Durch den Schnee
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Durch den Schnee

Erzählungen aus Kolyma 1

  1. 342 Seiten
  2. German
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Durch den Schnee

Erzählungen aus Kolyma 1

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

"Wie tritt man einen Weg in unberührten Schnee?"Schalamows Erzählungen gehören zu den herausragendsten Leistungen der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Autor geht darin einer Schlüsselfrage unserer Gegenwart nach: Wie können Menschen, die über Jahrhunderte in der Tradition des Humanismus erzogen wurden, Auschwitz, Kolyma hervorbringen? Schalamow zieht den Leser der Erzählungen aus Kolyma, deren erster Zyklus in diesem Buch versammelt ist, in die Gegenwart des Lageralltags hinein, ohne Hoffnung auf einen Ausweg: "Viele Kameraden sind gestorben. Aber etwas, das stärker ist als der Tod, ließ ihn nicht sterben. Liebe? Erbitterung? Nein. Der Mensch lebt aus denselben Gründen, aus denen ein Baum, ein Stein, ein Hund lebt."

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783882211290

Die Juristenverschwörung

In Schmeljows Brigade wurde die menschliche Schlacke geschaufelt — die Humanabfälle der Goldminen. Drei Wege führten aus dem Tagebau, in dem Sand gewonnen und Torf abgebaut wird: »an den Berg« – das heißt in die anonymen Massengräber –, ins Krankenhaus oder in die Brigade Schmeljow — die drei Wege eines dochodjaga. Die Brigade arbeitete dort, wo auch die anderen arbeiteten, nur wurden ihr weniger wichtige Dinge übertragen. Die Losungen »Planerfüllung ist Gesetz« und »Den Plan in die Köpfe der Hauer tragen« waren keine bloßen Worte. Man interpretierte sie so: erfüllst du nicht die Norm — hast du das Gesetz verletzt, den Staat betrogen und mußt mit einer Haftstrafe bezahlen, manchmal auch mit dem eigenen Leben.
Auch die Verpflegung der Schmeljow-Leute war schlechter, knapper. Doch ich erinnerte mich gut an die hiesige Redensart: »Im Lager tötet die große Ration, nicht die kleine.« Ich riß mich nicht um die große Ration der wichtigen Abbau-Brigaden.
Ich war erst kürzlich zu Schmeljow überstellt, vor drei Wochen, und ich kannte sein Gesicht nicht — es war im tiefsten Winter, der Kopf des Brigadiers war kompliziert in irgendeinen zerrissenen Schal gemummt, und abends in der Baracke war es dunkel, die Benzinkolymka erleuchtete kaum die Tür. Ich erinnere mich nicht an das Gesicht des Brigadiers. Nur an die Stimme, eine heisere, erkältete Stimme.
Wir arbeiteten im Dezember in der Nachtschicht, und jede Nacht erschien als Folter — fünfzig Grad sind kein Witz. Und trotzdem war es nachts besser, ruhiger, weniger Chefs vor Ort, weniger Flüche und Schläge.
Die Brigade trat zum Abmarsch an. Im Winter wurde in der Baracke angetreten, und die Erinnerung an diese letzten Minuten vor dem Marsch in die eisige Nacht zur Zwölfstundenschicht ist mir noch heute eine Qual. Hier, in diesem unschlüssigen Gedränge an der halbgeöffneten Tür, durch die Eisdampf hereinkriecht, zeigt sich der menschliche Charakter. Einer unterdrückte das Zittern und schritt geradewegs in die Dunkelheit, ein anderer zog noch eilig an einer Machorka-Kippe unbekannter Herkunft, die weder den Geruch noch eine Spur von Machorka enthielt; ein dritter schützte sein Gesicht vor dem kalten Wind; ein vierter stand am Ofen und hielt die Handschuhe darüber, um die Wärme darin aufzufangen.
Die letzten stieß der Barackendienst aus der Baracke. So wurde es überall, in jeder Brigade, mit den Allerschwächsten gemacht.
Mich stieß man in dieser Brigade noch nicht hinaus. Hier gab es noch Schwächere als mich, und das verschaffte mir eine gewisse Beruhigung, eine gewisse unverhoffte Freude. Hier war ich vorläufig noch ein Mensch. Die Stöße und Fausthiebe des Barackendienstes waren in jener »goldenen« Brigade geblieben, von der man mich zu Schmeljow versetzt hatte.
Die Brigade stand in der Baracke an der Tür, marschbereit. Schmeljow kam zu mir.
»Du bleibst zu Hause«, krächzte er.
»Bin ich in die Frühschicht versetzt?«, sagte ich argwöhnisch.
Von einer Schicht in die andere wurde man immer gegen den Uhrzeigersinn versetzt, damit kein Arbeitstag verlorengeht und der Häftling nicht ein paar Stunden Erholung zusätzlich bekommt. Diesen Mechanismus kannte ich.
»Nein, Romanow bestellt dich zu sich.«
»Romanow? Wer ist Romanow?«
»Da schau, der Dreckskerl, kennt Romanow nicht«, mischte sich der Barackendienst ein.
»Der Bevollmächtigte, kapiert? Er wohnt kurz vor dem Kontor. Du kommst um acht Uhr.«
»Um acht Uhr!«
Ein Gefühl größter Erleichterung ergriff mich. Wenn der Bevollmächtigte mich bis zwölf festhält, bis zum nächtlichen Mittagessen und darüber hinaus, habe ich das Recht, heute gar nicht zur Arbeit zu gehen. Sofort spürte der Körper die Müdigkeit. Doch das war eine freudige Müdigkeit, die Muskeln begannen zu schmerzen.
Ich löste meinen Gurt, knöpfte die Steppjacke auf und setzte mich an den Ofen. Gleich wurde es warm, und die Läuse regten sich unter der Feldbluse. Mit den abgekauten Fingernägeln kratzte ich mir Hals und Brust. Und schlummerte ein.
»Los, los«, der Barackendienst rüttelte meine Schulter. »Geh, und bring was zu rauchen mit, nicht vergessen.«
Ich klopfte an die Tür des Hauses, wo der Bevollmächtigte wohnte. Riegel und Schlösser klapperten, eine Menge Riegel und Schlösser, und jemand Unbekanntes schrie hinter der Tür:
»Wer bist du?«
»Häftling Andrejew, auf Vorladung.«
Rasselnde Riegel, klirrende Schlösser — und alles war still.
Die Kälte kroch unter die Steppjacke, die Füße wurden kalt.
Ich fing an, burka an burka zu schlagen — wir trugen keine Filzstiefel, sondern gesteppte, aus alten Hosen und Wattejacken genähte Watteburki.
Wieder klapperten Riegel, und die Doppeltür ging auf und ließ Licht, Wärme und Musik heraus.
Ich trat ein. Die Tür vom Flur zum Eßzimmer war nicht geschlossen — dort spielte der Radioempfänger.
Der Bevollmächtigte Romanow stand vor mir. Genauer gesagt, ich stand vor ihm, und er, kleingewachsen, füllig, nach Parfum duftend, wendig, wuselte um mich herum und musterte mit schnellen schwarzen Augen meine Gestalt.
Der Häftlingsgeruch drang an seine Nase, und er zog ein schneeweißes Taschentuch hervor und schüttelte es. Wellen von Musik, Wärme und Eau de Cologne ergriffen mich. Die Hauptsache — Wärme. Der Holländerofen glühte.
»Jetzt kennen wir uns«, sagte Romanow entzückt ein paarmal, rannte um mich herum und wedelte mit dem parfümierten Taschentuch. »Jetzt kennen wir uns. Nun, komm rein.« Und er öffnete die Tür zum Nebenzimmer — einem kleinen Kabinett mit Schreibtisch und zwei Stühlen.
»Setz dich. Du wirst es nie erraten, weshalb ich dich herbestellt habe. Möchtest du rauchen?«
Er kramte in den Papieren auf dem Schreibtisch.
»Wie ist dein Vor- und Vatersname?«
Ich antwortete.
»Geburtsjahr?«
»Neunzehnhundertsieben.«
»Jurist?«
»Ich bin eigentlich kein Jurist, aber ich habe in Moskau an der Juristischen Fakultät studiert in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre.«
»Dann bist du Jurist. Hervorragend. Bleib hier sitzen, ich mache einen Anruf, und dann fahren wir beide.«
Romanow glitt aus dem Zimmer, und bald darauf wurde die Musik im Eßzimmer ausgeschaltet und er sprach am Telefon.
Ich schlummerte auf dem Stuhl ein. Ich träumte sogar irgendwas. Romanow verschwand ein paarmal und tauchte wieder auf.
»Hör zu. Hast du irgendwelche Sachen in der Baracke?«
»Ich habe alles bei mir.«
»Na, hervorragend, wirklich hervorragend. Jetzt kommt das Auto, und wir beide fahren. Weißt du, wohin wir fahren? Das errätst du nicht! Direkt nach Chattynach, in die Verwaltung! Warst du schon da? Na, ein Scherz, ein Scherz...«
»Mir ist alles egal.«
»Das ist gut.«
Ich zog die Schuhe aus, knetete die Zehen und wendete die Fußlappen.
Die Wanduhr zeigte halb zwölf. Selbst wenn das alles Scherze waren mit Chattynach, würde ich trotzdem heute schon nicht mehr zur Arbeit gehen.
In der Nähe brummte ein Auto, Scheinwerferlicht glitt über die Fensterläden und streifte die Decke des Kabinetts.
»Fahren wir, fahren wir.«
Romanow trug einen weißen Halbpelz, eine jakutische Malachaj-Mütze und bemalte Jakutenstiefel.
Ich knöpfte die Steppjacke zu, band meinen Gurt und hielt die Handschuhe über den Ofen.
Wir gingen hinaus zum Auto. Ein Anderthalbtonner mit offenem Wagenkasten.
»Wieviel haben wir heute, Mischa?«, fragte Romanow den Chauffeur.
»Sechzig, Genosse Bevollmächtigter. Die Nachtbrigaden wurden von der Arbeit geholt.«
Dann war auch unsere, die Brigade Schmeljow, zu Hause. Ich hatte also gar nicht so ein Glück gehabt.
»Na, Andrejew«, sagte der Operative Bevollmächtigte und hüpf...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Durch den Schnee
  5. Auf Ehrenwort
  6. In der Nacht
  7. Zimmerleute
  8. Die Einzelschicht
  9. Das Paket
  10. Regen
  11. Der Kant
  12. Marschverpflegung
  13. Der Injektor
  14. Apostel Paulus
  15. Beeren
  16. Die Hündin Tamara
  17. Cherry Brandy
  18. Kinderbildchen
  19. Kondensmilch
  20. Brot
  21. Der Schlangenbeschwörer
  22. Der tatarische Mullah und die frische Luft
  23. Der erste Tod
  24. Tante Polja
  25. Die Krawatte
  26. Goldene Tajga
  27. Waska Denissow, der Schweinedieb
  28. Serafim
  29. Der freie Tag
  30. Domino
  31. Ein Herkules
  32. Schocktherapie
  33. Das Krummholz
  34. Rotes Kreuz
  35. Die Juristenverschwörung
  36. Typhusquarantäne
  37. Was ich im Lager gesehen und erkannt habe
  38. Franziska Thun-Hohenstein — Warlam Schalamows radikale Prosa
  39. Warlam Schalamow — biographische Daten
  40. Anmerkungen
  41. Glossar
  42. Impressum