Helikoptermoral
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Helikoptermoral

Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum

  1. 208 Seiten
  2. German
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Helikoptermoral

Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum

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Über dieses Buch

Moralin forte`Die globalisierte Konsumgesellschaft plagen chronische Ängste. Sie verschwendet mehr als nachwächst, sie weckt den Neid der Habenichtse und den Terror der Gekränkten. Diese Ängste münden in Hyperaktivität, sei es des Übereifers, sei es der unverhältnismäßigen, verschwenderischen Reaktion auf konstruierte Gefahren."Wie ihr Pendant, die Helikoptereltern, ist auch die Helikoptermoral immer schon da, immer bereit, Stellung zu beziehen. Das tut sie unter viel Getöse mit schnellen Urteilen, um so die schnellen Affekte von Angst und Wut zu bewältigen, die angesichts einer unsicheren Zukunft in einer komplexen Welt dominieren. Es geht nicht mehr um eine gut funktionierende Moral, die das Zusammenleben regelt, sondern um das endgültige Urteil, die zu Superlativen übersteigerten Werte jenseits aller Realität. Plakative Aussagen über Richtig und Falsch, über Gut und Böse, über Schwarz und Weiß sollen die Welt unserer lärmenden Eventkultur richten. Die kurzfristige Entlastung, die die Helikoptermoral emotional verschafft, bedeutet auf lange Sicht nicht nur, dass viel Energie für Verleugnungen vergeudet wird, sondern der Kontext, der Zusammenhang mit der Realität sich mehr und mehr verliert.

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1 / Lokal lachen, global hassen
Die Satirezeitschrift Charlie Hebdo gehörte zu den wenigen in der Welt, die im Februar 2006 die Mohammed-Karikaturen aus der größten dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten nachgedruckt hatten. Seit diesem Datum wissen auch die, die es bisher nicht wissen wollten, dass die Begriffe des 19. und 20. Jahrhunderts ungeeignet sind, Phänomene einer globalisierten Welt zu verstehen.
Ein Konzept wie Pressefreiheit ergibt Sinn, solange es kein Internet gibt und nur Menschen eine dänische Zeitschrift lesen, die in einem langen Entwicklungsprozess begriffen haben, dass in einer zivilisierten Gesellschaft die eigene Freiheit immer auch die des Andersdenkenden ist. Karikaturen sind in diesem Denkmodus Bilder, die man anschauen oder aber ignorieren kann. Sie sind geschmacklos, aber kein Sakrileg; wer sich über sie ärgert, kauft eine Zeitung nicht mehr oder schimpft in einem Leserbrief.
Heute reisen Bilder in kürzester Zeit um den Globus, werden gepostet, gebloggt, getwittert. So landen sie auch in Kulturen, in denen Emotionen mächtig sind und die Rechtssicherheit des Einzelnen minimal ist, in Gruppen, die sich nach dem Reichtum Europas sehnen, aber auch den Affekt nähren, von den entwickelten Gesellschaften ausgenützt worden zu sein. Das macht Spott unerträglich. Und wie es im Westen Karikaturisten gibt, die (fast) alles dafür tun, um aufzufallen, gibt es dort wütende Prediger, die ebenfalls (fast) alles tun, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Die einen im Namen der Freiheit, die anderen im Namen Allahs, letztlich aber beide im Namen des Events, der narzisstischen Gratifikation. Die einen werben um Aufmerksamkeit unter den Anhängern der (Konsum-)Freiheit, die anderen unter den Gläubigen der Umma, der Gemeinschaft der Muslime. Beide Zuschreibungen, Sprecher einer Gruppe zu sein und deren Werte und Interessen zuzuspitzen und zu veröffentlichen, sind willkürlich.
Die Jyllands-Posten und ihr Karikaturist Kurt Westergaard waren im Jahr 2010 das Ziel von Anschlägen gewesen. Nachdem Charlie Hebdo im September 2012 weitere Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatte, wurde der Chefredakteur Stéphane Charbonnier in einem dem al-Qaida-Zweig im Jemen zugeschriebenen Web-Magazin Inspire »zur Fahndung« ausgeschrieben unter den Slogans »Eine Kugel am Tag schützt vor Ungläubigen« und »Verteidigt den Propheten Mohammed, Friede sei mit ihm«.
Wer Inspire im Internet aufruft, blickt in eine perfide Ecke der Globalisierung. Modern aufgemacht und grafisch viel besser als alles, was ich jemals im Jemen an englischsprachigem Druckwerk gesehen habe, wird mit pseudotheologischen Argumenten der Mord an Zivilisten gerechtfertigt, weil er »wirkungsvoller« ist als die Tötung von Soldaten, mit der die soziale Umgebung ohnehin rechnet (dass es auch etwas gefährlicher ist, Soldaten umzubringen, verschweigt des Kämpfers Höflichkeit). Je mehr Schläge gegen Zivilisten, desto mehr Unsicherheit in den USA und in Europa, desto mehr Zweifel, ob es sich noch lohnt, Israel zu unterstützen.
Dann kommt die Anleitung zum Bau einer Autobombe aus sechs Haushaltsgasbehältern, einer Sauerstoffflasche, ein paar Ventilen, einem Druckmesser und Glühbirnchen, die mithilfe einer Autobatterie und etwas Epoxid-Kleber perfekte Zünder abgeben. Diese Bombe kann zwar keine Wolkenkratzer zum Einsturz bringen, aber an belebten Plätzen viele Menschen töten, den Feind schwächen, Allah zum Sieg verhelfen.
Wenn du, spricht der Autor weiter vertraulich zu seinen »Brüdern«, den einsamen Wölfen in den USA und anderswo, ein Märtyrer werden willst, bleibst du im Auto sitzen, wenn du die Zünderlämpchen kurzschließt. Und wenn du mit heiler Haut davonkommen möchtest, benutze eine Fernsteuerung, wie man sie für Spielzeugautos oder Modellflieger kaufen kann.
Nach der Lektüre bleibt ein Gefühl von Unwirklichkeit. Auf den Bildschirm des heimischen Computers in Mitteleuropa flattert ein Gemisch aus Frömmigkeit und Brutalität. Wer produziert das? Ist es wirklich al-Qaida, ist es die CIA, die Bauanleitungen für Bomben liefert, welche den Terroristen unter den Händen explodieren? Werde ich jetzt überwacht, weil ich so etwas aufrufe? Warum legen die Hacker der NSA nicht den Server lahm, der solche Nachrichten unter die Leute bringt? Darf man denn die Menschen so verhetzen? Darf ich es lesen? Ist das nicht genauso arg wie der Konsum von Kinderpornografie?
Diese Fragen verdeutlichen, wie wenig ich aus meinen moralischen Traditionen heraus solchen Situationen gewachsen bin. Was die RAF in meiner Jugend an Unsinn über die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes geschrieben hat, mutet gegenüber Inspire rational, nachvollziehbar und harmlos an.
Am 7. Januar 2015 zwangen zwei maskierte Männer eine Mitarbeiterin von Charlie Hebdo, die durch einen Code gesicherte Tür zu den Redaktionsräumen für sie zu öffnen. Dort trafen sich zu dieser Zeit Zeichner, Redakteure, Kolumnisten. Ein Polizist sollte für Sicherheit sorgen, kam aber nicht einmal dazu, seine Waffe zu ziehen. Die Täter eröffneten sofort das Feuer; schon vor dem Eindringen in die Redaktionsräume hatten sie Frédéric Boisseau, den Hausmeister des Gebäudes, erschossen. In den Räumen selbst wurden zehn Menschen getötet, darunter der Herausgeber und Zeichner Stéphane Charbonnier (»Charb«), die Zeichner Jean Cabut (»Cabu«) und Bernard Verlhac (»Tignous«).
Auch eine Psychoanalytikerin war unter den Opfern: Elsa Cayat schrieb die zweiwöchentliche Kolumne »Charlies Couch« (Charlie Divan), in der sie sexuelle Probleme ebenso wie politischen und religiösen Fanatismus abhandelte. Sie arbeitete normalerweise in ihrer Praxis, war aber zur Redaktionskonferenz gekommen. Die Attentäter kannten den Terminplan und wollten möglichst viele »Ziele« treffen.
Die Täter, zwei Brüder, wurden später gestellt und erschossen. Sie stammten von algerischen Migranten, hatten zerrüttete Familienverhältnisse, eine Heimkindheit, Arbeitslosigkeit und Kleinkriminalität hinter sich. Der Terror von al-Qaida weckte ihre Aufmerksamkeit für den Islam, der sie bis dahin kaum interessiert hatte. In einer Moschee und im Gefängnis festigte sich ihr Islamismus.
In den Reaktionen auf das Attentat lassen sich einige Themenblöcke bilden:
  1. 1. Moralische Empörung: sehr brutale, sehr verbrecherische, sehr feige Tat, unvereinbar mit Menschenwürde und Menschenrecht, der schlimmste Anschlag auf die Werte des Westens. So die Rede praktisch aller in den Medien zitierten Politiker, von Obama bis Putin. Sprachlich ist so etwas wie ein neuer Kolonialismus gegen neue Wilde entstanden. Seit dem Angriff auf die Twin Towers hat sich die Redeweise der »zivilisierten Welt« verändert. Wo früher militärische Ausbildungslager waren, sprechen wir jetzt von »Terrorcamps«, wo sich Terrorismus früher gegen die staatliche Ordnung richtete, gibt es inzwischen einen »Terrorstaat«. Geprägt vom eigenen Standpunkt werden die Selbstzuschreibungen der Bezeichneten in diesem neuen Sprachgebrauch ignoriert. Während ältere kolonialistische Begriffe wie Neger, Zigeuner, Eskimos, Kanaken als politisch unkorrekt zurückgenommen wurden, erleben wir hier die Einführung von neuen Bezeichnungen.
  2. 2. Gefühl der Bedrohung: Anschlag auf die Pressefreiheit und die Freiheit von Satire, Anlass zur Stärkung des Rechtsextremismus, zu Religionskriegen im zivilisierten Europa. Tatsächlich hat die extreme Rechte in Frankreich die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert. Die Aktienkurse fallen.
  3. 3. Solidarität: Plakate und Unterschriftenaktionen mit dem Slogan »Je suis Charlie« verbreiten sich überall. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Mohammed-Karikaturen sind noch nie so oft nachgedruckt worden wie nach diesem Attentat. Charlie Hebdo steigert die Auflage von normal höchstens 60 000 auf fünf Millionen. Im Münchner Hauptbahnhof stehen Menschen, die bis vor ein paar Tagen niemals auf den Gedanken gekommen wären, ein solches Blatt zu lesen, in einer langen Schlange, um ein Exemplar zu bekommen.
Wer die Szene jetzt nicht verlässt, sondern das Schicksal von Charlie Hebdo weiterverfolgt, begegnet Überraschungen. Eine davon ist der immense finanzielle Erfolg, den die Attentäter den Kapitaleignern bescherten, die nun plötzlich viele Millionen verdienten. Die Auflage verließ zwar schnell wieder den Gipfel, ist aber ein halbes Jahr später immer noch zehnmal so hoch wie vor dem Massenmord in der Redaktion.
Aber es gibt auch Streit. Am 18. Juni 2015 titelte die Zeit: »Keiner will mehr Charlie sein«; ihr Dossier rankt sich um die junge Journalistin Solène Chalvon, die nach dem Attentat engagiert wurde, um die Proteste über die ungerechte Verteilung des »Blutgeldes«, um den Streit in der Redaktion, wie es weitergehen soll, die Kündigung einer arabischen Mitarbeiterin wegen Unzuverlässigkeit – und endlich auch um die Frage: Dient es der Sache des säkularen Staates, Menschen zu provozieren, die keine Ahnung haben, was dieser Fortschritt an Respekt für die Meinung des Andersdenkenden für sie bedeuten könnte? Die Zeitung plant jetzt einen Neustart, die Chefredakteure klagen über einen Mangel an talentierten Zeichnern, die Frage, ob die Millionen den bisherigen Aktionären gehören oder eine Stiftung gegründet wird, an der die Verwundeten, die Angehörigen der Opfer und die aktiven Journalisten beteiligt sind, ist nicht entschieden.
Als Freud vom Unbehagen in der Kultur sprach und zweifelte, dass der im 19. Jahrhundert gefeierte Fortschritt die Lage der Menschen bessern werde, hielten ihn viele für einen Pessimisten. Aber viele Beobachtungen geben ihm nachträglich recht. Die Abschaffung der Sklaverei und eine Gesetzgebung, die der Emanzipation bisher ausgeschlossener Gruppen (wie der Juden) diente, hatten nach dem Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs intolerante, reaktionäre Gruppen geweckt, die in Deutschland und Italien besonders viel Schaden angerichtet haben. Sie sind nicht ausgelöscht, im Gegenteil. Und als sei das nicht genug, sind in einer lange für friedlich und träumerisch gehaltenen Weltreligion bösartige Extreme entstanden, die das faschistische Modell globalisieren.
Wenn ein Grieche oder Römer der heidnischen Zeit in Ägypten, auf der Krim oder in Großbritannien landete – an keinem Ort dachte er, er würde einen wahren Gott zu Götzendienern bringen. Er fand in den Tempeln der Eingeborenen die eigenen Götter unter anderen Namen. Seit der Reisende Christ ist oder Muslim, behauptet er, nur der eigene Gott sei wahr, der Gott des Eingeborenen aber ein armseliger Götze, wenn nicht der Teufel selbst.
Das hier als Helikoptermoral beschriebene Phänomen entspricht einer hektischen Wiederaufnahme der missionarischen Geste in der Eventgesellschaft. Je weniger die Allgemeingültigkeit eines Wertes gesichert ist, desto lauter wird er wiederholt und unterstrichen. Die Moral reguliert nicht mehr das Urteil über die Ereignisse, sondern die Ereignisse prägen die Äußerungen der Moral.
Für die meisten Muslime ist die Karikatur des Propheten nic...

Inhaltsverzeichnis

  1. Einführung
  2. 1 / Lokal lachen, global hassen
  3. 2 / Die biografische Folie
  4. 3 / Helikoptermoral und Eventkultur
  5. 4 / Hypermoral in der Partnerschaft
  6. 5 / Das kleinere Übel
  7. 6 / Schnelle Urteile
  8. 7 / Im Banne des Propheten
  9. 8 / Warum wir den Hunger vermissen
  10. 9 / Schuldige Welt der Bilder
  11. 10 / Die Helikoptermoral und der Tod
  12. 11 / Gottesbund, Erdenschmerz
  13. 12 / Die Abschaffung der Tragödie
  14. 13 / Der Schaden durch die Schadensstrafe
  15. 14 / Das zwanghafte Bewerten
  16. 15 / Die Größenfantasie und der moralische Sieg
  17. 16 / Zusammenschau und Schluss
  18. Über den Autor
  19. Impressum