Banatsko
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Banatsko

  1. 242 Seiten
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Banatsko

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Über dieses Buch

Banatsko ist die Feier einer Landschaft, des nördlichen Banat.Noch nie wurde dieses Niemandsland zwischen Ungarn, Serbien und Rumänien mit einem so liebenden Blick betrachtet, seine melancholische Poesie so zum Blühen gebracht wie in diesem neuen Roman von Esther Kinsky.Während der Leser sie in die halbverfallenen Straßenzüge Battonyas und die sie überwuchernde, sirrende und flirrende Natur begleitet, erzählt sie von einem alten Kino, den Kontakten zu den Dorfbewohnern, einer Liebschaft und der langsamen Eroberung des eigenen Zuhauses in dieser neuen Welt. Vom Rhythmus ihrer Sprache getragen wird der Alltag im ländlichen Banat zum Erlebnis, Kinsky macht ihn hörbar, riechbar. In aller Stille ereignet sich dabei Welt: Den Worten und Dingen wird eine Bedeutung verliehen, die aus der langsamen Annäherung an die fremde Sprache erwächst. Durch genaues Hinsehen wird Einzelheiten auf den Grund gegangen, mit einem Blick, der den Schmerz, der den Dingen innewohnt, mitfühlt, ihn aber nicht beklagt.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783882215755

BATTONYA

In den Gärten standen die Tulpen, vor allem die grellroten, die irgendwann einmal Mode geworden waren, Feuertulpen, sagte meine Nachbarin stolz, wir haben auch Feuertulpen.
Die Köpfe der Feuertulpen waren zu groß für die Stängel, die verdrossen unter ihrer Last schwankten. Die Blüten waren schwarz geädert und trugen einen schwarzen Kranz um den Ansatz der Blüte. Die ganze Blume welkte nicht wie in ihre Blüte verschwendet, sondern als verrunzelte sie aus Unerfülltheit. Als sei sie ihrer eigenen Fleischigkeit nicht gewachsen, als wären die schwarzen Adern bereits Anzeichen dieser Unglückseligkeit.
Der bucklige Nachbar pflegte seine Kartoffeln und machte sich in seinem Hof zu schaffen, in dem alles grau war, wie ich einmal durch das offenstehende Tor sah: graue Bretter, graue Betonbrocken, graue Erde und graue Hühner. Ein grauer Hund kläffte an einer grauen Leine. Inmitten der Tulpengärten sah der Hof aus wie eine Graukammer, wo alle andere Farbe verschluckt wurde. Hier ersäufte der bucklige Nachbar auch die blinden Eintagskätzchen, die man ihm brachte, er verstand sich darauf, wie es hieß, und erklärte gern, in so jungem Alter glitten die Kätzchen ohne die geringste Widerborstigkeit in den Tod, fast so, als ginge es zurück in den Mutterbauch.
Die Bartnelken blühten, die in meiner Kindheitssprache Tausendschönchen hießen, Schrebergartenblumen, die auch in verlassenen Laubenkolonien noch büschelweise zwischen dem Unkraut standen. Auf Ungarisch wurden sie Türkennelke genannt, in Margits Garten standen sie in langen Reihen. Ich habe so viele Gräber, sagte Margit wie zur Entschuldigung für ihre Blumen. Säuberlich und gerade aufgereiht wuchsen sie, von den hohen Narzissen, die nichts mit den windwirren kleinen gelben und weißen Sternen in den Marschen des früheren Lands zu tun hatten, bis hin zu den verwaschenen Astern und Chrysanthemen im Herbst waren sie alle nur für die Toten, für Kinder, Väter, Tanten unter ihrem Grabgestein.
Ich fuhr in diesem Frühsommer über die Dörfer zwischen Mures, Maros, Tisa und Tisza und wusste nicht, was ich suchte. Abends kehrte ich nach Battonya zurück, manchmal saß Attila noch an dem kleinen Fluss, oder auf der Veranda, als wüsste er nicht, worauf er wartete.
Was hast du heute gemacht?, fragte ich dann.
Gearbeitet, sagte er.
Ich erzählte ihm in meinen Stückelworten, was ich gesehen hatte. Ich brachte Kiesel mit, Blumen, abgeknipste Filme, den Staub von der anderen Seite der Grenze. Er strich über die Steine oder die Blumen, dann ging er nach Hause.
Attila arbeitete weiter im Kino. Er ließ die Eingangstüren offenstehen, die bräunlich-goldgemusterten Vorhänge blähten sich im Durchzug, die Sonne schien ins Foyer. Das Kino behielt seinen Geruch weit entfernter Zeit. Die schweren Wollvorhänge mit den Kunstlederkanten hielten ihn fest, der rötliche Linoleumboden, die hellbraunen Sessel, er widerstand jedem Luftzug, womöglich sogar jedem Wasser und Reinigungsmittel. Ich saß im Dunkel und dachte an das Kino meiner Kindheit, ein Kino, in dem von morgens bis abends dasselbe Programm lief, ein Kino am Bahnhof, ein Aufbewahrungsort der Zwischenzeiten, für Heimatlose, Ortlose, in das mein Vater uns schob, wenn er nichts mit uns anzufangen wusste, wo wir auf ebensolchen Sesseln wie in Battonya hockten und die flackernden Bilder ferner Kriege und wilder Tiere über unsere Gesichter streiften, wo unrasierte Männer in den dunklen Hinterreihen schliefen, Leute kamen und gingen, während wir sahen, was es zu sehen gab, bis mein Vater uns abholte, uns im Dunkel fand und aus den Sesseln zog, flüsternd, tastend, durch den dicken Vorhang mit den kalten Kunstlederkanten drückte, die weinenden Frauen, unfehlbar lustigen Familien und schießenden Soldaten hinter uns blieben, bei unserer kleinen, in den Sesselritzen wohnenden Angst, mein Vater könnte uns einmal nicht wiederfinden.
Manchmal setzte Attila sich neben mich, er rauchte und redete, als wollte er sich selbst etwas von früher erzählen, von den fröhlichen Gasthäusern in Komárom und den rostigen Kähnen am Donaurand.
In meiner Kindheit lebte ich an einem großen Fluss, und nachts hörte man die Schiffe, sagte ich. Das konnte ich auf Ungarisch sagen, ja besonders den Ausdruck ›In meiner Kindheit‹, ein langes weiches Wort, das mir auf Ungarisch immer wie ein Ort erschien und nicht wie eine Zeit, benutzte ich mit Vorliebe. Was ich nicht sagen konnte, war, dass sich das Tuckern der Kähne in der Nacht anhörte wie in einem großen leeren Raum, als seien Nacht und Dunkelheit eine Kuppel, die sich über die Welt stülpte und sie abschloss, alles hallte darin wider, auch die Eisenbahnen, die längs des Flusses fuhren, und die in dieser Kuppel unweigerlich irgendwo an eine Wand prallen würden.
Wir wohnten zwischen den Hügeln, und ich hörte die Kähne nie, antwortete Attila.
Ich lernte das Wort für Leinwand. Die Leinwand im Kino hing schief vor dem Hohlraum der Bühne, sie war rissig und morsch, von unzähligen kleinen Punkten durchsetzt, wie durchschossen von den Lichtstrahlen aus dem Projektor. Die Bühne dahinter ein staubbedecktes Feld von Gegenständen, die ihrem Nutzen, ihrer Zugehörigkeit zu einer Funktion vollends entglitten und entfremdet waren. Sie schliefen dort in diesem dunklen Hohlraum, im Schutz der durchstrahlten Leinwand, wo es keinen Namen mehr für sie gab, sie allenfalls neuen Namen und Bezeichnungen entgegendämmern konnten, die dem, der sie dort wiederfand, aufhob, berührte, ins Licht hielt, einfallen mochten.
Die frühe Sommerhitze kroch allmählich in jeden Spalt und Winkel. Im Garten hinter dem Kino stiegen die Eulen mit schweren Flügeln auf, wenn sich ein Mensch dem Schatten ihrer Bäume näherte. Mittags verdichtete sich die Luft zu einem zähen Weiß. Ein Wind kam auf, trocken und heiß, an Feldrändern wanderten kleine Staubtrichter einzeln oder in Paaren, bis sie sich in Luft auflösten, graue Gespenster des Mittags. Ein schwacher Schatten der Mittagshexe, unter deren Zauber früher, vor der Zeit der endlosen Mais-, Melonen- und Sonnenblumenfelder, märchenhafte Orte in der Luft schwebten, zwischen Himmel und Erde, Verheißungen, Traumstachel.
Attila schaufelte im Kinogarten das gemähte Gras zu einem großen Haufen, die Erde war braun, rissig, mit scharfen Stoppeln bedeckt. Krumm und krüpplig standen die lange nicht mehr gestutzten Pflaumenbäume in der kahlgemähten Ödnis. Der Garten hatte nun etwas von blässlicher Geschorenheit, scheu wie lang dem Licht entwöhnte Haut. Die rissige Mauer, die ihn umgab, lag bloß. Verwunschenverwünscht, ein Ort, an dem die weitergereichten Worte von vergangener Süße an ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit versauerten und verdorrten, zu Unkraut geworden waren, dem rasenden Unkraut dieses Bodens, rotstängelig und lanzenblättrig, das auch im Laufe dieses Sommer wiederkommen und gegen Herbst schwarze, glänzende Beeren treiben würde, die nicht einmal die Vögel wollten.
Schweiß floss Attila über Gesicht, Nacken, Schultern und Arme. Die Augen hatte er zusammengekniffen, der Schweiß hing in den Bartstoppeln, sein Gesicht war vor Anstrengung eckig wie ein Schild, mit einer großen Leere um die Augen.
Heute Abend komme ich zu dir, sagte Attila in der weißen Sonne hinter seinem Schild hervor, er schaufelte dabei weiter und ruckte den Kopf, um die Fliegen von seinem verschwitzten Nacken zu schütteln.
Ich saß auf der Veranda und wartete auf Attila, Abend war eine ungewisse Tageszeit. An Schlechtwettertagen wünschte man sich hier nach dem Mittagessen eine gute Nacht. Abend hieß: nach der Arbeit, in einem Leben von Ziegel zu Ziegel, von Hammer zu Säge und Schaufel zu Hacke, einem Leben der kleinen Messbarkeiten. Am Nachmittag zogen Wolken heran, alle Schatten lösten sich auf, die Wolken zogen davon, der Himmel wurde durchsichtig, grünblau, fern. Die hohen Mohnblumen in meinem Garten ließen alle anderen Blumen klein und unscheinbar werden. Mákvirág, dachte ich, und Pipacs, die Mohnblumen hatten aufgehört Mohnblumen zu sein, denn ich war in der Fremde der Worte angelangt, hatte darin Platz genommen, saß auf einer Bank, die keine Bank war und meine Finger strichen über ein Tuch, das kein Tuch war, ich wusste nicht, wie es hieß, nicht einmal die Farben darauf hätte ich zu bezeichnen gewusst, denn das Wort, das hier für mein dunkles Rot galt, war ein leerer Fleck. Ach, die rotweißkarierte Decke, so dachte ich früher, wenn ich die Decke entfaltete und ausbreitete und eine Vase mit Blumen darauf stellte, doch jetzt dachte ich nichts, und jeder Gedanke darüber, ob der Name die Dinge ins Sein ruft oder ob das Benennen und Aussprechen der Namen nur das Hineinziehen der bestehenden Dinge in die Existenz des Einzelnen ist, eine Art Bebilderung des Daseins, jeder solche Gedanke ermüdete mich, denn ich gewöhnte mich an die Un-Sprache, an die Attilasprache der beiläufigen Worte, eines Zierrats um die Sprache der Gebärden und Blicke.
Die buckligen Geschwister schlichen durch ihr Kartoffelfeld und legten die Schläuche aus, um das Feld zu wässern, die Schwester schaute zu, wie der Bruder die Pumpe betätigte. Nachtschattengewächs dachte ich, das war ein Wort, das mein Vater mich lehrte, an einem Winterabend, als der Mond ins Fenster des Kinderzimmers schien, und der Geruch nach Kohlenrauch und Nebel durch alle Ritzen drang, und seither erschien mir bei diesem Wort ein Tier.
Attila kam und brachte mir eine Blume mit. Sie hatte dicke fleischige Blätter und kleine orangefarbene Blüten. Wie heißt diese Blume?, fragte ich.
Ich weiß es nicht, sagte er, es ist einfach eine Blume.
Wir tranken den sauren Wein von Nachbar Todor. Der Wein war leicht und ein wenig bitter, zu beiden Seiten der Blume und der Weinflasche schwiegen wir in den heraufziehenden Abend.
Bald bekommt meine Ziege wieder Junge, sagte Attila schließlich.
Und dann?, fragte ich. Werden sie im Winter geschlachtet?
Attila zuckte mit den Schultern.
Schneidest du ihnen die Kehle durch?, fragte ich, und ich fühlte, wie ich mit der Hand eine Bewegung machte, die ich noch nie gemacht hatte, ein Vorbeiziehen der flachgestreckten Hand an meiner Kehle, bei dem ich den Kopf leicht vorreckte, eine Geste, wie ich sie in Filmen gesehen hatte, und vor vielen Jahren einmal durch die Staubwolken eines Hitzewinds, in einer Gruppe gebrechlicher Bettler am verlassenen Bahnhof von Copsa Mica in Rumänien, vor dem Hintergrund der Berge.
Nein, sagte Attila, der Schlächter kommt, a hentes, ein Wort, das aufdringlich an Henker denken ließ.
Im Kinogarten singt ein Vogel wie an dem Ort, aus dem ich komme, sagte Attila. Wie daheim.
Daheim, dachte ich, was für ein Wort. Ein Wort wie ein Schrank, den man auf- und zumachen kann. Ein Schrankwort, in dem das gefaltete Leben liegt. Kannst du das bitte wegfalten, sagte mein Großmutter früher beim Aufräumen und gab mir ein Tuch oder ein Hemd in die Hand.
Ich setze mich in den Schatten und höre dem Vogel zu, dann höre ich die Hunde nicht mehr, sagte Attila. Dann ist alles nur noch in mir. Dafür braucht man keine Worte.
Jeden Tag erwartete man ein Gewitter. Es donnerte von fern, Wolkenschatten machten den letzten Klatschmohn zwischen den kurzen Maisschwengeln der Grenzfelder matt und dumpf, die Grenzer hockten auf den zerkratzten Bänken im Warteraum des Bahnhofs und erhoben sich nur, um die Stummel ihrer Schmuggelzigaretten verdrossen draußen auf dem Schotter auszutreten. Kein Regen stellte sich ein, nur diese Wind- und Wolkenschübe, die Verdunkelung der Welt, in der die kleinen radelnden, wandernden, rollenden, trabenden Menschen, Wagen, Pferde gegen etwas ankämpften, das sich hinter den Kulissen zusammengebraut hatte und dorthin auch wieder abzog.
Im Kino wurde es finster, wenn die Wolken aufzogen. Der Wind drückte die schweren eisengerahmten Klappfenster im Seitenflur auf, fuhr über die Fotografien von Schauspielern mit ihrem fernen Lächeln, stieß in die braunen filzigen Vorhänge an den Ein- und Ausgängen des Zuschauerraums. Staubflocken, Schnipsel, Blättchen abgeplatzter Farbe tanzten über dem rötlichen Fußboden, Linoleum mit abgetretenem Ziegelmuster, über das die Battonyaer früher ihre Träume oder gar Leidenschaften aus dem Kino nach Hause geschleift hatten.
Die Leinwand war abgebaut. Die Bühne dahinter lag offen, und Attila verputzte die Stirnwand von einem hohen Gestell aus. Er strich über den Putz, bis er glatt und eben war wie ein Tuch.
Vor der Bühne standen alte Fotos aufgereiht, blau- und rotstichige Schauspielerporträts, auf denen die Männer spitzkrägige Hemden trugen, die Frauen die Haare in Locken gelegt, hochtoupiert oder unter ein breites Haarband gepresst hatten. Mit dem Finger wischte ich Staub von den Rahmen, Spinnweben von den Gesichtern. Manche kamen mir bekannt vor, sie alle sahen aus wie Zubehör einer anderen Welt, Requisiten des großen Films Damals, in dessen entlegenen Hintergründen die ärmellosen gepunkteten Sommerkleider meiner Mutter eine ebensolche Rolle spielten wie Zirkuswagen auf langen leeren Landstraßen, ein Fisch auf dem Küchentisch einer Moskauer Gemeinschaftswohnung, die dunklen Kähne auf einem breiten Fluss im Regen, Schallplattengeschäfte mit schweren schwarzen Kopfhörern und die Zwerge zu Füßen von Lola Montez.
Hattest du früher einen Lieblingsfilm?, fragte ich Attila, als er eine Pause machte. Er saß oben auf der Bühne auf seinem Gestell und rauchte. Die Asche fiel in einen leeren Farbeimer.
Ich mag alle Filme, die gut enden, sagte er.
Was ist ein gutes Ende?, fragte ich.
Zum Beispiel die Liebe.
Attila schnipste seinen Zigarettenstummel in den leeren Eimer.
Meine Mutter liebte traurige Filme, sagte er. Sie ging gern ins Kino. Sie kam nach Hause und erzählte die Filme, dabei lachte und weinte sie. Später wurde sie sehr krank und konnte nicht mehr sprechen. Sie hatte einen Krebs im Hals.
Er sah mich fragend an, um zu sehen, ob ich ihn verstanden hatte. Dann legte er die Hand, in der er vorher die Zigarette gehalten hatte, an seinen Hals, und drückte sie um seinen Kehlkopf.
Während der Krankheit saß sie immer am Fenster und schaute hinaus. Sie betrachtete ihre Pfauen, das waren ihre Lieblinge. Vier Pfauen, die im Hof spazierten. Wenn sie eine schöne Feder verloren, musste ich sie ihr bringen. Ich kochte ihr das Essen, und was sie nicht aß, gab ich den Pfauen. Einmal brachte ich ihr eine Honigmelone. Es war sehr heiß. Sie schüttelte den Kopf. Das ganze Zimmer roch nach der Melone. Am nächsten Tag wollte sie auch nichts essen. Mir wurde vom Geruch der Melone schlecht. Ich trug die Melone in den Hof und warf sie auf den Boden. Sie platzte auf, die Pfauen eilten herbei und fraßen das Melonenfleisch aus der Schale. Ich fuhr meine Mutter ins Krankenhaus. Die Krankenschwestern legten sie in ein Bett, sie winkte mir zu. Ich ging hinaus. Ich lief durch die Nacht und rauchte. Alles war leer, alles roch nach Melone. Als ich wieder ins Krankenhaus kam, war meine Mutter tot. Die Pfauen wurden krank. Die Federn waren stumpf und struppig. Sie hatten vom Tod meiner Mutter gefressen.
Es war ganz still im Kino. Ich formte einen Satz in meinem Kopf, den ich sagen konnte, aber ich verschwieg ihn. Mein Vater, wollte ich sagen, mein Vater starb an einem Junitag ganz allein in einem Krankenhaus in Deutschland. Ich lebte weit entfernt an einem Ort, wo es der heißeste Tag jenes Sommers war. Es war so heiß, dass der Asphalt auf den Brücken schmolz und mein Schuh darin stecken blieb.
Ich werde einen vollkommen schwarzen Rahmen um die Wand malen, dann sieht es aus wie eine Leinwand mit Vorhang, erklärte Attila mit ausgebreiteten Armen von seinem Gestell herab.

DIE MONGOLEI

Auf halbem Weg zur Grenze hinter Battonya lag der Müllplatz. ›Mongólia‹ stand auf einem blauen Pappdeckel am Maschenzaun, Hunde an kurzen Ketten schlugen an und zeigten die Zähne.
Die Straße dorthin führt an der Schweinezucht vorbei, diese liegt in einer Schlamminsel, die sich nach langer Trockenheit in eine Staubinsel verwandelt, und im steten gedämpften Dröhnen unsichtbarer Geräte bebt. Bis zu ihrem frühen Tod leben die Schweine umsurrt von Motoren oder Apparaten, die der grenzenlose Fleischhunger der Gegend in Gang hält.
Der König der Mongolei hatte einen borstigen Schnurrbart. Er lebte in großer Nähe zu seinen Hunden in einem Verschlag hinter dem Zaun. Seine Augen glänzten immer fiebrig, und sein Atem ging schwer, er war mager und eckig und hatte viele Namen, man nannte ihn bald Laci, bald Feri, Zoli oder Józsi, als wäre sein Name beliebig.
Von der Grenzstraße führte ein schmaler Weg aus großen Betonplatten zum Müllplatz. In den Spalten zwischen den geborstenen Platten quollen Gras und Quecken hervor. Der Weg stieß ins struppige Hinterland der Grenze, in die brackwässrige, hitzerissige oder schneeblaue Leere, wo es sommers Schlangen gab und schrille Vögel und immer die Hunde der Mongolei. Hier, rings um die Mongolei, lag die stockende Weite unter dem Knistern und Sirren der Stille, jeden Ton trug sie scharf und flach weiter, das Bellen der Hunde, das Klirren der Kette um das Tor zum Müllplatz, das Husten des Königs, die Worte, die hier gewechselt wurden, kantige, beharrliche Lautgewächse der gestrüppigen Leere.
Der König der Mongolei hütete das große schiefe Tor zum Müllplatz. Er hatte es von seiner Bude aus stets im Blick, auch wenn er an einem Kofferradio bastelte, die kümmerlichen Reste eines Gerätes sortierte oder für die Hunde schmierige Schweinsknochen aus grauem Papier wickelte. Er zog das Tor auf, das knirschend über den Boden schleifte, manchmal erhob er einen Zoll fürs Abladen, meistens schwieg er nur und lungerte am schwankenden Torflügel, während seine Hunde die Zähne fletschten und heiser kläfften und der Gast seinen Müll ablud.
Der Müll türmte sich, der König wühlte darin und sortierte Brauchbares vom Unbrauchbaren. In der Sommerglut sah er den gelegentlichen Schwelbränden eine Weile untätig zu, bis er die Feuerwehr rief, der Gestank kroch über das Brachland, das Feuer war schnell gelöscht.
Das Unbrauchbare hatte in der Mongolei keinen Namen mehr, es wurde zum Das da, einem Haufen Zerfall zwischen den Hundehütten, vor dem sich das Brauchbare in Erwartung irgendeiner Zukunft türmte, Schrott, Lumpen, Holz.
Dann blieb das Tor zur Mongolei geschlossen, ›Zárva‹ stand auf einem Pappschild, zwischen Streben und Maschendraht geklemmt, dass es ›Mongólia‹ halb verdeckte. Die Hunde bellten, sie rissen an ihren Ketten, schrillten ihr immer wütenderes Gekläff in die Hitzeluft, es war Sommer, und der König ließ sich nicht blicken. Die Tür zu seiner Bude hing im Wind, der sich mittags erhob, drinnen lungerten Schatten. Die Müllgäste luden ihren Abfall erst vor dem Tor ab, dann am Rand des rissigen Wegs, zwischen Unkraut und Schilfgras, Anhäufungen der endgültigen Nutzlosigkeit im Land der Entbehrungen. Wenn die Hunde schwiegen, war die Stille über der Weite wie ein Würgeband. Der König blieb aus, doch die Hunde bellten weiter, als ernährten sie sich von dem Dasda-Haufen, den der König der Mongolei ihnen bestimmt hatte.

HALTA ARANCA

Am Bahnhof von Periam warteten Reisende auf den Zug nach Arad. Ein grauer heißer Samstag nach dem Markt war vorbei, in der Luft um den Marktplatz hing noch der Geruch von heißem Öl, in dem Würste gebraten und Langos gebacken worden waren, ein beißender Rau...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Battonya
  6. Der Aufenthalt
  7. Stadt
  8. Battonya
  9. Stadt
  10. Battonya
  11. Das frühere Land
  12. Battonya
  13. Der Akkordeonspieler
  14. Battonya
  15. Der Melonenwächter
  16. Battonya
  17. Stadt
  18. Mezöhegyes
  19. Battonya
  20. Das frühere Land
  21. Battonya
  22. Totenland
  23. Határ
  24. Battonya
  25. Warten
  26. Battonya
  27. Der Fleischer
  28. Turnu
  29. Das Werk
  30. Battonya
  31. Hunger
  32. Der Zaun
  33. Arad
  34. Stadt
  35. Arad Nou
  36. Covasinţ
  37. Der Apfelbaum
  38. Battonya
  39. Die Reisen
  40. Krähenland
  41. Kanijža
  42. Battonya
  43. Das Meer
  44. Gottlob
  45. Grabaţ
  46. Lenauheim
  47. Der Fisch
  48. Jimbolia
  49. Frontiera
  50. Battonya
  51. Granica
  52. Bočar
  53. Pađej
  54. Die Fischsuppe
  55. Senta
  56. Stadt
  57. Battonya
  58. Die Mongolei
  59. Halta Aranca
  60. Arad
  61. Battonya
  62. Die Liebe