Julia Kristeva
Was ist ein Fremder?
Anmerkungen einer energischen Pessimistin
Eine Fremde spricht zu Ihnen. »Die Fremde«: So lautet in der Tat der Titel des Artikels, den Roland Barthes mir 1970 in der Quinzaine Littéraire widmete. Anlass war die Veröffentlichung meines ersten Buchs auf Französisch nach meiner Ankunft in Paris im Dezember 1965. Was ist ein Fremder, eine Fremde? Eine Tragödie? Eine Auserwähltheit? Ein in der unerbittlich sich vollziehenden Globalisierung nunmehr banal gewordener Zustand? Wie kann man Fremder sein?
Neben einigen persönlichen Eindrücken möchte ich einige allgemeinere Überlegungen vortragen – Überlegungen, die an die Philosophie der Aufklärung angelehnt sind, die ihrerseits aus einem Bruch mit der Tradition hervorgegangen ist (Alexis deTocqueville, Hannah Arendt).
Zunächst also die Stimme des Herzens – wie ich selbst Fremdheit empfinde und (er)lebe.
I. Toccata und Fuge für den Fremden
Fremder: erstickte Wut tief unten in meiner Kehle, schwarzer Engel, der die Transparenz stört, dunkle, unergründliche Spur. Der Fremde, Figur des Hasses und des anderen, ist weder das romantische Opfer unserer heimischen Bequemlichkeit noch der Eindringling, der für alle Übel des Gemeinwesens die Verantwortung trägt. Er ist weder die kommende Offenbarung noch der unmittelbare Gegner, den es auszulöschen gilt, um die Gruppe zu befrieden. Auf befremdliche Weise ist der Fremde in uns selbst: Er ist die verborgene Seite unserer Identität, der Raum, der unsere Bleibe zunichtemacht, die Zeit, in der Einverständnis und Sympathie zugrunde gehen. Wenn wir ihn in uns erkennen, verhindern wir, dass wir selbst ihn verabscheuen. Als Symptom, das gerade das »Wir« problematisch, vielleicht sogar unmöglich macht, entsteht der Fremde, wenn in mir das Bewusstsein meiner Differenz auftaucht, und er hört auf zu bestehen, wenn wir uns alle als Fremde erkennen, widerständig gegen Bindungen und Gemeinschaften.
Ist es möglich, dass der »Fremde«, der in den frühen Gesellschaften der »Feind« war, in den modernen Gesellschaften einfach verschwindet?
Eine verborgene Verletzung, von der er häufig selbst nichts weiß, treibt den Fremden in seiner Irrfahrt weiter. Dieser Ungeliebte erkennt sie jedoch nicht an: Trotz bringt die Klage zum Schweigen. »Nicht ihr habt mir unrecht getan«, leugnet dieser Unerschrockene ungestüm, »ich selbst habe den Entschluss gefasst, fortzugehen«; nie anwesend, für niemanden erreichbar. Die Zurückweisung auf der einen, das Unerreichbare auf der anderen Seite: Auch wenn man stark genug ist, daran nicht zu zerbrechen, gilt es immer noch, einen Weg zu suchen. Unlösbar mit diesem ebenso sicheren wie unzugänglichen Anderswo verknüpft, ist der Fremde bereit zu fliehen. Kein Hindernis hält ihn auf, alle Leiden, alle Beleidigungen, alle Zurückweisungen lassen ihn kalt auf seiner Suche nach jenem unsichtbaren und verheißenen Territorium, diesem Land, das nicht existiert, das aber in seinen Träumen auftaucht und das man wohl ein Jenseits nennen muss.
II. Wer ist Fremder? Das Paradox
Ich werde zurückkommen auf jenen Drang hin zum Jenseits, der den Fremden beseelt und ihn letztlich zu einem Wesen ohne feste Identität macht, dessen einziges Vaterland das Reisen ist (»in via in patria«, wird Augustinus sagen) – womit jeder darauf verwiesen ist, dass Identität ein Fragezeichen ist: schmerzhaft oder ekstatisch. Diese Dimension erwächst der Metaphysik beziehungsweise der Philosophie. Ich werde sie abschließend anhand der Psychoanalyse erörtern. Verweilen wir zunächst aber bei einem Paradox, das unserer politisch-rechtlichen Auffassung des Fremden inhärent ist.
Wir stehen vor einem Circulus vitiosus. Auf der einen Seite wird kraft politischer oder, allgemeiner, rechtlicher Regelungen festgelegt, wie der Status der Fremden, der Ausländer, bestimmt, verändert und gegebenenfalls verbessert werden soll. Auf der anderen Seite sind es gerade diese Regelungen, im Hinblick auf die Fremde, Ausländer überhaupt existieren. Denn ohne eine um eine Machtinstanz strukturierte und mit einer Legislative ausgestattete soziale Gruppierung gäbe es nicht diese überwiegend als unangenehm oder zumindest problematisch erlebte Äußerlichkeit, die der Fremde darstellt und erleidet. Es sind die philosophischen (die griechisch-römischen Stoizismen mit ihrem Kosmopolitismus) wie auch die religiösen Bewegungen (das Urchristentum), die über die politische Bestimmung des Menschen hinausgehen und ihm Rechte zubilligen, die denen der (Staats-)Bürger gleich sind, freilich nur wirksam werden innerhalb des Gemeinwesens des Jenseits, innerhalb eines spirituellen Gemeinwesens. Diese absolute Lösung der Nöte des Fremdseins durch bestimmte Religionen stößt indes, wie nur allzu bekannt, an deren eigene Grenzen und Dogmatismen: Fanatiker zeigen auf neue Fremde, jene, die nicht ihres Glaubens sind, um sie zu verbannen oder zu verfolgen. Unter diesen Umständen erscheint die politisch-rechtliche Regelung wie ein Schutzgeländer, bevor diese Mechanismen zu gegebener Zeit mit dem herrschenden Interesse einer gesellschaftlichen Gruppe oder politischen Macht verzahnt werden. Möglicherweise wird man sich dann auf einen moralischen oder religiösen Kosmopolitismus berufen, wird im Namen der Menschenrechte versuchen, jene wenigen Rechte zu bewahren, die die Staatsbürger für die Nichtstaatsbürger noch gelten lassen wollen.
Das Wechselspiel dieser Waage (politisch/religiös/philosophisch) ist das Beste, was Demokratien gefunden haben, um sich den Fremden zu stellen, denen das schreckliche Privileg zukommt, Grund dafür zu sein, dass Staaten (aber auch nicht staatliche Gebilde) untereinander und, schlimmer noch, politische Vernunft und moralische Vernunft in Konflikt geraten.
Mensch oder Bürger
Menschenrechte oder Bürgerrechte? Diese Diskordanz, deren Entstehung wie auch deren in den Totalitarismus führende Verfallsgeschichte Hannah Arendt nachgezeichnet hat, erscheint in aller Deutlichkeit in der Art und Weise, wie moderne Gesellschaften das »Fremdenproblem« angehen. So soll die damit gegebene Schwierigkeit in der nicht aufzulösenden Unterscheidung zwischen »Bürger« und »Mensch« liegen. Stimmt es denn nicht, dass man zur Festlegung der Rechte, die den Menschen einer – wie immer vernünftig begründeten und demokratisch ausgewiesenen – Zivilisation oder Nation zukommen, zwangsläufig diese Rechte den Nichtstaatsbürgern, also anderen Menschen, vorenthalten muss? Diese Argumentation bedeutet – darin liegt ihre äußerste Konsequenz –, dass man mehr oder weniger Mensch sein kann, je mehr oder weniger man Bürger ist, dass derjenige, der kein Bürger ist, kein ganzer Mensch ist. Zwischen Mensch und Bürger: die Wunde »Fremder«. Ist er ganz Mensch, wenn er nicht Bürger ist?
Eine solche gewiss absichtlich exzessive Formulierung des modernen Problems der Fremden setzt nicht notwendig eine anarchistische, libertäre oder »linksradikale« Perspektive voraus. Sie weist lediglich darauf, dass das Problem der Fremden unter juristischen Gesichtspunkten einer klassischen Logik entspringt: die der politischen Gruppe und deren Kulminationspunkt, des Nationalstaats. Einer Logik, die perfektioniert werden (Demokratie) wie entarten kann (Totalitarismus) und die anerkennt, dass sie auf bestimmten Ausschließungen beruht, und die sich deshalb mit weiteren moralischen und religiösen Formationen umgibt, deren absolutistische Ansprüche sie allerdings abmindert – um dann auf das Problem zu stoßen, das sie umgangen hatte, nämlich das der Fremden und seine stärker egalitäre Regelung.
Beim gegenwärtigen Zustand der beispiellosen Durchmischung von Fremden auf dem Globus bieten sich zwei extreme Lösungen an: Entweder bewegen wir uns auf ein weltumspannendes Staatenbündnis aller früheren Nationalstaaten zu (Vereinigte Staaten der Welt) – ein auf lange Sicht hin durchaus denkbarer Prozess, dessen Voraussetzungen mit den wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und medialen Entwicklungen gegeben sein könnten. Oder der humanistische Kosmopolitismus erweist sich als Utopie, und aus den partikularistischen Bestrebungen ergibt sich zwingend die Überzeugung, dass für das Überleben der Menschheit kleine politische Einheiten die optimalen Strukturen darstellen.
Wie wir feststellen können, steht die politische und juristische Antwort unausweichlich in Zusammenhang mit den philosophischen Auflassungen über den Fremden in der modernen Welt, wenn sie sich nicht sogar davon inspirieren lässt. Ich schlage daher vor, uns einige Schlüsselmomente in der Geschichte des modernen Denkens anzuschauen, die aus der Konfrontation des in seinem nationalen Kontext gedachten Menschen mit der Vielfalt der Menschen allgemein erwachsen sind.
III. »Mein Feind, meinesgleichen, mein Bruder«
Zunächst jedoch: Wie kommt es, dass die den Fremden kennzeichnende Nichtzugehörigkeit zu einer Gruppe (Klan, Familie, Stamm, Nation) meine Identität gefährdet? Weil Identität eine unsichere Komponente ist, relativ unbeständig und fragil, die durch die Gruppenzugehörigkeit Sicherheit, wenn nicht überhaupt Bestand gewinnt. Erinnern wir uns an Prousts Feststellung – eine Replik auf Voltaires sarkastischen Ausspruch, »man wird frömmlerisch aus Angst, nichts zu sein« –, wonach in Frankreich Hamlets »Sein oder Nichtsein« umgemünzt werde in die, »ob man einer ist oder nicht ist, der dazugehört«. Für uns als sprechende Wesen gewährleistet die Gruppe (Familie oder Nation) nicht nur eine biologische (natürliche) Kontinuität: Sie stiftet und schützt den Sinn, jene konstitutive und ökonomische (aus den Subsistenzmitteln Nutzen ziehende) Dimension des sprechenden Wesens. Die Gruppe ist das Habitat, der Lebensraum meiner Sprache, meiner Werte und meiner historischen Kultur und Bildung (das griechische Wort ethos bedeutet ursprünglich habitat). Als sprechendes Wesen lebe ich im Raum meiner Erzeuger, deren Tradition und Sprache bilden mein Ethos, meine Ethik.
Nur zu verständlich, dass die Tatsache dazuzugehören (zur Gruppe, Familie, Nation) wie ein Antidepressivum wirken kann – das allerdings leider auch rasch in (selbst)zerstörerische manische Leidenschaft umzuschlagen vermag. Doch (auf der gegenwärtigen Stufe der Existenz des Homo sapiens) ist meine Identität strukturell darauf angewiesen, und die Fremden wiederum gefährden sie, drohen, meine Identität zu vernichten.
Vergegenwärtigen wir uns einige Stationen des vehementen Versuchs der Resorption, der Beseitigung der Fremdheit.
Die ersten Fremden, die aus dem archaischen Griechenland zu uns auf den europäischen Kontinent kommen, sind Frauen: die Danaiden aus den Schutzflehenden von Aischylos (fünftes Jahrhundert vor Christus). Es sind in dreifacher Hinsicht Fremde: Sie stammen aus Ägypten, sind unehelich geboren und widersetzen sich der Heirat. Der Dramatiker sieht kein anderes Mittel, um den Danaiden – deren Wassertonnen, weil per Definition, per Herstellung durchlöchert, nie voll werden – politischen Empfang zu gewährleisten, als ihnen zu Gesten des Flehens zu raten: »Denn reizbar […] ist allhier die M...