In der 1. Flottille, Standort Peenemünde
Im Verlaufe jener Tage erhielten Helmut Theodor und ich die Anweisung, uns nach Urlaubsende in der 1. Flottille einzufinden. Wir freuten uns und machten uns frohgemut auf den Weg. Im Stab der Flottille erfuhren wir, dass nicht mehr die Kaderabteilung für uns zuständig sei, sondern die Abteilung Nachweisführung. Der feine Unterschied bestand darin, dass die Kaderabteilung sich nur mit den Personalakten der Offiziere zu befassen hatte. Wir waren als Manöverrudergänger an Bord von Minenleg- und -räumschiffen vorgesehen, die aber für längere Reparaturarbeiten in der Peenewerft Wolgast lagen.
So wurden wir kurzerhand der Personalreserve zugeteilt. In einem längeren, einstöckigen Gebäude bezogen wir Kojen in einem Sechs-Mann-Zimmer. In diesem Block wohnte eine Anzahl von Besatzungsmitgliedern, mit denen man nicht recht etwas anzufangen wusste. Das technische Personal war an Bord in der Werft mit Reparaturen bzw. deren Aufsicht beschäftigt, die Funker waren zu einem Lehrgang, die Offiziere wohnten in einem anderen Block. Die Mannschaften unserer „M-Blöcke“ wurden lediglich zu Reinschiff-Aufgaben eingesetzt, zu Verschönerungsarbeiten in der Dienststelle, zum Reinigen der Straße und zu Malerarbeiten oder zu Hilfsdienstleistungen in Werkstätten oder Lagern bzw. zum Wachdienst. Die Maate führten dabei Aufsicht, für die Meister und Obermeister gab es kaum etwas zu tun. Es war alles eine mehr oder weniger gut organisierte Gammelei.
Helmut und ich hatten Mühe, uns daran zu gewöhnen. Wir baten um einen Dienstreiseauftrag nach Rostock, um uns ganz offiziell bei der Deutschen Seereederei über Entwicklungsmöglichkeiten nach Ablauf unserer Verpflichtungszeit zu erkundigen. Das wurde sofort genehmigt und so fuhren wir eines Morgens mit dem Zug über Zinnowitz, Wolgast-Hafen, Züssow, Stralsund nach Rostock. Durch das viele Umsteigen waren wir erst am späten Vormittag am Ziel. In der Kaderabteilung der DSR empfing man uns freundlich und eine Sachbearbeiterin gab uns alle gewünschten Auskünfte. Wir erfuhren, dass es zwischen dem Ministerium für Verkehrswesen und dem Kommando der Seestreitkräfte eine Vereinbarung gab, nach der Absolventen der Offiziersschule nach ihrer Dienstzeit und entsprechender Bordpraxis Anspruch darauf hatten, das Patent A 2, nautischer Offizier auf kleiner Fahrt oder auch das Patent A 3, Kapitän auf kleiner Fahrt mit dem Zusatz T zu erhalten. T bedeutete: gültig nur für den Einsatz an Bord von technischen Fahrzeugen. Alles, was mit Ladung zu tun hatte, müsste gegebenenfalls in einem Sondersemester an der Seefahrtsschule Wustrow nachgeholt werden, um das Patent A 5, nautischer Offizier in der großen Fahrt, und nach erfolgreicher Fahrtzeit das Kapitänspatent zu erhalten.
Unsere Fahrtzeit während der Flottenpraktika und unser jetziger Dienst auf Minenleg- und -räumschiffen würden als Matrosendienst bzw. Rudergängerdienst anerkannt werden. Sofern wir den Dienst in den Seestreitkräften in Ehren beenden würden und dann immer noch die entsprechende Seetauglichkeit bzw. die Tropendiensttauglichkeit besäßen, würde uns die Reederei gern einstellen. Es gäbe zentrale Beschlüsse, die einen weiteren Aufbau der DDR-Handelsflotte vorsehen, Bedarf an gut ausgebildeten Seeleuten wäre also auf lange Sicht gegeben.
Wir bedankten uns für die gründlichen Auskünfte, erhielten zwei Fragebogen für die spätere Bewerbung und trieben uns noch zwei Stunden in Rostock herum. Dann traten wir den Rückweg an und waren guter Dinge. Wir beschlossen, nach Beendigung unserer Dienstzeit in die Handelsschifffahrt zu wechseln. Etwa eine Woche später erhielt ich einen Brief von meiner Mutter. Sie schrieb mir, Tante Hilde hätte wieder mal einen ihrer berüchtigten Briefe an eine staatliche Dienststelle geschrieben. Dabei ging es um Folgendes: Meine Tante Hilde Kumbier war mit dem damaligen Leiter der Hauptabteilung Valuta und Devisen im Finanzministerium der DDR verheiratet. Beide hatten sich in den 20er-Jahren in der damaligen Wandervogel-Bewegung kennengelernt und waren Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands. Onkel Wilhelm arbeitete als Dreher bei den Borsig-Werken in Berlin. Tante Hilde war Hausfrau und betreute ihre zwei kleinen Töchter. Nach 1933 blieben beide Mitglieder der nunmehr illegalen KPD und gaben auf der Flucht befindlichen Parteigenossen gelegentlich Unterschlupf in ihrer Wohnung in Berlin-Wittenau. Onkel Wilhelm wurde mehrmals von der Polizei deswegen vernommen, man konnte ihm nichts beweisen, aber er wurde verwarnt und mit KZ bedroht. Nach Kriegsende schickte ihn 1946 die SED zum Studium der Finanzwirtschaft an die Humboldt-Universität Berlin. Das Studium fiel ihm mit seiner achtklassigen Volksschulbildung sehr schwer. Aber er betrachtete das als Parteiauftrag. Tante Hilde hielt ihm den Rücken frei, erzog die Kinder und sorgte durch sparsames Wirtschaften dafür, dass die Familie mit dem bescheidenen Stipendium auskam. Als meine Mutter ihrer jüngeren Schwester von meiner gescheiterten Laufbahn als Seeoffizier und den näheren Umständen der Sportprüfung erzählte, war Tante Hilde, die sich ihre Ideale vom Wirken der Partei bewahrt hatte, außerordentlich empört. „Also, Elli, das ist ja wohl unerhört. So kann man doch nicht mit jungen Menschen umgehen. Die Ausbildung von Gerd hat einen Haufen Geld gekostet und ist ja nicht ohne Erfolg geblieben. Wegen irgendwelcher albernen Turnübungen kann man doch einem jungen Menschen die Zukunft nicht versauen!“ Sie meinte, sie würde mit Onkel Wilhelm sprechen und einen entsprechenden ärgerlichen Brief an die Seestreitkräfte schreiben. Das wollte nun wieder meine Mutter nicht. Sie war zwar derselben Meinung, konnte sich aber ausrechnen, dass dies für mich nicht positiv ausgehen würde.
Doch Tante Hilde war beratungsresistent. Sie hatte schon oft an das Zentralkomitee der Partei, an den Oberbürgermeister von Groß-Berlin oder irgendeinen Minister geschrieben, wenn sie mit einem wahren oder scheinbaren Missstand in der Entwicklung der DDR nicht einverstanden war. Mehrere Briefe von ihr waren schon an die Sendeleitung von Radio DDR und den Deutschlandsender gegangen, weil nicht genügend Volksmusik gesendet worden wäre, sondern immer nur Trallala-Musik, womit sie Schlager meinte. Tatsächlich setzte sie sich hin und schrieb einen Beschwerdebrief an den Chef der Seestreitkräfte. Der landete zuständigkeitshalber beim Chef des Stabes, Konteradmiral Heinz Neukirchen, in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Prüfungskommission an der Offiziersschule. Sie erhielt auch sehr bald eine kurze, aber sachliche Antwort, sinngemäß mit dem Inhalt, dass ich „eine vierjährige progressive Ausbildung nicht genügend genutzt hätte und daher nur zum Obermeister ernannt worden sei“. In einem Brief an mich wurde mir mitgeteilt, dass der Chef des Stabes bereit sei, meine Entlassung aus dem Dienst zu genehmigen, wenn ich unter diesen Umständen dazu nicht länger bereit wäre. Das war nun ein kräftiger Schlag ins Kontor, überhaupt nicht das, was ich erreichen wollte und wozu ich mich entschlossen hatte. Aber das war typisch Tante Hilde. Handeln auf eigene Faust und ohne Rücksicht auf Verluste. Ich wartete nun etwas nervös, dass ich zur Abteilung Nachweisführung zitiert werden würde in dieser Angelegenheit. Aber es geschah nichts. Eines Tages wurde ich plötzlich nach Rostock bestellt zu einem Gespräch in der Partei-Kontrollkommission der Seestreitkräfte. Als ich diesen Termin pünktlich einhielt und mich beim Kommando der Seestreitkräfte meldete, empfing mich nach kurzer Wartezeit ein weißhaariger, sehr schlanker Kapitän zur See, offensichtlich älteren Jahrgangs. Er ließ mich Platz nehmen, wusste offensichtlich von meinem Fall, ließ sich von mir kurz noch einmal den Ablauf der Dinge schildern und es entwickelte sich – da er offenbar Zeit hatte – ein längeres Gespräch.
Er erzählte, dass er schon vor 1933 im Auftrage der KPD Mitglied der SA geworden sei. Es gelang ihm, seine politische Auffassung zu tarnen und so konnte er nach 1933 seinen Genossen wichtige Informationen über geplante Aktionen und Verhaftungen geben. Das ging ziemlich lange gut. Aber irgendwann brach ein verhaftetes Mitglied der KPD nach unbarmherzigen Folterungen zusammen und gab seinen Namen preis. Er wurde abgeholt und fürchterlichen Verhören ausgesetzt, schwer misshandelt, um Aussagen zu erpressen. Er hielt durch, erlitt aber innere Verletzungen und trug zerschlagene Rippen davon. Im Konzentrationslager war er ärztlich nicht sachgerecht behandelt worden, so dass er ein ledernes Stützkorsett tragen musste. Ein kleines Stück zeigte er mir, indem er zwei Knöpfe seines Oberhemdes öffnete. Im Verlaufe unserer Unterhaltung, in der wir auch über Helmut Theodor sprachen, äußerte er sinngemäß: „In den Seestreitkräften herrscht das Prinzip der Einzelleitung. Infolgedessen ist sowohl die Entscheidung des Vorsitzenden der Prüfungskommission als auch die des Chefs des Stabes, Konteradmiral Neukirchen, nicht mehr zu ändern. Aber ich werde mir etwas einfallen lassen, es gibt eine andere Möglichkeit: die Bewährung in der Praxis der Flotte. Ich prüfe den Fall und kann heute noch nicht mehr sagen, aber ihr werdet von mir hören!“ Er gab mir die Hand und ich war entlassen.
Konteradmiral Heinz Neukirchen als Chef des Stabes der DDR-Seestreitkräfte
Nachdenklich fuhr ich nach Peenemünde zurück. Eine ganze Weile geschah nichts. Etwa Mitte Februar 1959 erfuhren Helmut und ich, dass wir als Manöverrudergänger unserer Minenleg- und -räumschiffe abgelöst und mit sofortiger Wirkung als Offizierdiensttuer eingesetzt waren. Wir wurden der Räumbootsabteilung der 1. Flottille zugewiesen, um als Kommandant eingesetzt zu werden. Bei der Gelegenheit erfuhren wir, dass die sechs Boote der dritten Räumgruppe von einem Unterleutnant zur See und fünf Obermeistern geführt werden müssen, da in der Flotte ein großer Offiziersmangel besteht. Gefragt, ob wir dazu bereit sind, erklärten wir sofort unser Einverständnis. Auf dem Weg von der Kaderabteilung in die Unterkunft der Personalreserve konnten wir uns ein Feixen nicht verkneifen. Für die Ernennung zum Unterleutnant waren wir den Seestreitkräften nicht gut genug. Aber durch den selbst verursachten Offiziersmangel wurden wir jetzt beide Kommandant eines Kriegsschiffes 4. Klasse und hatten damit eine Dienststellung, für die eine Planstelle als Oberleutnant zur See vorgesehen war. Am Abend warfen wir uns in die Ausgehuniform und gingen in Peenemünde in die HO-Gaststätte Zwiebel. Mit einer Flasche Sekt Rotkäppchen halbtrocken feierten wir die überraschende Wende in unserer Laufbahn.
Als Kommandant eines Minenräumbootes
In den Seestreitkräften unterschied man zwischen Hilfs- und Kampfschiffen. Zu Ersteren zählten z.B. Reede-, See- und Bergungsschlepper, Wohnschiffe, Torpedofangboote, Flottenversorger und Flottentanker. Als Kampfschiffe galten alle zum Gefechtseinsatz befähigten Einheiten. Das reichte von Hafenschutzbooten und Reedeschutzbooten über Minensuch- und -räumeinheiten bis hin zu Küstenschutzbooten. Kampfschiffe, die neu in Dienst gestellt wurden oder eine auf diesem Fahrzeug noch nicht eingefahrene Besatzung erhalten hatten, galten als Kampfreserve. Erst wenn sie eine Einzelboots- und Abteilungsausbildung sowie eine Verbandsausführung samt Schieß- und anderen Gefechtsübungen absolviert hatten, wurden sie dem Kommando des Warschauer Vertrages als verfügbare Kampfkerneinheiten gemeldet.
Der Offiziersmangel hatte in Peenemünde dazu geführt, dass auch ein Kampfkernboot, nämlich das Minenräumboot Nr. 411, im Februar 1959 keinen Kommandanten hatte. So entschloss sich der Abteilungschef, Kapitänleutnant Karl Bleyl, mich als Kommandanten einzusetzen. Die Kampfkerngruppe, also die erste Gruppe der Abteilung, lag in Saßnitz, um ungeachtet eventueller Eisbildung auf dem Greifswalder Bodden operieren zu können. Ich fuhr also nach Saßnitz, meldete mich beim Gruppenchef, einem Leutnant, wurde von ihm kurz eingewiesen, ging an Bord, stellte mich der Besatzung vor und übernahm das Kommando.
Die Räumboote gehörten zum Projekt 8 der Schwalbe-Klasse. Es handelte sich um Küstenminensucher, eingerichtet zum Minenräumen und -legen im unmittelbaren Küstenvorfeld auf Ansteuerung und Reeden. Die Seestreitkräfte besaßen 48 Einheiten dieses Typs, die zwischen 1953 und 1958 auf der Schiffswerft Brandenburg und der Yachtwerft Berlin gebaut worden waren. Sie verdrängten 83 to, waren 28,7 m lang und 4,45 m breit. Durch einen Tiefgang von nur 1,13 m waren sie besonders zum Einsatz in flachen Gewässern der gesamten westlichen Ostsee geeignet. Zwei Dieselmotoren von insgesamt 570 kW gaben den Booten eine Höchstgeschwindigkeit von 12,5 kn. Sie waren mit zwei Propellern ausgerüstet, sogenannten Schleppschrauben, damit sie verschiedenartige Minenräumgeräte ausbringen und durchs Wasser schleppen konnten. Der Fahrbereich betrug 500 Seemeilen. Auf dem Vorschiff gab es eine 25-mm-Flak in Doppellafette, zu deren hydraulischer Bedienung nur ein Mann nötig war. An Deck konnten zwei Schienen zur Aufnahme von insgesamt sechs Minen vom Typ 08/1939 befestigt werden, wie sie in ähnlicher Konstruktion schon in zwei Weltkriegen zum Einsatz gekommen waren.
Räumboot 511 bei Verbandsfahrt
Die normale Besatzung bestand aus einem Offizier und zwölf Mann. Bislang hatte man als Kommandanten gewöhnlich Unterleutnants und Leutnants eingesetzt, nun neuerdings Obermeister, in der dritten Räumgruppe sogar einen Meister. Normalerweise fuhr das Boot einen Obermeister als leitenden Maschinisten sowie zwei Motorengasten und einen E-Mot-Gast. Für die Navigation waren entweder ein Obermaat oder Maat an Bord sowie ein Matrose der Steuermannslaufbahn. Den Signaldienst versah ein Signalgast. Zum Minenpersonal gehörten ein Obermaat der Sperrlaufbahn sowie ein Matrose. Ein Funker und der Koch vervollständigten die Besatzung. Für normale Marschfahrt in See konnte sich das Maschinenpersonal bei einer Wachbesetzung von jeweils zwei Mann gegenseitig ablösen. Gleiches galt für das Sperrpersonal. Artilleriegast und Rudergänger konnten sich ebenfalls am Ruder ablösen. Auch der Signäler hatte eine Ablösung, zumindest dann, wenn der Steuermannsmaat ebenfalls eine Ausbildung als Signalgast hatte, was häufig vorkam. Unentbehrlich war allein der Kommandant. Er hatte keine Ablösung und musste praktisch vom Auslaufen bis zum Einlaufen und Festmachen im nächsten Hafen ununterbrochen auf der Brücke sein. In der Kommandantenkammer gab es zwar eine zweite Koje für einen Wachoffizier, aber die diente in der Praxis nur als Reserve.
Der Zusammenhalt auf diesen kleinen Fahrzeugen war im Allgemeinen sehr gut. Im Laufe eines Ausbildungsjahres hatten die Männer gelernt, sich aufeinander zu verlassen, waren sicher in ihrem Dienstabschnitt, konnten sich gegenseitig ersetzen. Es herrschten eine enge Vertrautheit und gute Kameradschaft. Das galt auch für die Freizeitgestaltung, soweit sie möglich war. Wie in jeder Marine war der Umgangston an Bord kleiner Boote und auch die militärische Disziplin nicht ganz so zackig und offiziell wie auf großen Einheiten mit einer starken Besatzung.
Als ich in meiner kleinen Kommandantenkammer saß, wurde ich ein bisschen nachdenklich. Ich kannte die Manövriereigenschaften des Bootes nicht, die Crew hatte schon ein Jahr gemeinsame Ausbildung hinter sich und konnte demzufolge kein Vertrauen zu jemandem haben, der gerade von der Offiziersschule gekommen war. Das Vertrauen des Abteilungschefs in meine vierjährige Ausbildung war ja sehr ehrenvoll, aber es war eben auch der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Ich verkniff mir daher jede Bemerkung von wegen „neue Besen kehren gut“, sondern nahm mir vor, vorsichtig Schritt für Schritt Erfahrungen zu sammeln. Daraus wurde aber nichts. Noch am ersten Abend an Bord, ich hatte kaum meine Sachen in dem nur wenige Zentimeter breiten blechernen Kleiderspind untergebracht und einen Blick in das Bootstagebuch geworfen, erreichte mich die Information, dass die Gruppe am nächsten Morgen um 8.30 Uhr nach Peenemünde zurückzulaufen hätte. Die Großwetterlage hätte ergeben, dass in den nächsten Wochen mit Eisgefahr nicht zu rechnen wäre. Also studierte ich die Seekarte, fand navigatorisch keinerlei Schwierigkeiten, erfuhr, dass ich als taktische Nummer sechs, d.h. als letztes Boot der Gruppe, in der Kiellinie mitzusteuern hätte, lernte die Fahrtstufen und Umdrehungszahlen auswendig und vergewisserte mich, dass meine Trillerpfeife in der rechten Manteltasche lag, um die Ablege- und Anlegemanöver vorschriftsmäßig „an-“ bzw. „abpfeifen“ zu können. Ansonsten blieb mir nur übrig, mich auf den Ausbildungsstand der Besatzung zu verlassen.
Am nächsten Morgen begann nach der Flaggenparade um 8 Uhr das allgemeine Seeklarmachen auf den Booten. Die Hauptmotoren wurden angelassen, sie sollten sich warmlaufen. Im Kartenhaus wurden alle Navigationsgeräte, Seekarte, Tagebuch zurechtgelegt, der Rudergänger probierte die Ruderlagen durch und prüfte in Absprache mit dem Maschinenraum den elektrischen Maschinentelegrafen. Der Signalgast sortierte seine Flaggen und schlug „Anton“ an, was später den Beginn des Ablegemanövers anzeigen würde. Der Funker saß in seinem Schapp und stimmte den Allwellenempfänger auf das Flotteninformationsnetz ab.
Als ich auf meiner Brücke stand, um mir das Ablegemanöver zu überlegen, wurde mir schnell klar, dass die Dinge nicht so einfach sind. Die dritte Räumgruppe lag nämlich im sogenannten Schwimmbad. Der Saßnitzer Hafen wurde durch die lange Mole Richtung Osten und eine kurze Südmole nach Süden begrenzt. Wir lagen in einem Päckchen, also sechs Boote nebeneinander an der Südmole mit der Nase Richtung Land nebeneinander festgemacht. Eine nur wenige Meter entfernte Holzpier trennte uns vom übrigen Teil des Hafens. Dieses enge, winzige Becken war nur zum Festmachen von Hafenbarkassen und kleinen Dienstbooten und -fahrzeugen gedacht. Die Ausfahrt hatte zwar eine Breite von ungefähr 15 m, da war eigentlich gut durchzukommen. Aber man musste schon genau auf den Wind achten, um nicht zu vertreiben, die Maschine vorsichtig einsetzen mit geringen Drehzahlen, zugleich die Bewegung des Achter- und des Vorschiffes im Blick haben und die Auswirkungen jedes Befehls bzw. jedes Kommandos im Voraus beurteilen. Da mein Boot im Päckchen außen lag, war ich der Erste, der abzulegen hatte und dem infolgedessen am wenigsten Platz zur Verfügung stand.
Punkt 8.25 Uhr befahl ich dem Rudergänger: „Anton ins Deck!“ Er betätigte die Klingeltaste auf der Brücke und gab damit einen kurzen und einen langen Ton. Entsprechend des internationalen Morsealphabets war das der Buchstabe A wie Anton. Er bedeutete: Alle Mann auf Manöverstation! Dann pfiff ich mit meiner Trillerpfeife ebenfalls kurz lang das Signal „Klar zum Ablegen an Backbord“. Der Signäler setzte im Top die Flagge Anton. Ich ließ die Achter- und die Vorleine wegnehmen und dampfte vorsichtig in die Backbordspringleine ein, um das Boot mit dem Heck in Richtung Ausfahrt zu bringen. Mit mittschiffs gelegtem Ruder ließ ...