Als Nichtschwimmer auf den Weltmeeren
eBook - ePub

Als Nichtschwimmer auf den Weltmeeren

Meine Seemannsjahre

  1. 288 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Als Nichtschwimmer auf den Weltmeeren

Meine Seemannsjahre

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Hagen Deecke verlässt 1960 sein Elternhaus. Aus dem Bauernsohn wird ein Matrose bei einer der größten Reedereien der Welt – der DDG HANSA in Bremen. Dass er nie schwimmen lernte, erfährt niemand.Getragen vom Seefahrertraum und von jugendlicher Naivität holt ihn die Wirklichkeit an Bord und in den Häfen schnell ein: Kameraden kommen ums Leben, sein Schiff wird fast von einer Bohrinsel zerrissen, ein Tanker versinkt samt Besatzung vor Kapstadt. Rekon- struiert aus Briefen und Tagebüchern und voller scharf skizzierter Porträts der »Mitgefan- genen an Bord« legt der erfahrene Autor die unglaublich dicht erzählte, schonungslose Geschichte seiner 15 Jahre zur See vor, die ihn zu einem Kapitän auf den Weltmeeren machte.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Als Nichtschwimmer auf den Weltmeeren von Hagen Deecke im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literatur & Literatur Allgemein. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Verlag
Hinstorff
Jahr
2016
ISBN
9783356020533
img
Die GOLDENFELS

GOLDENFELS

Erste Reise

Wenn Bootsmann Jan Przybylak von seinen zwölf Kadetten sprach, redete er nur von den »jungen Löwens« oder von seinen »starken Kerls«. Im Ton lag Stolz, auf seinem Gesicht ein wissendes Lächeln. Wir Kadetten hatten auf der Schule Steuermann oder Handelsmarine als unseren Berufswunsch angegeben, auf dem Ausbildungsschiff Goldenfels sollte Bootsmann Przybylak dafür die praktischen Fundamente legen.
Die HANSA-Reederei vertraute ihm ihren seemännischen Nachwuchs an. So viel Verantwortung war für einen Bootsmann ungewöhnlich, zumal er ein kleiner, fragiler Mann um die fünfzig war, der rot und grün nicht voneinander unterscheiden konnte. Er trug eine mächtige Hornbrille mit schweren dicken Gläsern, die er ständig bergauf schob. Die Matrosen erzählten auch Geschichten von einer Zuckerkrankheit und einer altersbedingten Netzhautablösung. Warum er trotzdem noch zur See fahren durfte, deutete ein Steuermann an, der mit ihm schon auf mehreren Schiffen gefahren war: Es liege an einer Ausnahmegenehmigung, die ihm die See-Berufsgenossenschaft erteilt habe. Die Reederei mache ihren ganzen Einfluss bei maßgeblichen Behördenvertretern geltend, weil der Bootsmann die HANSA vor Jahren einmal vor einem Millionenschaden bewahrt haben soll. Die Hoffnung allerdings, jemals als Steuermann auf der Brücke zu stehen, war wegen seiner Farbenblindheit vergeblich, das wusste auch Jan. Seit er vor zwanzig Jahren zum Bootsmann befördert und damit direkter Vorgesetzter der Decksbesatzung geworden war, saß eine inzwischen zerschlissene, ehemals weiße Steuermannsmütze wie festgeschraubt auf seinem Schädel. Als Unteroffizier hatte er ein Recht auf diesen sogenannten Sonnenbrenner. Kaum jemand hatte ihn je ohne dieses Statussymbol gesehen. Der Bootsmann rasierte sich täglich nass, danach betupfte er Wangen, Hals und Kinn mit dem mentholhaltigen Rasierwasser Mennen, besonders in den Tropen halte Mennen die Frische besonders gut, meinte er einmal. Sobald ich mit dem Putzen seiner Kammer an der Reihe war, säuberte ich Duschkabine und Klo, Waschbecken, Spiegel und Fußboden, baute seine Koje, wischte Staub und brachte sein Rasierzeug wieder in Ordnung. Ich hatte große Achtung vor unserem Bootsmann und wollte von ihm wahrgenommen werden. Jan Przybylak ging fast nie mehr an Land, vertrat sich nur noch selten die Beine an der Pier. Alle größeren Häfen auf den fünf Kontinenten hatte er während der letzte fünfunddreißig Jahre gesehen. Er war nicht länger an der Welt interessiert. Stattdessen gab er seinen jungen Kerls mit auf den Weg, wo sie sich für wenig Geld maßgeschneiderte Anzüge machen lassen konnten, nämlich in Karatschi, gab uns Tipps, in welchem Hotel er sich im südafrikanischen Durban am wohlsten gefühlt hatte, im Edward, nannte uns eine Hamburger Adresse, wo wir gut und günstig Elektronikartikel einkaufen konnten, das Kaufhaus Brinkmann in der Spitaler Straße. Trotz schwacher Augen las er viel: Schifffahrtsbücher, »Die Wache« von Nikos Kavvadias stand in seinem Regal, auch Stevensons »Schatzinsel«.
Kurz nachdem ich in Bremen an Bord gegangen war, hatte Bootsmann Jan mich zu sich bestellen lassen. »Warum kommst du erst in letzter Minute an Bord?«
»Seesack und Sütterlin«, meine Antwort akzeptierte er, ohne nachzufragen.
»Heuerbaas Ludwig Lessing hat mir von deinen Schwierigkeiten erzählt. Ich wollte mir jetzt selbst ein Bild machen.«
Auf meine Frage, welche Seewache ich gehen solle, sagte er: »Der Erste Offizier teilt die Wachgänger und Tagelöhner ein, nicht ich.« Als ich mich wegdrehen und seine Kammer wieder verlassen wollte, fügte er hinzu: »Ich glaube, wir kommen gut miteinander aus. Wie heißt du eigentlich?«
»Hagen«, antwortete ich.
»Mit Vornamen?«
»Ja.«
»Nie gehört. Hier heißt du Hannes. Einverstanden?« Er sah zu mir hoch. Ich nickte. Diese Begegnung überraschte mich. Ein derart unverkrampftes Gespräch hatte ich nicht erwartet, eher eines zwischen Ritter und Knappe. Bevor ich seine Kajüte verließ, gab er mir noch einen Hinweis: »Wenn du Fragen hast zu Tauwerk und Taljen, Marlspiekern und Persenningen oder wann welcher Knotentyp bei welcher Gelegenheit angewendet werden muss: Halte dich an den Altmatrosen Walter Meyer. Bei Walli lernst du am meisten.« Dann wandte er sich wieder seinem Lesestoff zu. Ich drehte mich um und verließ seine Kammer.
Der Erste Offizier steckte mich in die Mittelwache, besser bekannt als Hundewache und ungeliebt, weil sie nicht nur nachmittags von zwölf bis vier dauert, sondern auch zu nachtschlafender Zeit. Sie findet prinzipiell unter der Führung des Zweiten Offiziers statt. Die daran anschließende Wache von vier bis acht leitet immer der Erste Offizier, gefolgt vom Dritten Offizier, der traditionell die Wache von acht bis zwölf unter sich hat. Da er meistens auch der jüngste Nautiker ist und seinen Brückendienst unter den wachsamen Augen des Kapitäns erst noch lernen sollte, wird sie auch Kapitänswache genannt. Die deutschen Seeleute hatten diesen klassischen Wachrhythmus einst von der Royal British Navy übernommen, und er gehörte seitdem zum bewährten Zeitkorsett. Die Glasenuhr war dabei behilflich. Mit einem einzigen Glockenschlag erinnerte sie die Wachgänger daran, dass die erste halbe Stunde ihrer Schicht vorüber war; alle halbe Stunde kam ein neuer Schlag hinzu, zum Wachwechsel waren es schließlich vier Doppelschläge. Mit ihnen endete der Törn des einen Offiziers und der des nächsten begann. Vor langer Zeit, zu Segelschiffszeiten, hatte auf der Brücke stets ein mit Sand gefülltes Stundenglas – daher Glasenuhr – gestanden, das alle halbe Stunde umgedreht werden musste. So lange brauchte der feine Sand, bis er von der oberen Stundenglashälfte in die untere gerieselt war. Damit die Bordgemeinschaft dann wusste, was die Stunde geschlagen hatte, griff ein Matrose den Klöppel der Schiffsglocke und verbreitete alle halbe Stunde die aktuelle Uhrzeit mittels der entsprechenden Anzahl von Schlägen über das ganze Schiff.
img
Bootsmanöver an Land in der Schiffsjungenschule Elsfleth
Während meiner ersten Seewache erreichten wir die Außenweser, fuhren ein paar Meilen über die Nordsee, an der Kugelbake, dem Wahrzeichen Cuxhavens, und an Brunsbüttel vorbei und von dort die Elbmündung flussaufwärts Richtung Hamburg. Unser erstes Etappenziel hieß Schuppen 80/81 im HANSA-Hafen. Drei Tage lang übernahmen wir Ladung für unsere Zielhäfen. Es stiegen auch zwölf Passagiere zu, Ingenieure und Techniker mit ihren Familien, die Arbeitsverträge mit dem Schah von Persien geschlossen hatten, und ein Soziologe, der nach Indien wollte.
In Hamburg wurde ich mit Jonny als Lukenwächter eingeteilt. Wir hatten uns schon vor dieser ersten großen Reise auf der Schiffsjungenschule in Elsfleth kennengelernt und wurden Freunde. Er kam aus Kiel und war dort als Schüler bereits Leistungsschwimmer gewesen. Keiner machte die Mädchen so unverblümt an wie Jonny, keiner von uns ging so direkt zur Sache wie er. Jetzt sollten wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Ladung unangetastet blieb. Die Hauptaufgabe dieses dumpfen und langweiligen Jobs bestand darin, Hafenarbeiter allein durch unsere Anwesenheit im Laderaum davon abzuhalten, sich nicht an den verstauten Kostbarkeiten zu vergreifen und fremdes Eigentum mitgehen zu lassen. Ladungsdiebstahl war ein beliebtes Hobby vieler Schauermänner, gute Gelegenheit macht fleißige Diebe. Sie gingen dabei trickreich vor: Während die einen Pensum arbeiteten und im Akkord Stückgüter in die Luken packten und in die flachen Zwischendecks zerrten, suchten ein paar andere Beute. Wir beide sollten nun verhindern, dass sie Holzkisten aufbrachen, Kartons aufschlitzten oder Schlösser knackten. Die ungleich höhere Hürde allerdings mussten sie erst danach überwinden: das Raubgut durch den Freihafenzoll zu schmuggeln. Kein Hafenarbeiter auf der Welt – und ein Hamburger schon gar nicht – ließ sich gern erwischen. Überführte Ladungsdiebe wurden von ihren Arbeitgebern fristlos entlassen. Besonders begehrt waren Zigaretten, Schweizer Uhren, Elektronikartikel, Kaffee, Haushaltswaren und Klamotten – alles Sachen, die ein Schauermann bei Hehlern auf dem Hamburger Kiez gut losschlagen konnte.
Jonny und ich mussten hellwach sein: Einerseits sollten wir keinen Krach riskieren und die Männer in Ruhe arbeiten lassen, denn diese standesbewussten Typen waren nicht gerade zartbesaitet und setzten ihre Interessen gern nachdrücklich mit barschen Worten und Prügelandrohung durch. Andererseits sollten die Lukenwächter zuallererst die Interessen des Schiffes und seines Reeders vertreten, der wiederum mit Ladungseigentümern und Versicherungsgesellschaften nicht in Streit und juristische Händel geraten wollte. Obwohl der Job des Lukenwächters somit nicht ganz risikolos war, gehörte er dennoch zu den besten Gelegenheiten, die begehrten, weil einträglichen Überstunden zu schieben, ohne sich groß krumm zu machen.
Unser nächster Seehafen war Rotterdam, weltweit der größte überhaupt. Nachts gegen drei – viele Stunden vor der Ankunft – kam ein Lotsenboot an Steuerbord längsseits. Ein erstaunlich schweigsamer Seelotse kletterte an der Jakobsleiter die Bordwand hoch, nahm die Aufgänge zur Brücke und äußerte sich dabei nicht mal mit einem einzigen Wort zur aktuellen Wetterlage. Sehr ungewöhnlich, wir aber reagierten nicht darauf. Ein schwerer Fehler, wie wir bald erfahren sollten, denn nach einer knappen Stunde vollzog die Goldenfels urplötzlich eine Vollbremsung. Zwei heftige aufstoppende Bewegungen durchliefen das Schiff, als würde eine Riesenschaukel auf dem Rummelplatz jäh abgebremst werden. Die Wachgänger auf der Brücke und in der Maschine stieß es nach vorn, sie schwankten wie Getreide im Wind und fanden gerade noch rechtzeitig Halt. Die Hauptmaschine wurde abgestellt, eine unbehagliche Stille legte sich über das gerade noch vor Leben vibrierende Schiff. Reglos wie ein totes Flusspferd lag es im flachen Wasser. Wir waren gestrandet. Aufgelaufen! Mit das Hässlichste, was einem Seemann widerfahren kann. Wir schaukelten nicht länger auf leisen Nordseewellen, wir saßen fest auf weichem Sand, lagen mit plattem Bauch still und bewegungslos wie im Trockendock. Die westfriesische Insel Terschelling hielt uns fest und gab uns nicht wieder frei.
Der schweigsame Seelotse hatte allen Grund, schweigsam zu sein: Er war betrunken. Er hatte unseren West-zu-Süd-Kurs verlassen und war auf Südwest gegangen – fünfzehn Meilen zu früh! Auf diesem neuen Kurs lag jedoch die holländische Insel im Weg und auf ihrer flachen Westspitze jetzt die Goldenfels. Der Rudergänger war wie aufgelöst, glaubte, einen Fehler gemacht zu haben. Aber der Steuermann konnte ihn beruhigen, ihn traf keine Schuld. Der schweigsame Seelotse schlief derweil auf den bequemen Brückensessel seinen Rausch aus. Wir bugsierten ihn später in die Lotsenkammer, wo ihn die Polizei nach Ankunft in Rotterdam in Empfang nahm. Trotz allem hatten wir Glück: Nach einer Stunde setzte die Flut ein, das Wasser stieg, wir hörten ein leises Schmatzen und Glucksen, bekamen mehr und mehr Wasser unter den flachen Kiel und schwammen schließlich vollständig auf, ganz ohne Schlepperhilfe. Allein die zurückkehrende See hatte uns in dieser hochpeinlichen Lage geholfen und die Goldenfels von der Sandbank befreit. Gegen Mittag legten wir in Rotterdam an, wo wir im sogenannten Felshafen, der nach den Schiffen der HANSA-Reederei benannt wurde, festmachten. Es war unser letzter Aufenthaltsort in Nordeuropa.
Ich dachte an den Abschied von zu Hause, an Pfannkuchen mit Amaretto und den blühenden Bauerngarten und daran, dass es nun unwiderruflich auf Große Fahrt gehen würde. Gedankenverloren schlenderte ich ziellos durch den Hafen und landete am Tresen des Felsenkellers, gut zehn Minuten von meinem Schiff entfernt. An der Bar bestellte ich ein Bier und genoss die Sprachmelodie des holländischen Barkeepers. Völlig unerwartet trat eine Frau von hinten an mich heran, so dicht, dass wir sogleich hautnah aneinanderklebten. Eine Weile blieben wir so stehen, ich war gespannt, wie es weitergehen würde. Ich war noch nie mit einer Frau zusammen gewesen, war aufgeregt und neugierig, wer da hinter mir stand. Ich drehte mich langsam zu ihr um; sie war einen halben Kopf kleiner als ich, hatte kurze rotblonde Haare und trug ein enges, hellblaues Kleid ohne Dekolleté. Ihr Name war Rheé, sie war vielleicht zwanzig – drei Jahre älter als ich. Wir setzten uns auf Barhocker an einen runden Tisch, tranken weißen Rum, tanzten Becken an Becken nach englischen Hits und landeten später in ihrem Apartment in der Heenekijnstraat in der Rotterdamer Innenstadt. Vor diesem Augenblick hatte ich mich immer gefürchtet und ich erzählte ihr von meiner Angst. Sie lachte nur, sagte etwas Nettes auf Holländisch und nahm mir alle Befangenheit. Wir liebten uns die ganze Nacht, es war bereits hell, als sie mich zum Schiff begleitete. Von da an sahen wir uns jedes Mal, wenn mein Schiff Rotterdam anlief.
Der Felshafen war bei Seeleuten sehr beliebt, was nicht zuletzt am Bäcker von Laboe lag, einem zuvorkommenden holländischen Handelsmann, der sein schnell wachsendes Geschäft in den Fünfzigern mit einem Bauchladen in seinem gleichnamigen Stadtteil gegründet hatte. Anfangs lief er mit frischen Semmeln und süßen Kuchen von Schiff zu Schiff und verkaufte Seeleuten sein Backwerk, daher sein Spitzname. Inzwischen aber gab es nichts, was er nicht hätte liefern können. Auf der Goldenfels waren gefütterte Winterstiefel und eine Fellmütze samt Ohrenschützern für einen Matrosen bestellt worden, für einen Jungmann und drei Leichtmatrosen je ein Paar Arbeitshandschuhe, für den Zweiten Offizier ein Schachbrett, den Leitenden Ingenieur Luftpostpapier und für uns alle eine englische Darts-Scheibe mit zehn Pfeilen, die aus der Gemeinschaftskasse bezahlt wurde.
Und dann fragte der Bäcker von Laboe während der Tea Time-Pause, die vormittags von zehn bis zehn Uhr zwanzig abgehalten wurde, in der Mannschaftsmesse: »Ist hier ein Hagen an Bord?«
Ich hatte nichts bestellt, reagierte aber auf seine Frage. Er kam auf mich zu und händigte mir ein rotes, quadratisches Kästchen aus. Darin fand ich ein goldenes R. Es stand für Rheé.

Das Schiff

Mein Schiff als riesiger Scherenschnitt: Masten, Ladepfosten und-bäume strebten in den Abendhimmel hinein. Sie standen senkrecht zum Hauptdeck und senkrecht zu dem lang hingestreckten Schiffskörper auf schwarzem Wasser. Lasttaljen, Hanger und Winden forderten Beachtung – ein jedes Teil für sich allein und alle gemeinsam. Die flachen Aufbauten der mittschiffs gelegenen Brücke und das Achterschiff vollendeten den Anblick der kunstvollen Silhouette dieses schweren Stückgutfrachters. Durch die Vielzahl der Ladebäume mit all den Drähten, Renner und Faulenzer genannt, den Geien und Blöcken mit ihrem laufenden Gut, gewann man den Eindruck, dass dieses Schiff höchst kompliziert zu handhaben sei. Tatsächlich aber hatte sich dieser Typ seit vielen Jahren in der Fahrt bewährt. Bei seinem Anblick schlug echten Seeleuten das Herz höher und uns Kadetten schmeichelte die Erkenntnis, auf einem so schönen Schiff zu fahren. Dieses Meisterwerk – hundertsiebzig Meter lang und neunzehn breit – sollte für ein Jahr unsere Heimat werden, auf der Goldenfels würden wir arbeiten, Geld verdienen und dabei die Welt erfahren. Schon nach ein paar Tagen sollten wir erkennen, dass hier Schwerstarbeit von uns zu leisten war: Giene und Schäkel, Herzplatten und Spannschrauben, Königsgeien und Stahlmatten – alles, was wir anpackten, war schwer und wuchtig, massig und gewaltig. Wir hatten eben nicht auf einem Operettenschiff angemustert, auf dem blaue Uniformen und goldene Kordeln spazieren geführt wurden, sondern auf einem Schwergutfrachter.
img
»Schiff: M/S GOLDENFELS, Fahrtgebiet: große Fahrt«. Auszug aus dem Seefahrtbuch des Autors
img
MS GOLDENFELS, August 1962
Die Schiffsmitte war geprägt von den weißen Aufbauten mit dem Peildeck und der Kommandobrücke mit ihren beiden Nocken. Im Deck unter der Brücke lag das Reich von Kapitän Otto Mendel mit großer Kajüte und dem weitläufigen Salon, darunter wohnten seine drei Nautischen Offiziere, alle schön weit weg vom Lärm der Hauptmaschine und dem Alltag der Matrosen. An der Rückseite dieser Mittschiffsaufbauten war der Schwergutbaum befestigt, hundertfünfundsechzig Tonnen konnte er auf einen Schlag heben, ein Schiff wie ein Herkules. Damit konnte die Reederei es auch dort einsetzen, wo Häfen noch ohne eigene Kräne waren, wie in Afrika oder auch in Indien.
Auch die Aufbauten des Achterschiffs strahlten weiß und hell wie eine mediterrane Jacht. Aus ihnen wuchs ganz oben – wie ein Burgfried aus dem Fels – ein mächtiger Schornstein empor, von vier Rettungsbooten eingerahmt. Ein Deck tiefer machten es sich die zwölf Passagiere bequem, darunter wiederum lagen die Einzelkammern der Ingenieure, die Offiziersmesse, Versorgungsräume und das Hospital. Lagerhalter, Boots- und Zimmermann logierten mit Chefkoch und Kajütsteward in Einzelkammern auf dem Hauptdeck. Dort lagen auch Kombüse, Kühlräume und Mannschaftsmessen.
Wir Schiffsjungen lebten, wie auch die Matrosen und Heizer, ganz unten im Achterschiff zwischen Maschinenraum und Ladung – nur wenige Fuß über der Wasseroberfläche, dort, wo es eng und dunkel zugeht – in unmittelbarer Nähe des Machtbereichs des Chef-Maschinisten, wo es zischte und dampfte, wo riesige Lüfter die Maschinen mit Sauerstoff versorgten, wo es nach Schmiere, Diesel und Getriebeöl stank; hier im Fettkeller war es rutschig, stickig und laut. In den Kammern und Unterkünften rüttelte es, Tassen schepperten in ihren Ablagen, Kaffee sprang aus den Mucken, Teller hüpften von den Tischen. Besonders schlimm war es, wenn das rigorose Rückwärtsmanöver »Zurück Voll« verlangt wurde.
Mein Zimmerkamerad Paul und ich richteten es uns dort in unserer sieben Quadratmeter großen Kammer so häuslich und gemütlich ein, wie es nur eben ging: Unter einer Tischdecke versteckten wir die Resopalplatte, vor die Bullaugen hängten wir Gardinen, fleißig rankende Süßkartoffeln zierten mit ihren grünen Blättern unser Reich. Neben den beiden Holzspinden hingen Waschbecken und Spiegel, unter den Bullaugen standen fest eingebaut eine hart gepolsterte Holzbank und ein kleiner Tisch, gerade mal so groß wie zwei Atlanten. Den einzigen Stuhl mussten wir bei Seegang laschen, damit er nicht gegen Wand und Koje krachte. Dicke Luft in unserem Heim verjagten Paul und ich, indem wir ein halbrundes Blech so in eines der Bullaugen klemmten,...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Vorwort
  5. Meine Familie
  6. Lachendorf
  7. Abschied
  8. Bremen
  9. GOLDENFELS
  10. Lachendorf
  11. KYBFELS
  12. NEIDENFELS
  13. FRAUENFELS
  14. Vom Mythos der HANSA
  15. Elsfleth
  16. WARRAH RIVER
  17. ALKMAN
  18. FALDERNTOR, JOSEPHTURM UND SCHEPELSTURM
  19. WENDENTOR
  20. An Land
  21. Dank
  22. Impressum