Meine Zeit steht in deinen Händen
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Meine Zeit steht in deinen Händen

Biografie

  1. 592 Seiten
  2. German
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Meine Zeit steht in deinen Händen

Biografie

Angaben zum Buch
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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Seine Lieder gehören inzwischen zum festen Liedgut vieler Kirchengemeinden und einige sind in manchem Evangelischen und Katholischen Gesangbuch zu finden. Dabei wurde sein bekanntestes Lied zu seinem Lebensmotto. Peter Strauch, Theologe, Buchautor und Liedermacher, ließ sich schon früh von der göttlichen Liebe anstecken und legte sein Leben vertrauensvoll in Gottes Hände. In seiner spannenden Biografie erzählt er von seinen wichtigsten Lebensstationen, aber auch von schwierigen Wegstrecken und Erfahrungen. Wie wenige andere hat Peter Strauch das geistliche Leben in den letzten Jahrzehnten geprägt.Inklusive 16-seitigem Bildteil.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783775172547



Teil 1

1943–1962:

Kindheit und Jugend in Ronsdorf

Angesteckt von Gottes Feuer

Bereits im Jahr 2004 trat der SCM Verlag mit der Bitte an mich heran, meine Lebensgeschichte niederzuschreiben. Dabei wurde mir angeboten, auch ein anderer könne das übernehmen, wenn ich bereit sei, sie ihm zu erzählen. Ich winkte ab, der Zeitpunkt sei noch nicht da, und wenn, dann wolle ich es selber tun. Kurz vor meinem Ruhestand willigte ich dann ein – das liegt sieben Jahre zurück. Aber die Barriere wurde höher und höher: Was soll ich schreiben? Was gehört in eine Autobiografie und was nicht? Ist die Versuchung nicht allzu groß, mich ins beste Licht zu rücken und dabei unaufrichtig zu sein? Bin ich in der Lage, dieser Versuchung zu widerstehen? Und wenn, mache ich mich dann nicht sehr verletzlich? Und überhaupt: Wer bin ich schon? »Eigentlich nichts Besonderes«, pflegte Paul Deitenbeck von sich zu sagen – wie viel mehr trifft das auf mich und mein Leben zu.
Und außerdem geht es dabei ja nicht nur um meine Geschichte, auch die Menschen an meiner Seite sind betroffen: meine Frau, meine Kinder, meine Geschwister. Meine Lebensgeschichte lässt sich nicht schreiben und verstehen ohne sie. Diese Schwelle empfand ich als besonders hoch. Doch der Entschluss ist gefasst: Jetzt schreibe ich. Und bevor Sie, meine Leserinnen und Leser, diesen Text in Ihren Händen halten, werden ihn bereits meine Frau, meine Töchter und meine Geschwister gelesen haben, besonders die Teile, die sie betreffen. In diesem Buch steht also nichts, womit nicht auch sie einverstanden sind.
So sitze ich jetzt also am PC und schreibe meine Biografie. Offen gesagt, ich liebe Biografien, in meinem Bücherregal beanspruchen sie den größten Raum. Es ist spannend, zu lesen, wie das Leben eines Menschen verlaufen ist. Nein, es müssen keine Heldensagen sein, ganz im Gegenteil. Am meisten sprechen mich Lebensgeschichten an, die von einem schwachen Menschen handeln und von einem starken Gott. Das ist auch die Art, wie die Bibel über Menschen schreibt. Sie machen Fehler, sie versagen, manchmal verstricken sie sich geradezu in Schuld. Hätten wir von König David nicht erfahren, dass er in einer schwachen Stunde Ehebruch beging und dabei nicht einmal vor einem Mord zurückschreckte – seine Geschichte würde uns wohl längst nicht so nah rücken. Das gilt auch für den Jünger Petrus, der während der Verhaftung seines Meisters sogar schwor, mit dem angeklagten Jesus nichts zu tun zu haben. Weshalb faszinieren uns gerade solche Figuren? Vermutlich, weil wir selbst nicht viel anders sind. Aber außerordentlich beeindruckend ist es, wenn Gott solche Leute in den Griff bekommt. Ganz erstaunlich, was er dann aus ihrem Leben macht. So geht es auch mir.
»Jeder alte Busch ist zu gebrauchen.« Vor vielen Jahren las ich diesen Satz bei Major W. Ian Thomas, dem Gründer und Leiter der »Fackelträger«. Schon wegen des »Busches« sprach er mich an. Was für einen »Busch« gilt, gilt schließlich auch für einen »Strauch«. Major Thomas schrieb diesen Satz in seiner Auslegung der Berufungsgeschichte des Mose (2. Mose 3–4). Mose, damals noch Hirte der Schafherde seines Schwiegervaters, entdeckt eines Tages einen Busch, der brennt, aber nicht verbrennt. Neugierig geworden, will er sehen, was es damit auf sich hat. Da spricht Gott zu ihm: »Mose, tritt nicht herzu! Zieh deine Schuhe aus! Denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land« (2. Mose 3,5). Major Thomas meint, der Busch selbst sei wohl nichts Besonderes gewesen, eben ein ganz normaler Wüstenstrauch. Aber Gott hatte ihn angesteckt, und so brannte und brannte und brannte er – ganz ohne »Burn-out«.
Jeder alte »Strauch« ist zu gebrauchen. Nein, etwas Besonderes bin ich nicht. Das Besondere ist, dass der lebendige Gott mich vor vielen Jahren mit seinem Feuer angesteckt hat. Davon will ich jetzt erzählen. Das geschieht in sieben Lebensabschnitten, obwohl mein Buch nicht wirklich chronologisch geordnet ist. Immer wieder gibt es Gedankenverknüpfungen zwischen den einzelnen Kapiteln, und ich lasse ihnen relativ weiten Raum. Dabei nenne ich viele Namen, andere nicht, wie sollte es auch anders sein. Gibt es Unangenehmes zu berichten, so werden selbstverständlich keine Namen erwähnt.
Und noch etwas sei zuvor mitgeteilt: Ich schreibe dieses Buch aus meiner subjektiven Sicht. Auch wenn es darin um Erfahrungen in Freien evangelischen Gemeinden, anderen Kirchen, Gremien und Zusammenschlüssen geht, Sie werden immer nur meine persönlichen Ansichten finden und keine objektive Geschichtsschreibung – wobei es die ohnehin nicht gibt. Und dabei bemühe ich mich auch für solche Leserinnen und Leser verständlich zu schreiben, die nicht in meinem freikirchlichen und evangelikalen Lebensraum, ja vielleicht nicht einmal bei den Christen zu Hause sind.
Apropos »Leserinnen«: Meine weiblichen »Leser« bitte ich um Entschuldigung, wenn ich bei einer maskulinen Bezeichnung nicht immer auch die feminine Form ausführe. Das ist keine Geringschätzung, im Gegenteil. Aber es wird holprig, wenn bei einem »Christen« zugleich die »Christin« genannt werden muss und bei einem »Leser« die »Leserin«. Wer immer Sie sind, ob Frau oder Mann, ich freue mich über Sie und darüber, dass Sie dieses Buch lesen. Neben eher grundsätzlichen Gedanken über Gott und die Welt werden Sie hier auch die kleinen Dinge finden: Theologisches und Weltliches, Sonntags- und Alltagsgeschichten, manchmal auch Bagatellen, die nicht gerade weltbewegend, aber doch unterhaltsam, humorvoll und manchmal ganz einfach menschlich sind. Schließlich habe ich beim Schreiben nicht nur Kollegen (und Kolleginnen!) vor Augen, sondern auch Normalverbraucher, besonders auch junge Leute, nicht zuletzt meine Enkel. Und sollte es Passagen geben, die Ihnen allzu kompliziert oder allzu simpel zu sein scheinen, dann blättern Sie einfach darüber hinweg. Ein Buch macht’s möglich.

Im Krieg geboren

Wenn ich in unserer jetzigen Wohnung aus dem Fenster schaue, sehe ich auf der anderen Talseite das Haus, in dem ich im Januar 1943 geboren wurde. Die Stadt, in der ich wohne, heißt Wetter. Wunderschön liegt sie in einer weiten Ruhrkurve am Hang des Harkortberges. Gegenüber ist der heute ebenfalls zu Wetter gehörende Ort Volmarstein mit seiner Burgruine zu sehen. Aufgewachsen bin ich zwar in Wuppertal, aber mein Geburtshaus steht erstaunlicherweise in der Stadt, in der meine Frau und ich nun unseren Lebensabend verbringen. Dabei haben wir uns unseren Wohnort nicht daraufhin ausgesucht. Es hätte auch eine ganz andere Stadt sein können.
Meine Mutter kam aus dieser Stadt. Ihr ursprüngliches Elternhaus befindet sich nur 500 Meter Luftlinie von unserer jetzigen Wohnung entfernt im Stadtteil Volmarstein. Gerade einmal drei Jahre war sie alt, als ihr Vater Ernst Bühne mit 29 Jahren in den Ersten Weltkrieg zog. Ich habe keine Ahnung, ob er zu denen gehörte, die mit Begeisterung aufgebrochen sind – in der irrigen Meinung, nach wenigen Wochen wieder zurück zu sein. Auf jeden Fall wollte er nicht, dass die beiden Töchter seinen Abschied mitbekamen. Aber dann begegnete er ihnen doch, als er das Haus verließ. Die kleine Magdalene lag im Kinderwagen und war eben erst ein Jahr alt – in meinem Leben sollte sie noch eine wichtige Rolle spielen. Neben ihr stand die dreijährige Ruth, meine Mutter. Mein Opa habe dann, so wurde erzählt, die Kleine aus dem Kinderwagen genommen, an sich gedrückt und ziemlich abrupt zurück in den Wagen gelegt. Die Trennung von seiner Frau und seinen Kindern fiel ihm wohl sehr schwer.
Gleich im ersten Kriegsjahr wurden er und einige seiner Kameraden tödlich von einer Granate getroffen. Das war während eines Gottesdienstes im Unterstand. Seine Taschenbibel steht in meinem Bücherschrank. Sie war neben dem Ehering wohl das einzige Überbleibsel, das meine Oma nach dem Tod ihres Mannes erhielt. »Gefallen für Volk und Vaterland« nannte man das damals. Am Ehrenmal in Wetter und in der Volmarsteiner Kirche finde ich seinen Namen in der Liste der »Gefallenen«. Doch in seiner Bibel steht handschriftlich, wohl von ihm selbst eingetragen: »Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn«, und darunter: »Sedan, 6. Oktober 1914«.
So wurde meiner Oma bereits mit 29 Jahren der Mann genommen (sie war so alt wie er), und meine Mutter stand ohne Vater da. Ernst Bühne, so hieß es, soll musikalisch gewesen sein. Ab und zu spielte er in der Volmarsteiner Kirche die Orgel. Meine Oma hat erzählt, dass er in einem Gottesdienst, in dem das Licht ausfiel, mithilfe des Blasebalgtreters weiterspielte. Er wollte vielleicht eine Panik vermeiden. Erst als das Licht wieder brannte, hat er aufgehört. Auch diese alte Dorfkirche liegt in Sichtweite unserer Wohnung. Die geistliche Heimat des Opas war der CVJM.
Zwei Jahre später, am 8. Dezember 1916, heiratete meine Oma ein zweites Mal. Trauprediger war der Pfarrer Franz Arndt (1848–1917), eine bedeutende Persönlichkeit in Volmarstein. Er gründete die »Evangelische Stiftung«, die mit ihren vielen Einrichtungen und Häusern den kleinen Ort noch heute prägt. Mit ihrem Mann Eduard Wollenweber und ihren beiden Töchtern Ruth und Magdalene bezog meine Oma dann das Haus in Altwetter auf dem Harkortberg. Dort wurde ich 27 Jahre später geboren.
Die Wurzeln meines Vaters liegen im Bergischen Land – so nennt man den südöstlichen Teil von Nordrhein-Westfalen. Der Name hat nichts mit der geografischen Beschaffenheit dieser Gegend zu tun, sondern stammt von den frühen Landesherren, den Grafen von Berg. Auch Wuppertal liegt im »Bergischen«, obwohl es die Stadt bei der Geburt meines Vaters noch gar nicht gab. Das »Wuppertal« bestand bis 1929 aus vielen Einzelstädten, Ronsdorf war eine von ihnen. Dort lernten meine Eltern sich kennen.
Begonnen hatte das erstaunlicherweise über Diakonissen, die es seit 1896 in Wetter gab. 1927 zog die Diakonissenschaft nach Solingen-Aufderhöhe (heute: Diakonisches Werk Bethanien), aber in Wetter blieb das Altenheim »Salem« unter der Leitung einiger Diakonissen zurück.
Meine Tante und meine Mutter halfen dort hin und wieder aus. Eine der Diakonissen übernahm später die Leitung eines Ronsdorfer Kinderheims. Über diesen Kontakt begann zunächst meine Tante Magdalene dort zu arbeiten und ein wenig später auch meine Mutter. Mein Vater und sein Freund Alfons Simmerkus wohnten ganz in der Nähe, und beide gingen in diesem Kinderheim ein und aus.
Manchmal gingen meine Mutter und er gemeinsam mit den Kindern spazieren. Dabei verliebte meine Mutter sich in meinen Vater, wagte es aber nicht, mit ihm darüber zu reden. Nur ihrer Schwester Magdalene erzählte sie davon. Die teilte meinem Vater unumwunden mit, dass ihre Schwester Ruth ihn liebe. Es sei doch nicht gut, wenn er und Ruth mit den Kindern spazieren gingen, ohne eine Beziehung zueinander zu haben. Er solle doch daran denken, wie schnell die Leute reden. Irgendwie muss sie meinen Vater mit dieser seltsamen Logik beeindruckt haben, auf jeden Fall kam es zum Geständnis der Liebe zwischen Karl und Ruth. Am 8. Juli 1939 verlobten sie sich, und am 19. Februar 1941 heirateten sie. Wieder war Krieg und mein Vater in Russland stationiert. Zur Hochzeit gewährte man ihm einen kurzen Heimaturlaub.
Am 10. Januar 1943, gegen drei Uhr morgens, wurde ich in Wetter geboren. Bereits 1942 war meine Mutter mit Zwillingen schwanger gewesen, aber durch einen Sturz hatte sie die beiden Kinder verloren. Nun war die Sorge groß, bei meiner Geburt könne ein ähnliches Unglück passieren. Meine Mutter brachte mich im Wohnzimmer ihres Elternhauses zur Welt. An diesem 10. Januar, einem Sonntag, lautete die Losung der Herrnhuter Brüdergemeine: »Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein« (2. Mose 14,14), ein geradezu programmatisches Wort für mein späteres Leben.
Zum Zeitpunkt meiner Geburt kämpfte die 6. Armee unter Generalfeldmarschall Paulus vor Stalingrad. Ihre Situation wurde immer aussichtsloser, doch in der Heimat erfuhr man offiziell nichts davon. Der Propagandaapparat der Nazis lief auf Hochtouren und verkündete weiter Siegesparolen, obwohl Historiker heute die Schlacht um Stalingrad als Wende dieses schrecklichen Krieges betrachten. Meine Tante Magdalene hatte bereits 1938 geheiratet und wohnte in Wuppertal. Als die Fliegerangriffe dort immer gefährlicher wurden, holte meine Oma sie nach Wetter. Über eine Frau Harkort, die sich nach dem Ersten Weltkrieg für kriegshinterbliebene Frauen einsetzte, hatte sie Kontakt zum Gut Schede. Dort wurden meine Tante und ihr Sohn Hans-Hermann untergebracht, später auch meine Mutter und ich. Manchmal gehen meine Frau und ich dort durch den wunderbaren Scheder Wald und bewundern das alte Herrenhaus, das inzwischen ein lohnenswertes Ziel auf der Route »Industriekultur« ist (www.route-industriekultur.de). Ich habe noch Fotos, die meine Mutter und mich dort im »Blauen Salon« zeigen, hinter uns die großen Glasfenster mit dem Blick auf den Rasen und den Wald.
Im Sommer 1944 wurde mein Vater mit seiner Einheit nach Polen verlegt. Es muss dort für ihn zunächst relativ ruhig gewesen sein, denn im darauffolgenden Winter packte meine Mutter ihren kleinen Sohn in warme Decken und besuchte meinen Vater. Ich besitze noch ein Foto davon, es wurde im Januar 1945 an meinem zweiten Geburtstag aufgenommen. Ich sitze in einen dicken Schal eingemummt auf einem Tisch, rechts und links die beiden Geburtstagskerzen und hinter mir meine glücklichen Eltern. Jedes Mal, wenn ich das Bild betrachte und daran denke, in welcher Zeit es gemacht wurde, wird mir bewusst, wie verliebt und auch risikofreudig meine Eltern gewesen sein müssen. Vielleicht haben sie aber auch nicht geahnt, wie gefährlich die Situation im Osten war. Buchstäblich mit einem der letzten Züge fuhr meine Mutter mit mir in die Heimat zurück und erreichte schließlich nach einer abenteuerlichen Reise über Berlin Wuppertal. Meine Tante, ihre resolute Schwester Magdalene, holte uns am Elberfelder Bahnhof ab. Noch viele Jahre später bekam ich zu hören, wie verdreckt, aber auch vergnügt ich damals gewesen sei.
Nach Kriegsende im Mai 1945 wohnten wir einige Jahre in Wuppertal-Cronenberg bei meiner Tante, auch noch nach der Heimkehr meines Vaters. Er war nur wenige Wochen in Schleswig-Holstein in englischer Kriegsgefangenschaft und kehrte an Leib und Seele relativ unversehrt daraus zurück. Das ließ sich von dem Mann meiner Tante Magdalene nicht sagen – er wurde erst Anfang der 50er-Jahre aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Wir Kinder kannten ihn nur ernst, still und in sich gekehrt. Die Erfahrungen des Krieges und der Gefangenschaft haben ihn lebenslang gezeichnet.

Frommes Wuppertal

Von Wuppertal sagt man, die Kinder kämen mit Bibel, Gesangbuch und Regenschirm zur Welt. Mit dem Regenschirm, weil es in Wuppertal sehr oft regnet, und mit Bibel und Gesangbuch, weil die Stadt den Ruf hat, sie sei besonders fromm. Davon kann heute kaum noch die Rede sein, aber im 18. und 19. Jahrhundert ist das wohl so gewesen.
Das kirchliche Leben im Wuppertal war geprägt von einer manchmal auch sehr eigenwilligen Frömmigkeit. Das gilt besonders für den Stadtteil Ronsdorf, in dem ich aufgewachsen bin. Ronsdorf war bis 1929 eine selbstständige Stadt, ebenso wie alle anderen Stadtteile des heutigen Wuppertal. Im »Tal« dominierten die beiden seit jeher miteinander rivalisierenden Städte Elberfeld und Barmen. Ronsdorf dagegen liegt südlich des Wuppertals »überm Berg«. Der Gründer der Stadt, der Bandwirker Elias Eller (1690–1750), verließ 1737 das »sündige Babel«, wie er Elberfeld nannte, und kaufte von seinem Bruder Samuel einen Teil des früheren Familienhofes »Ronsdorf«. Er nannte ihn »Zion«. Auslöser zu diesem Schritt waren Visionen und Prophetien seines Hausmädchens Anna Katharina vom Büchel (1698–1743), das er später auch heiratete. Mit einer Gruppe von Anhängerinnen und Anhängern richtete er sich in Ronsdorf ein. Eller selbst bewohnte die »Stiftshütte« in der Mitte, die Häuser seiner Anhänger waren alle darauf ausgerichtet. Noch heute ist diese ursprüngliche Straßenführung erkennbar und macht eine gute und sinnvolle Verkehrsführung schwierig. Elias Eller muss gute Kontakte zum preußischen Hof gehabt haben, denn schon 1745 wurden dem kleinen Ort die Stadtrechte gewährt. Der erste Prediger dieser religiösen Gemeinschaft war Daniel Schleiermacher (1697–1765), der Großvater des berühmten Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834) in Berlin.
Doch Gruppierungen wie die »Ellersche Sekte« waren im Bergischen Pietismus eher die Ausnahme. Für viele Fromme galt das Wuppertal im 18. und 19. Jahrhundert – neben dem Siegerland und Württemberg – als ein Zentrum der Erweckungsbewegung. Vor allem im 19. Jahrhundert beeinflusste der Pietismus das kirchliche Leben im Tal an der Wupper. Neben den großen, ebenfalls pietistisch geprägten Kirchen entstanden fromme Gemeinden, Gemeinschaften und Missionsgesellschaften. Gleichzeitig gab es aber auch, vor allem im Verlauf der frühen Industrialisierung, eine zunehmende Entfremdung der Menschen vom kirchlichen Leben. Einer der Väter des Kommunismus, Friedrich Engels (1820–1895), zählt schließlich auch zu den Söhnen dieser Stadt. Zwar war auch seine Familie vom Pietismus geprägt (noch als Teenager schrieb Engels fromme Gedichte), dann aber rechnete er in scharfen Texten mit der Frömmigkeit seiner Familie und seiner Heimatstadt ab.
Etwa zur gleichen Zeit (1854) traten in Wuppertal einige Personen aus der Reformierten Kirche aus und gründeten die erste Freie evangelische Gemeinde (FeG). Auslöser dazu war nicht etwa eine rationalistische und bibelkritische Verkündigung in den großen Kirchen der Stadt, sondern ein grundsätzlich anderes Verständnis von Gemeinde. Hermann Heinrich Grafe (1818–1869) und seine Freunde gelangten zu der Überzeugung, dass eine Gemeinde nur aus Menschen bestehen kann, die sich persönlich zum Glauben an Jesus Christus bekennen. So verstanden sie ihren Kirchenaustritt als einen Gewissensakt und nicht etwa als den Versuch, eine bessere oder ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. Teil 1 – 1943–1962: Kindheit und Jugend in Ronsdorf
  7. Teil 2 – 1962–1966: Theologische Ausbildung in Ewersbach
  8. Teil 3 – 1966–1973: Gemeindedienst in Hamburg-Sasel
  9. Teil 4 – 1973–1983: Leitung der Bundesjugendarbeit in Witten
  10. Teil 5 – 1983–1991: Als Bundespfleger in den Gemeinden unterwegs
  11. Teil 6 – 1991–2008: Leitung im BFeG und der Evangelischen Allianz
  12. Teil 7 – Ab 2008: Ruhestand in Wetter
  13. Anmerkungen
  14. Bildteil
  15. Abkürzungen
  16. Leseempfehlungen