Letzte Fischer
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Letzte Fischer

  1. 503 Seiten
  2. German
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Letzte Fischer

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Luise wird mit ihrem Spezialteam beauftragt, den Walfänger Rimbaud mitsamt seiner Ladung sicher in den Hafen von Spitzbergen zu bringen. Das raue Leben auf dem Walfänger birgt einige Überraschungen - unter anderem beginnt Luise eine gefährliche Affäre mit dem Schiffsjungen Tommy. Zur gleichen Zeit ist ihr Stiefvater Robert mit dem Hochseeschiff Saudade vor Somalia unterwegs, um Rotbarsch zu fangen und die seltene und überaus kostbare Kurznasenseefledermaus zu häuten. Es soll seine letzte Fahrt sein, bevor er sich dem Wunsch seiner Frau Mathilde fügt, ein Leben an Land zu führen.Volker Altwassers Letzte Fischer ist eine Hommage an das Leben auf den Meeren, ein Abgesang auf eine Männerwelt, die mit ihren Ritualen und Traditionen wie aus der Zeit gefallen wirkt. Neben furiosen Beschreibungen der Waljagd und der Walverarbeitung und mitreißenden Schiffsmanövern auf der ungebändigten See entspinnt sich eine zärtliche Geschichte, die von tiefer Melancholie und Wehmut durchzogen ist. Ein großes Hochseeepos, das vom Meer und immer auch von der Literatur über das Meer erzählt.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783882215762

Teil 1

Als würde die Haut der Kurznasenseefledermaus atmen, als hätte er sich einen lebenden Handschuh übergestreift, so umhüllte dieses kostbare Gut seine Hand. Robert Rösch trug sie vor der Brust, vorsichtig, durch die Verarbeitungshallen, durch die Längs- und Niedergänge und vorbei an den Kammern, Lasten und Tanks des portugiesischen Fang- und Verarbeitungsschiffes Saudade.
Er ging, bis er vor dem Schott stand, durch das er aufs Außendeck gelangte. Mit einem kräftigen Ruck der rechten Hand zog er den schweren Hebel nach oben, die zwölf Riegel sprangen zurück, Robert Rösch trat ins eisige Blau von Labrador und verschloss das Außenschott sofort wieder, damit der Innendruck der Luftversorgung nicht abfiel.
Wie lange hatte er die Sonne nicht gesehen? Drei Tage? Vier? Seine letzte Kurznasenseefledermaus hatte er an einem Sonntag gehäutet, das wusste er noch, aber in welchem Monat? Es hatte eine Flaute geherrscht. Es waren die Wochen einer dieser gefährlichen Flauten gewesen, in denen es nichts zu arbeiten gab, nichts zu lachen, nichts zu denken.
Und nun war es auch noch Mai! Dieser für ihn so gefährliche Monat. Robert Rösch ging, die Haut vor sich hertragend, vorsichtig zur Reling und sah einen Moment lang übers Meer. Er durfte gar nicht daran denken.
Der siebenunddreißigjährige Rösch spuckte in die See, ging mit seiner Ausbeute zur Außentreppe, die zur Nock führte, und setzte sich auf die unterste Stufe. Vorsichtig zog er sich die Haut von der Hand, stülpte sie um, so dass das nach Amber duftende Purpur innen war, und legte sich die nun unscheinbar wirkende Fischhaut auf die flache rechte Hand. Robert Rösch hielt diesen gräulichen Lappen hoch, legte den Unterarm auf den Schenkel und nahm sich mit der Linken den ersten der Auswüchse vor, in denen sich Stacheln mit Giftdrüsen befunden hatten, die er unter Deck provisorisch abgekniffen hatte.
Er massierte den harten Knubbel, bis er sich verflachte und von selbst den Rest des Stachels freigab, den er schnell auf die Metallplanken pustete, ehe er sich den nächsten vornahm. Liebte er Mathilde nun oder hatte er sie aus Mitleid geheiratet? Aus Selbstmitleid?
Verbrachte er darum die Hälfte des Jahres auf der Saudade? Immer die Hälfte, in der sich auch der Mai befand? Erholte er sich nur auf dieser ›letzten Insel der alten Männerwelt‹ vom Eheleben und von dem ewigen Gerede? Aber nein, er liebte sie doch während der Abwesenheit viel inniger! Hier, mitten auf See, war er ihr doch so unsagbar nahe, hier hatte er doch so viel Angst um sie.
Konnte ein Mann nicht sowieso viel besser aus der Ferne lieben?
Robert Rösch sah auf seine Hände.
Achtundzwanzig Zentimeter wurden diese Kurznasenseefledermäuse lang. Sie lebten auf flachem, sandigem Grund, auf Korallensand, aber auch auf Schlamm und Tang.
Langsam schoben sie sich mit Hilfe von Brustflossen und Schwanz über den Boden, ernährten sich von Weichtieren, kleinen Fischen, Krustentieren und Würmern, und nur wenn er ihnen mit eben dieser Langsamkeit auf den Leib rücke, hatte Robert Rösch begriffen, könne er ihnen die harte, stachlige Haut abziehen, die in der Umgebung von Bordeaux mit Gold aufgewogen wurde.
Hier habe er eine Aufgabe, eine echte und einzigartige Arbeit, sei er an Bord doch der Mann mit den schmalsten Händen. Musikerhände. Robert Rösch habe die Kurznasenseefledermaus verstanden und häute sie wie kein anderer. Er sei ein echter Facharbeiter geworden. In der ganzen Fischereiflotte finde sich kein zweiter Mann, der die Fledermaus so sauber häuten könne, hatte der Kommandant einmal während eines Bordappells gesagt. Ihm, diesem schmalen Rösch da, sei es zu verdanken, dass die Heuer der einhundertsechsundsiebzig Besatzungsmitglieder mit einem Bonus von tausendsechshundert US-Dollar aufgestockt werde könne. Der Kommandant sei stolz auf ihn, auf seinen Filigranen!
Robert Rösch lächelte, während er einen weiteren Stachelrest wegpustete. Seit jenem Appell wurde er von den Männern beinahe auf Händen getragen. Keiner der Seebären, die mit den unterschiedlichsten Religionen aus den verschiedensten Regionen der Welt aufs Schiff gekommen waren, machte sich seitdem mehr über ihn lustig. Er war nicht länger der Halbstudent. Robert Rösch war der Filigrane.
Und der mächtigste Mann an Bord war also stolz auf ihn. Ausgerechnet auf ihn. Er sah kurz hoch, musterte den Horizont und sagte leise: »Aus dem Schwachen erwächst der Starke, denn Stärke ist die Fähigkeit zum Verzicht.«
Er sah auf das Gold in seinen Händen, mit dem er nun seine Familie ernährte, begutachtete die geschmeidige Seefledermaushaut ausgiebig, ehe er sie zum Kommandanten brachte, damit der sie in seiner Kajüte trocknen lassen konnte, um sie später in den Tresor einzuschließen.
»Und sonst?«, fragte der Kommandant und war erstaunt, als sein Spezialist sich mit einem Stöhnen in einen der rotbraunen Ledersessel fallen ließ und den Kopf schüttelte.
»Was gibt’s?«, fragte der Kommandant. Er sah unwirsch auf die Wanduhr, dann wieder zu seinem Arbeiter, der immer noch schwieg. Hatte er es doch gewusst! Lobe man den falschen Mann, fasse dieser ein blindes Vertrauen und rücke einem nicht mehr von der Pelle.
»Es ist Mai!«, sagte Filigraner.
»Erst in zwei Tagen, aber wir machen hier keinen ›Tag der Arbeit‹, falls es das ist, was du willst.«
Filigraner schüttelte den Kopf und sah zum Bullauge.
Rösch solle einfach mit dem Reden anfangen, viele Möglichkeiten habe er nicht, ermunterte ihn der Kommandant. Er wisse doch, dass er an Land erst recht nicht reden könne, er sei ein Seemann, ob er das nun gewollt habe oder nicht. Er sei ein Mann der See, das stehe fest, ein Seesüchtiger, der nur hier frei sei. Er sei ein Süchtiger unter Süchtigen, meinte der Kommandant und befahl: »Rede!«
Filigraner nickte, sah seinem Vorgesetzten fest in die Augen, der seinem Blick standhielt, und sagte nach einem Räuspern: »Meine Frau. Mathilde versucht, sich umzubringen.«
»Versuche zählen nicht«, sagte der Kommandant sofort und sah zum Bullauge.
»Schon drei Mal.«
»Drei Mal? Das ist viel.«
»Immer im Mai.«
Wieder sah der Kommandant zur Wanduhr, ging zum Schreibtisch, drückte einen Knopf und gab den Befehl, ihn in den nächsten zwanzig Minuten nicht zu stören. Er setzte sich zu seinem Arbeiter, goss zwei Single Malt, fünfzehn Jahre, ein und sagte: »Pack aus, Junge, erzähl schon!«
Robert Rösch nippte am Whisky und nickte: »Das erste Mal in den Bergen. Vor acht Jahren waren wir dort.«
»Ein Seemann gehört nicht in die Berge. Ganz gewiss nicht. Ein Seemann hat sich von den Bergen fernzuhalten. Erst recht, wenn er ein Fischer ist. Ein Hochseefischer.«
»Das weiß ich jetzt auch, aber Mathilde lag mir seit Monaten in den Ohren, sie wolle in die Berge!«
»Und dann hast du nachgegeben, weil du deine Ruhe haben wolltest. Keine gute Ausgangslage. Ein Mann, der nur nickt, um seine Ruhe zu haben, wird die nächsten Stürme nicht überleben.«
»Ja, Kapitän, Sie verstehen mich gut.«
Der Kommandant nickte und goss nach: »Und nach der Ruhe kam der Orkan?«
»Wegen dieser verdammten Fernsehberichte. Ich meine, da wird man doch verrückt im Kopf, wenn man immer diese Berichte aus der ganzen Welt sehen muss! Weiß doch jeder, dass es nie so ist, wie es gezeigt wird. Weiß doch jeder! – All die schönen Berge. Sonnenaufgang mit Frühnebel im Tal. Grelles Strahlen auf den Bergspitzen. Sah ja gut aus! Aber war doch nur Fernsehen! Heutzutage glauben die Leute dem Fernseher mehr als dem Nachbarn.«
»Erzähl endlich, halte mich nicht hin! Zehn Minuten habe ich noch für dich, dann muss ich wieder zum Kartentisch.«
»Bergkämme mit Schnee, der nie taut! Der noch nie getaut ist. Niemals, ich meine, was weiß so ein Schnee schon vom Schmelzen? Was weiß so ein Berg schon vom Tal? Kindischer Angeber! Der kennt doch gar nichts, keine Gefahr, keine Tücken, nichts, und wir aber hin da! Mit dem Auto.«
»Ausgerechnet mit dem Auto von der Ostsee in die Berge, sag mal, seid ihr bekloppt? Da gibt’s schöne Nachtzüge und alles.«
»Aber mit dem Auto hast du den Vorteil, jederzeit umkehren zu können. Jederzeit, das war ja mein Plan. Drei Mal verfahren und mit großem Tamtam: Jetzt reicht es mir aber! Jetzt kehren wir um! – Blöder Süden, macht einen ganz verrückt! – Und ich hatte vergessen, meine Frau stammt ja aus Bayern! Und Mathilde kannte sich da noch gut aus, sehr gut sogar, obwohl sie mit achtzehn Jahren in den Norden gekommen war. Meine Frau hatte wohl einfach Sehnsucht, als wäre die Erinnerung an die Kindheit die Kindheit selbst. – In München habe ich sieben verdammte Sackgassen ausprobiert, aber Mathilde hat uns durch die Stadt gelotst, als wäre sie da tatsächlich zu Hause. – Als wir aus München raus waren, immer noch Richtung Süden, da saß ich dann plötzlich auf dem Beifahrersitz! Damit hatte ich nicht gerechnet. Ab diesem Moment war die Sache gelaufen. Mathilde fuhr unsere alte Kutsche, diesen uralten Mercedes, und der war ja viel zu breit für die schmalen Bergwege da. Ich saß auf dem rechten Sitz und musste bald mit einer verdammten Seekrankheit kämpfen. Die schmalsten Wege hoch und runter, wieder hoch und wieder runter, Sechzig-Grad-Kurven, Neunzig-Grad-Kurven, steuerbord der Abgrund, backbord die Felshänge und alle zweihundert Meter entgegenkommende Fahrzeuge, ich meine, es ist doch Todessehnsucht, die einen in die Berge lockt. Ich meine, auf den Bergkämmen sitzen all die Tode zusammen und spielen Skat, und wenn es einem von ihnen mal langweilig wird, dann lockt er seinen Menschen hoch, um ihn dann im Gelächter hinunter zu stoßen. Ich hab es selbst gehört, Kapitän, dieses Grollen, kurz bevor die Lawinen sich losmachen. Steinlawinen! Laut wie tauende Eisberge! – Himmelangst wird einem da bei den Wegen, die man Straßen gar nicht nennen kann, gar nicht. Viele hatten nicht einmal Teer auf dem Buckel, einfach Schotter, der die Tausende von Metern hinunterrieselte, sobald wir auf ihm fuhren. Kapitän, ich hab’s doch gesehen! – Zum Glück kamen uns nur Einheimische entgegen, die die Wege zu nehmen wussten. Was die da oben herumkurvten! Und vom Bremspedal hatten sie auch noch nie etwas gehört. Zuerst ging ja alles gut, kam uns einer entgegen, Mathilde rechts ran, Warnblinker raus und abgewartet, bis die Einheimischen das Umschiffen schon irgendwie gemeistert hatten. Ich meine, nicht wenige, die anhielten und fragten, ob unsere alte Kutsche defekt wäre. – Und als die Frager dann immer durch das Fahrerfenster sahen – Mathilde beruhigte sie mit einem Lächeln –, da wurden sie immer ganz mitleidig. Sie brauchten bloß meine blasse Fresse sehen, schon war ihnen alles klar. Richtiggehend fürsorglich wurden sie dann, aber ich hatte immer nur abgewunken, war still geblieben, schweigsam, wie es sich in der Fremde für einen Hochseefischer gehört. – Nicht vorzustellen, wenn uns ein Kennzeichen HH oder HWI entgegengekommen wäre, nicht vorzustellen. – Wir fuhren in die Nacht rein, ich sagte, wir sollten lieber in einer Pension einkehren und uns am nächsten Tag den Gipfel vornehmen, aber Mathilde wollte unbedingt zur Großen Klammspitz, unbedingt! Sie meinte, da befände sich eine Berghütte, da könnte man übernachten. Sie wollte am Morgen die Sonne am Gipfelkreuz begrüßen, das selbst wie eine Sonne gebaut wäre. – Ich meine, was soll man dagegen schon sagen? – Schließlich sind wir in Oberammergau. Fahren durch den Ort, und jetzt war da wirklich eine Sackgasse vor uns, aus der auch Mathilde nicht mehr herauskommt. Diese Sackgasse ist aber unser Ziel. Sie mündet in einen Parkplatz, wir ziehen den Parkschein, und dann gehen wir den Weg an, er führt steil hoch. Zuerst noch stabile Steinstufen, dann Holzstufen, dann nur noch Lehm, Steinchen und Sand. Mathilde mit der Taschenlampe in der Hand voran, immer dem Weg hinterher, der sich hochschlängelt, der einfach nicht aufgeben will. Genau wie Mathilde, auf einmal ist sie ganz und gar Einheimische. Ich keuche hinter ihr her. Sie wartet an manchen Kurven und grinst mich in der Dunkelheit an, aus der eine Kälte steigt, die einen fast lähmt. Mathildes Atem vor ihrem Lächeln, und das Einzige, was sie sagt: ›Zurück geht nicht, wir müssen zur Berghütte, die haben die ganze Nacht auf.‹ – ›Na, wenn du meinst‹, sage ich, und dann sage ich nichts mehr. Jedes Wort zieht ja doch nur ein anderes nach sich, und was am Ende bei rumkommt, das ist ein handfester Streit, mitten in den Bergen, über den die Tode sich dann köstlich amüsieren. Ruckzuck ist da dann eine Steinlawine im Anmarsch; nein, nein, da heißt es, besonnen bleiben und die Schnauze halten, wenn man überleben will. Überleben in fast zweitausend Metern Höhe, Kapitän, das ist nicht leicht. Oberammergau liegt auf achthundert Metern, nach drei Stunden bist du über die Sonnenspitze drüber und bei den Pürschlinghäusern, die sich auf tausendsechshundert Metern am Pürschlingkopf befinden. Wir haben achthundert Meter Höhenunterschied überwunden, aber Mathilde will unbedingt noch über den Hennenkopf zur Brunnenkopfhütte, die sich auf tausendsiebenhundert Metern beim Brunnenkopf befindet. Nicht mehr so steil, aber du weißt ja, Kapitän, die Länge trägt die Last. Noch mal sechs Kilometer, die wir kurz vor Mitternacht auch geschafft haben. Zum Glück leuchten uns der Vollmond und die Sterne, es ist zum Glück nicht so dunkel. Ich falle sofort ins Bett, Mathilde trinkt noch ein Selbstgebrautes mit den Wirtsleuten, ich schnarche schon im Rhythmus der anderen Wanderer. Am Morgen holt mich Mathilde aus dem Bett, wir waschen uns draußen unter der Brunnenpumpe. Das kalte Wasser tut uns gut. Obwohl es immer noch dunkel ist, sind wir mit einem halben Dutzend Lunchpaketen schon auf dem Weg zur Großen Klammspitz, die Mathilde unbedingt bezwingen will. Weiß der Teufel, wieso, der weiß es! Obwohl, es gibt ja gar keinen Teufel, es gibt ja nur Gott, wenn er betrunken ist. – Und an diesem Morgen war Gott betrunken! – Kaum haben wir die Hütte hinter uns, sind gerade in einem Tal angekommen, da stehen wir auch schon vor einer Felswand! Ich frage: ›Spinnst du?‹ Mathilde schüttelt den Kopf und fängt an zu klettern! Wir sollen klettern! Eine Wand, so steil wie die Außenhaut unseres Schiffes! Von Einkerbung zu Einkerbung und mit jedem Schritt an diesem Kalkfelsen werden die Grasbüschel und das Gestrüpp weniger. Schließlich nur noch Stein und Fels. Noch etwa zehn Meter, da bleiben wir plötzlich auf den Steinchen stehen, die schnell ins Rutschen kommen. Ich schiebe mich an Mathilde vorbei, weil mir die Sache zu gefährlich wird. Ich will mich auf diesen verdammten Kamm setzen und meinem Tod sagen, er solle sich ein anderes Hobby suchen, wenn ihm die Skatspiele zu langweilig werden. – Doch Mathilde ist immer noch an der gleichen Stelle und reagiert nicht mehr auf meine Rufe. Ich bin oben, lege mich auf den Bauch, strecke den Arm aus, sie braucht nur zuzufassen, so dicht ist sie, aber sie tut es nicht. Sie dreht sich um, in diesem Augenblick steigt die Sonne über einen anderen Kamm, noch ganz rot vom gestrigen Saufen mit Gott, und Mathilde nimmt die Hände vom Berg! Mit den Sohlen rutscht sie, erst ein paar Zentimeter, dann Meter! Sie hält sich nicht fest, ihr Körper kommt ins Rollen, sie überschlägt sich, ihre ganzen schönen Lunchpakete gehen über Bord! Mathilde rollt runter, das begreife ich jetzt erst. Ich sehe ihrem Rollen zu, keine Anstalten, sich festzuhalten, ich schwöre es, keine Anstalten! – Schließlich knallt sie nach fünfzig Metern auf einen Felsvorsprung, zum Glück, macht noch ein paar Umdrehungen, bleibt aber auf dem Vorsprung liegen, zum Glück! Auf dem Rücken, Arme ausgebreitet, Gesicht in den Himmel, aufgeplatzte Tomaten um sie herum, und ich höre ihren Tod feixen! Lawinenlachen, Kapitän, du weißt, was ich meine. – Mir wird sowas von schwindlig! Ich kann mich nicht mehr bewegen, da auf diesem Grat. Ich starre nach unten, und alles dreht sich mir vor Au...

Inhaltsverzeichnis

  1. Inhalt
  2. Teil 1
  3. Teil 2
  4. Teil 3
  5. Teil 4
  6. Teil 5
  7. Epilog
  8. Anhang