dieser Dreifuß zeigt exakt die Stelle auf der Karte, und von ihm, vom Berg, vom Dreifuß, durch Talkessel und Schluchten über Lichtungen, Brachen und Sumpfräumden zieht sich ein unmerklicher Faden – ein unsichtbares Netz von Längen- und Breitenkreisen. In die dichte Tajga werden Schneisen geschlagen – jede Kerbe, jede Marke ist eingefangen im Fadennetz des Nivellierinstruments, des Theodoliten. Die Erde ist vermessen, die Tajga ist vermessen, und auf den frischen Kerben begegnen wir auf Schritt und Tritt der Spur des Kartographen, des Landvermessers – einfachem schwarzem Graphit.
Die Tajga des Kolymagebiets ist kreuz und quer durchzogen von den Schneisen der Topographen. Und doch gibt es die Schneisen nicht überall, nur in den Wäldern rund um die Siedlungen, um die »Produktion«. Die Brachen, Lichtungen und Räumden der Waldtundra und die nackten Bergkuppen sind nur von Luft-, von imaginären Linien durchzogen. Hier gibt es keinen einzigen Baum, um einen Anschluss zu markieren, keine verlässlichen Richtpunkte. Richtpunkte werden auf Felsen gesetzt, in Flussbetten, auf die schneelosen Bergkuppen. Und von diesen sicheren, biblischen Festpunkten aus erfolgt die Vermessung der Tajga, die Vermessung der Kolyma, die Vermessung des Gefängnisses. Die Kerben an den Bäumen sind das Netz von Schneisen, von denen durch das Rohr des Theodoliten, im Fadenkreuz die Tajga ins Auge gefasst und berechnet ist.
Ja, für die Kerben eignet sich nur der einfache schwarze Bleistift. Nicht der Kopierstift. Der Kopierstift verfließt, wird vom Saft des Baumes aufgelöst, vom Regen oder Tau, vom Nebel oder Schnee abgewaschen. Der künstliche Bleistift, der Kopierstift eignet sich nicht für Notizen über die Ewigkeit, über die Unsterblichkeit. Doch der Graphit, der Kohlenstoff, unter höchstem Druck Millionen Jahre zusammengepresst und wenn nicht in Steinkohle, dann in einen Brillanten verwandelt oder, noch wertvoller als ein Brillant, in einen Bleistift, in Graphit, der alles aufschreiben kann, was er gewusst und gesehen hat … Ein größeres Wunder als der Diamant, obwohl die chemische Natur von Graphit und Brillant dieselbe ist.
Die Instruktion verbietet den Topographen nicht nur, für Marken und Kerben den Kopierstift zu benutzen. Jede Legende oder jeder Legendenentwurf bei der Vermessung nach Augenmaß braucht den Graphit für die Unsterblichkeit. Die Legende braucht den Graphit für die Unsterblichkeit. Der Graphit – ist Natur, der Graphit hat teil am irdischen Kreislauf und widersteht der Zeit manchmal besser als der Stein. Die Kalksteinberge zerfallen unter dem Regen, den Windstößen, den Flusswellen, aber die junge Lärche – sie ist erst zweihundert Jahre alt, sie muss noch leben – bewahrt auf ihrer Kerbe die Ziffer, die Marke der Verbindung von biblischem Geheimnis und Gegenwart.
Die Ziffer, das Kartenzeichen wird auf die frische Kerbe gemalt, auf die strömende frische Wunde des Baumes, eines Baumes, der Harz verströmt wie Tränen.
Nur mit Graphit kann man in der Tajga schreiben. Die Topographen haben in den Taschen ihrer Westen, Seelenwärmer, Feldblusen, Hosen und Halbpelze immer einen Stummel, ein Restchen Graphitstift.
Papier, Notizbuch, Messplan, ein Heft – und der Baum mit der Kerbe.
Das Papier ist eine der Masken, eine der Verwandlungen des Baumes in Diamant und Graphit. Der Graphit ist Ewigkeit. Größte Härte, die in größte Weichheit verwandelt wurde. Ewig ist die Spur, die der Graphitstift in der Tajga hinterlässt.
Die Kerbe wird behutsam gehauen. Am Stamm einer Lärche werden auf Gürtelhöhe zwei Sägeschnitte angebracht und mit der Ecke der Axt das noch lebendige Holz herausgebrochen, um Platz zu machen für eine Notiz. Es entsteht ein Dach, ein Häuschen, eine saubere Tafel mit Vordach gegen den Regen, die bereit ist, die Notiz auf ewig zu bewahren – praktisch ewig, bis ans Ende des sechshundertjährigen Lärchenlebens.
Der verletzte Körper der Lärche ist wie eine offenbarte Ikone – eine Gottesmutter von Tschukotka, Jungfrau Maria von der Kolyma, die ein Wunder erwartet, ein Wunder offenbart.
Und der leichte, zarte Harzduft, der Duft des Lärchensafts, der Duft des Bluts, das die menschliche Axt aufgewühlt hat, atmet sich wie der ferne Duft der Kindheit, der Duft von Benzoeharz.
Die Ziffer ist eingetragen, und die verletzte Lärche, Wind und Sonne ausgesetzt, bewahrt diesen »Anschluss«, der in die große Welt führt aus dem Tajgadickicht – durch die Schneise zum nächsten Dreifuß, dem kartographischen Dreifuß auf dem Berggipfel, wo unter dem Dreifuß, mit Steinen zugeschüttet, in einer Vertiefung eine Marmortafel liegt, der die wahre Länge und Breite eingeritzt ist. Diese Inschrift ist keineswegs mit Graphitstift gemacht. Und an den tausend Fäden, die sich von diesem Dreifuß spannen, an den Tausenden Linien von Kerbe zu Kerbe kehren wir zurück in unsere Welt, um uns ewig an das Leben zu erinnern. Der topographische Dienst ist ein Dienst am Leben.
Aber an der Kolyma ist nicht nur der Topograph verpflichtet, den Graphitstift zu benutzen.
Außer dem Dienst am Leben gibt es hier noch den Dienst am Tod, wo der Kopierstift ebenfalls verboten ist. Die Instruktion des »Archivs Nr. 3« – der sogenannten Abteilung Statistik von Häftlingstoden im Lager – lautete: Am linken Unterschenkel des Toten ist ein Täfelchen zu befestigen, ein Sperrholztäfelchen mit der Nummer der Lagerakte. Die Nummer der Lagerakte ist mit einfachem Graphitstift zu schreiben – nicht mit Kopierstift. Der künstliche Bleistift steht auch hier der Unsterblichkeit im Weg.
Man könnte meinen, wozu dieses Spekulieren auf Exhumierung? Auf Wiedererweckung? Auf Überführung der Asche? Es gibt wer weiß wie viele namenlose Massengräber an der Kolyma – in die man die Menschen ganz ohne Täfelchen warf. Doch Instruktion ist Instruktion. Theoretisch sind alle Gäste des ewigen Dauerfrostbodens unsterblich und bereit, zu uns zurückzukehren, damit wir die Täfelchen von ihren linken Unterschenkeln nehmen und Bekanntschaften und Verwandtschaften klären.
Sofern nur auf dem Täfelchen mit einfachem schwarzen Graphitstift die Nummer vermerkt ist. Die Lageraktennummer werden weder Regen noch unterirdische Quellen, noch Frühjahrshochwasser abwaschen, wird das Eis des Dauerfrostbodens nicht berühren, das...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Die Auferweckung der Lärche
  5. Der Handschuh
  6. Anmerkungen
  7. Glossar
  8. Impressum