Armin Nassehi
Die Zurichtung des Privaten
Gibt es analoge Privatheit in einer digitalen Welt?
Big Data ist ein Herrschaftsinstrument. Big Data ermöglicht totale Kontrolle, ist aber politisch unkontrollierbar. Big Data gefährdet unsere informationelle Selbstbestimmung. In Big Data kulminiert womöglich der alte Traum ökonomischer und politischer Beobachter, all die Informationen zusammenzubekommen, die eigentlich nicht zusammengehören. Big Data ist für Datenanwender ein Tool, das es erlaubt, etwas zu finden, wonach man gar nicht gesucht hatte, wobei man im Nachhinein erst wissen kann, was man hätte suchen können, hätte man nicht nur Daten, sondern Informationen. Big Data macht empirisch ernst mit der zuvor abstrakten Einsicht, dass Daten erst in bestimmten Anwendungskontexten und durch ihre Rekombination zu Informationen werden. Big Data verändert die Suchroutinen und das Bild der Gesellschaft ihrer selbst. Und das geschieht nicht erst seit gestern, sondern schon länger, aber es wird jetzt zum Thema, weil es an den Alltagserfahrungen von Usern ansetzt, die weit weg sind von Data-Mining-Strategien, Business-Konzepten und geheimdienstlicher Erkenntnisgewinnung. Sichtbar wird Big Data vor allem durch die merkwürdige Erfahrung, dass Big Data nicht mehr weit weg ist, sondern durch die Praktiken der Bevölkerung selbst gespeist wird, vor allem jener, die gar nicht wissen, dass sie sammeln und überall Spuren hinterlassen. Seit freilich diese Einsicht der fast völligen Unvermeidbarkeit, zu Big Data beizutragen, sichtbarer wird, kulminiert die Diskussion letztlich in einer konkreten Diagnose und Kritik: Big Data gefährdet unsere Privatheit, unsere Privatsphäre, unsere persönliche Autonomie.
Bis jetzt lief der Diskurs über das Internet, über Big Data und seine Folgen und über die Praktiken von Usern vor allem als ein Diskurs über einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit – was eigentlich Privatheit in diesem Kontext bedeuten kann, bleibt fast ausgeklammert. Es lohnt sich also, den Fokus versuchsweise auf Privatheit zu richten, denn die Debatte kennt Privatheit tatsächlich zunächst nur als schützenswerten Raum, an dem die Macht zu brechen ist. Sie fokussiert sich derzeit vor allem auf Repolitisierung.
Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit
Wenn die Privatsphäre der Raum unserer persönlichen Autonomie ist, dann ist Öffentlichkeit der Raum, der sich von dieser ursprünglichen Form dadurch entfernt, dass er einsehbar wird für andere – wie wir sozialhistorisch wissen, zunächst in Form von bürgerlichen Lesegemeinschaften, später in Vereinen und anderen Zusammenschlüssen, schließlich in medial vermittelten Diskussionsöffentlichkeiten von gebildeten belesenen Lesern, heute von bebilderten informierten Bürgern, die über die Gesellschaft das wissen, was in solchen Öffentlichkeiten sichtbar wird. Der Nationalstaat moderner Prägung seit Beginn des 19. Jahrhunderts hat letztlich die Bühnen der bürgerlichen Gesellschaft als System der Bedürfnisse und als Raum öffentlich zugänglicher Informationen wie als realer Staat, als Polizey, das heißt als öffentliche Ordnung zur Verfügung gestellt und gestaltet.
Über die Öffentlichkeit wird viel räsoniert – kann sie die normativen Energien freisetzen, die dafür sorgen, dass sich so etwas wie ein demokratisch gebildeter Wille durchsetzt? Kann sie zugänglich machen, was in früheren Gesellschaften nur für Eliten erreichbar war? Kann sie das Korrektiv für illegitime Macht und Herrschaft sein? Kann sie kulturelle Praktiken und Selbstverständlichkeiten öffnen, indem sie uns mit Alternativen versorgt? Bringt sie den kritischen Staatsbürger hervor, der wenigstens in Demokratietheorien noch nach dem Agora-Modell der attischen Demokratie imaginiert wird? Und was geschieht mit der Öffentlichkeit, wenn sie medial vermittelt wird? Seit dem Buchdruck gibt es überhaupt erst so etwas wie einen entfernten, einen imaginären Rezipienten in einer Vorform von Öffentlichkeit, die als Leserschaft imaginiert werden konnte. Und erst mit der Zeitung ist so etwas wie eine gemeinsame Realität einer Gesellschaft simulierbar, ist eine öffentliche Sprechergemeinschaft unter Fremden zumeist im Rahmen nationalstaatlicher Ordnung erst möglich. Medien sind stets der Filter, durch den das diffundiert, was als Thema in öffentlichen Räumen verhandelbar wird. Sie sind also zugleich Ermöglicher und Verhinderer, sie sind der Gatekeeper von Öffentlichkeiten – und mit jeder Medienrevolution ändern sich die Bedingungen dessen, was wir Öffentlichkeit nennen, also die Bedingungen im System der Bedürfnisse und im Staat. Das galt für das Radio ebenso wie für das Fernsehen, und es gilt auch für das Internet. Und stets hat man mit einem neuen Verbreitungsmedium ebenso große Erwartungen wie Befürchtungen verknüpft.
Bezogen aufs Internet reicht die Spanne von der Euphorie eines Howard Rheingold 1993, der virtuelle Gemeinschaften und eine neue demokratische Kultur in »virtuellen Gemeinschaften« am Horizont sah, bis zu Sascha Lobos Klage, das Internet sei inzwischen kaputt, weil es all diese Verheißungen praktisch dementiert. Grundtenor in der Reflexion des Internets ist aber nach wie vor das rheingoldsche Motiv der Vergemeinschaftung und des social networks, der Möglichkeit von Gegenöffentlichkeiten und des Zusammenbringens von Teilpublika, die ohne das Netz nicht erreichbar wären. Es ist letztlich ein Diskurs darüber, wie man den Vorteil schwacher Netzwerke ausnutzen kann: Das Netz bringt Leute zusammen, die sonst nicht zusammenkämen, und erzeugt dadurch adressierbare Räume, die andere Medien nicht in dieser Geschmeidigkeit herstellen können. Aus dem öffentlichen Raum der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem Wunsch nach dem einen legitimen Geschmack, der einen legitimen Lebensform, der einen sozialmoralischen Intuition und der Vereinheitlichung politischer Konfliktlinien entsteht ein Pluralismus von communities, die sich operativ neu bilden und nicht mehr die Gesellschaft repräsentieren, sondern letztlich ihre je eigene Sphäre in thematischer, ästhetischer und sozialmoralischer Absicht.
Der Internetdiskurs hat bis vor Kurzem vor allem dies gesehen – von Aktivisten erwartungsfroh und mit großem Vertrauen in neue Vergemeinschaftungs- und Demokratieformen gefeiert, von der akademischen Beobachtung des Internets mit einer gewissen Skepsis begleitet, aber doch auch an den Fragen der Chancen neuer Vergemeinschaftungsformen interessiert. Sozialwissenschaftliche Beobachter bleiben eben am Ende doch Anwälte einer besseren Welt, die sie sich vor allem als eine Welt mit hoher Konsensrate bei gleichzeitiger Diversifizierung von Möglichkeiten vorstellen. Was noch dazukommt, sind neue Praktiken, die das Private und Öffentliche, das Persönliche und das Sachliche in neuen Formen authentischer Gelegenheitskommunikation im Internet geradezu verschwimmen lassen – hin zu einer Netzwerkgesellschaft, in der wir anders leben können. Howard Rheingold spricht inzwischen von Smart Mobs, die nicht nur virtual communities von Individuen sind, sondern auch kollaborative Systeme mit kollektiver Intelligenz werden können.
Big Data ist anders. Vielleicht erzeugt Big Data tatsächlich so etwas wie Kollektivität – aber letztlich nur so etwas wie collected collectivities. Big Data erzeugt keine sozialen Gruppen, sondern statistische Gruppen. Soziale Gruppen sind auch im Internet analoge Phänomene, also sichtbar, deutlich adressierbar, identitätsstiftend, an natürlicher Sprache und Alltagspraktiken orientiert. Erst mit Big Data werden die Praktiken wirklich digitalisiert. Big Data macht aus analogen Anwendern digitale Phänomene. Big Data digitalisiert die Spuren analoger Praktiken – Bewegungsprofile auf Straßen und im Netz, Kaufverhalten, Gesundheitsdaten, Freizeitverhalten, Teilnahme an social networks etc. – in der Weise, dass zum einen Daten rekombiniert werden können, die gar nicht für die Rekombination gesammelt wurden. Zum anderen entstehen dadurch statistische Gruppen, die in der analogen Welt so gar nicht vorkommen – etwa potenzielle Käufer bestimmter Produkte, Verdächtige in Rasterfahndungen oder gesundheits- und kreditbezogene Risikogruppen. Hier dreht sich nun die Argumentationsrichtung um. Big Data ist das, was das Unsichtbare am social networking im Internet abschöpft – lebte dies noch von dem Traum, Ressourcen privat-authentischer Kommunikation in öffentliche Kommunikation zu speisen und aus Gesellschaft wieder mehr Gemeinschaft zu machen, dringt nun das Netz umgekehrt von außen in die Privatsphäre ein – wo es nichts zu suchen hat, es aber viel zu finden gibt.
Gefährdete Privatheit
Vielleicht ist diese Diagnose einer Gefährdung von Privatheit jener Umschlagpunkt, an dem die Diskussion aus den Expertenkulturen auswandert und jene Dichte bekommt, die wir gerade beobachten. Die Feuilletons versorgen uns mit technischen Details, informieren über ökonomische Strategien, politische Möglichkeiten, militärische Innovationen, medizinische Beobachtungs- und Kontrollmöglichkeiten etc., die alle die Kumulation von gesammelten Daten und ihrer Rekombination und Verarbeitung als Grundlage verwenden. Auf einmal werden Social Media als Geschäftspraktiken sichtbar, und es entsteht eine Sensibilität dafür, dass all das harmloser aussieht, als es ist. Es wird vor Machtkonzentration gewarnt, auch davor, dass man zwischen ökonomischen und politischen Akteuren kaum mehr unterscheiden kann.
Dass Dinge zum Problem werden, wird symbolisch vielleicht daran deutlich, dass es inzwischen sogar Abstinenzler in der Generation der Digital Natives gibt, die dann ihrerseits medienwirksam in Szene gesetzt werden, so etwa den Blogger und ZDF-Journalisten Martin Giesler, der in seiner Facebook-Abstinenz (zumindest was seine privaten Kontakte angeht) an sich selbst erlebt, dass er nun viel bessere Kontakte zu seinen Freunden hat. Die Alltagsreaktion auf die Big-Data-Bedrohung ist also eine sehr traditionelle: Es ist der Versuch, die eigene Privatsphäre gegen Zugriff von außen zu schützen, gewissermaßen den persönlichen Nahraum von der Öffentlichkeit abzugrenzen und wenigstens hier selbst bestimmen zu können, was die oftmals unsichtbare Membran zwischen dem privaten Nahraum und der Welt passieren kann und darf. Letztlich ist Privatheit das normative Kriterium der Kritik an den neuen Möglichkeiten des Internets und der Big-Data-gestützten neuen Such- und Findepraktiken. Der private Nahraum ist letztlich die Welt, in der wir lebensweltlich geschützt leben wollen – und so verliert alle Kritik der »neuen« Medien seine Abstraktion, wenn dieser private Nahraum unter Beschuss und Beobachtung gerät. Dahinter steckt ein Narrativ, an das wir uns gewöhnt haben: dass es eine klare Grenze gibt zwischen dem privaten Raum der Selbstbestimmung und idiosynkratischer Lebensformen und dem öffentlichen Raum der Erreichbarkeit für andere. Aus der Perspektive gelebter Lebensformen selbst erscheint die Gesellschaft tatsächlich als eine konzentrisch gebaute Form, in der die Bedeutung und Unverwechselbarkeit von Personen mit zunehmender Ferne abnimmt. Letztlich richten sich Lebensformen in Familien, Freundesnetzwerken und konkret erreichbaren Personen ein, während der Raum der »Gesellschaft« wie ein öffentlicher Raum erscheint, in dem eher universalistische Spielregeln gelten – von Höflichkeitsroutinen über Straßenverkehrsregeln bis hin zu einem allgemeinen Set von Verhaltensstandards für jenen Raum, den wir eher Öffentlichkeit nennen. Die Grenze zwischen diesen Räumen wird architektonisch durch die Haus-/Wohnungstür und sozial durch die Sichtbarkeit von Idiosynkrasien markiert. So kann es sogar gelingen, dass man unter vielen privat sein kann, wie Kommunikationspraktiken des Lautstärkemanagements, des bewussten Weghörens und des Takts gegenüber privaten Fragen belegen. Privat ist das, was anderen nicht zugänglich gemacht wird – es ist gewissermaßen der Raum der geringsten Allgemeinheit und der größten Besonderheit. Und es wird als der Raum eines unmittelbaren, ursprünglichen, wirklich an der konkreten Person erlebten Lebens erlebt.
Unser Bild von der Privatheit ist gewissermaßen die fleischgewordene Idee der Sittlichkeit aus Hegels Rechtsphilosophie. Hegel unterscheidet drei Ebenen der Sittlichkeit, die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und den Staat, wobei die Familie als die ursprüngliche Form der Sittlichkeit die partikularste Form der Sittlichkeit darstellt, in der sich unverwechselbare Personen bis zur physischen Symbiose begegnen, während in der bürgerlichen Gesellschaft, im »System der Bedürfnisse« (Wirtschafts-)Subjekte ihre Interessen vertreten und als selbstbewusste Individuen auftreten.
Der Staat als »Wirklichkeit der sittlichen Idee« dagegen verlangt von diesen Individuen dann wiederum weniger Selbstbewusstsein als Unterwerfung aus freien Stücken unter ein Allgemeines – Unterwerfung als Freiheitsgeste. Die Versöhnung dieser drei Stufen der Sittlichkeit stellen wir uns letztlich wie Hegel so vor, dass die Unterwerfung unter den Staat genau genommen dadurch erkauft wird, dass die symbiotische Form der Familie in Ruhe gelassen wird und wir in der bürgerlichen Gesellschaft unser Aus- und Einkommen finden. Familie und Privatheit sind darin als die zwar partikularste, aber auch ursprünglichste, sinnlichste Form der Sittlichkeit gedacht. Dies, die Authentizität und Ursprünglichkeit, man könnte fast sagen: unmittelbarste Menschlichkeit, die sich...