Straße nach Damaskus
1997 bis 1999
Zwei Monate nach meiner Haftentlassung klingelte mein Mobiltelefon.
»Gratulation«, sagte eine Stimme auf Arabisch.
Ich erkannte den Akzent. Es war mein »treuer« Schin-Beth-Captain Loai.
»Wir würden dich gern sehen«, sagte Loai, »aber wir können am Telefon nicht so lange reden. Können wir uns treffen?«
»Natürlich.«
Er gab mir eine Telefonnummer, ein Passwort und einige Anweisungen. Ich fühlte mich wie ein richtiger Spion. Er sagte mir, ich solle an einen bestimmten Ort gehen und dann an einen anderen, und ihn dann von dort aus anrufen.
Ich folgte seinen Instruktionen, und als ich ihn anrief, bekam ich weitere Anweisungen. Ich ging etwa zwanzig Minuten lang zu Fuß, bis neben mir ein Auto hielt. Ein Mann im Auto befahl mir einzusteigen. Ich stieg ein und wurde durchsucht. Dann befahl man mir, mich auf den Boden des Wagens zu legen und legte eine Decke über mich.
Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde und die ganze Zeit über sagte niemand ein Wort. Als wir endlich anhielten, befanden wir uns in einer normalen Hausgarage. Ich war froh, dass es nicht wieder ein Militärstützpunkt oder ein Gefängnis war. Später erfuhr ich, dass es ein Haus in einer israelischen Siedlung war, das der Regierung gehört. Bei unserer Ankunft wurde ich noch einmal durchsucht – dieses Mal viel gründlicher – und in ein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer geführt. Ich saß eine Weile dort. Dann kam Loai herein. Er schüttelte mir die Hand und umarmte mich.
»Wie geht es dir? Was hast du im Gefängnis erlebt?«
Ich antwortete, dass es mir gut ging, mein Gefängnisaufenthalt aber nicht besonders angenehm gewesen war – besonders, weil er mir versprochen hatte, ich müsste nur kurze Zeit dort bleiben.
»Es tut mir leid. Wir mussten das machen, um dich zu schützen.«
Ich dachte daran, dass ich zu dem Mann vom Sicherheitsdienst gesagt hatte, ich sei ein Doppelagent, und fragte mich, ob Loai davon wusste. Wahrscheinlich sollte ich mich absichern, dachte ich.
»Hör mal«, sagte ich, »die haben dort Leute gefoltert, und ich hatte keine andere Wahl. Ich musste ihnen sagen, dass ich zugestimmt hatte, für euch zu arbeiten. Ich hatte Angst. Ihr habt mich nicht vorgewarnt, was in diesem Gefängnis läuft. Ihr habt mir nie gesagt, ich würde vor meinen eigenen Leuten auf der Hut sein müssen. Ihr habt mich nicht ausgebildet, und ich hatte panische Angst. Also hab ich denen erzählt, ich hätte versprochen, mit euch zusammenzuarbeiten, um ein Doppelagent zu werden und euch umzubringen.«
Loai sah überrascht aus, aber er war nicht wütend. Obwohl der Schin Beth die Folter im Gefängnis nicht gutheißen konnte, wusste er sicher davon – und verstand meine Angst.
Er rief seinen Vorgesetzten an und erzählte ihm alles, was ich gesagt hatte. Und aus irgendeinem Grund – vielleicht, weil es für Israel so schwer war, Hamasmitglieder zu rekrutieren, oder vielleicht, weil ich als Sohn von Scheich Hassan Yousef eine besonders »fette Beute« war – ließen sie es dabei bewenden.
Diese Israelis waren total anders, als ich erwartet hatte!
Loai gab mir ein paar hundert Dollar. Ich solle mir ein paar neue Klamotten kaufen, auf mich aufpassen und mein Leben genießen.
»Wir nehmen später wieder Kontakt zu dir auf«, sagte er.
Was? Kein Geheimauftrag? Kein Codebuch? Keine Waffe? Nur ein Bündel Geldscheine und eine Umarmung? Das ergab in meinen Augen überhaupt keinen Sinn.
Einige Wochen später trafen wir uns wieder, dieses Mal in einem Schin-Beth-Haus im Herzen Jerusalems. Jedes ihrer Häuser war komplett eingerichtet, bis unters Dach mit Alarmanlagen und Wachposten versehen und so geheim, dass nicht einmal die direkten Nachbarn auch nur die leiseste Ahnung hatten, was darin vor sich ging. Die meisten Räume waren für geheime Treffen ausgestattet. Und ich durfte nie ohne Eskorte von einem Raum in den anderen gehen – nicht, weil sie mir nicht vertraut hätten, sondern weil sie nicht wollten, dass andere Schin-Beth-Agenten mich sahen. Wieder eine reine Vorsichtsmaßnahme.
Bei diesem zweiten Treffen waren die Schin-Beth-Mitglieder äußerst freundlich. Ihr Arabisch war gut und ich merkte, dass sie mich, meine Familie und meine Kultur zweifellos gut verstanden. Ich hatte keinerlei Informationen zu bieten und sie verlangten auch keine. Wir sprachen einfach über das Leben im Allgemeinen.
Das hatte ich überhaupt nicht erwartet. Ich wollte wirklich wissen, was sie von mir wollten. Ich hatte zwar wegen der Akten, die ich im Gefängnis gelesen hatte, auch Angst, dass sie von mir etwas verlangten wie mit meiner Schwester oder Nachbarin zu schlafen und ihnen das Video zu bringen. Doch von so etwas war nie die Rede.
Nach dem zweiten Treffen gab mir Loai doppelt so viel Geld wie beim ersten Mal. Im Verlauf eines Monats hatte ich etwa achthundert Dollar von ihm erhalten, damals ein unglaublicher Verdienst für einen Einundzwanzigjährigen. Genau genommen lernte ich in meinen ersten Monaten als Schin-Beth-Agent viel mehr, als ich selbst an Informationen lieferte.
Meine Ausbildung begann mit einigen Grundregeln. Ich durfte keinen Ehebruch begehen, weil ich dadurch enttarnt werden – »auffliegen« – könnte. Genauer gesagt, durfte ich keinerlei außereheliche Beziehung mit einer Frau haben – egal ob Palästinenserin oder Israelin –, während ich für den Schin Beth arbeitete. Falls doch, wäre ich weg vom Fenster. Und ich sollte niemandem mehr meine Doppelagenten-Geschichte erzählen.
Jedes Mal, wenn wir uns trafen, lernte ich etwas Neues über das Leben und Gerechtigkeit und Sicherheit. Der Schin Beth versuchte nicht, meinen Willen zu brechen, um mich dazu zu bringen, schlechte Dinge zu tun. Eigentlich versuchten sie vielmehr alles, was in ihrer Macht stand, um mich aufzubauen, mich stärker und klüger zu machen.
Mit der Zeit begann ich meinen Plan, die Israelis umzubringen, infrage zu stellen. Diese Leute waren so freundlich. Ihnen lag ganz eindeutig etwas an mir. Warum sollte ich sie umbringen? Ich war überrascht, als mir klar wurde, dass ich das gar nicht mehr wollte.
Die Besatzung hatte sich nicht in Luft aufgelöst. Der Friedhof in al-Bira füllte sich weiterhin mit den Leichnamen palästinensischer Männer, Frauen und Kinder, die von israelischen Soldaten getötet worden waren. Und ich hatte nicht die Schläge vergessen, die ich auf dem Weg ins Gefängnis eingesteckt hatte, oder die Tage, die ich an diesen kleinen Stuhl gekettet war.
Aber ich erinnerte mich auch an die Schreie aus den Folterzelten in Megiddo und den Mann, der sich beinahe an dem Klingendraht aufgeschlitzt hatte, als er versuchte seinen Peinigern der Hamas zu entkommen. Jetzt gewann ich immer mehr Verständnis und Erkenntnis. Und wer waren meine Mentoren? Meine Feinde! Doch waren sie das wirklich? Oder waren sie nur nett zu mir, damit sie mich benutzen konnten? Ich war noch verwirrter als zuvor.
Bei einem Treffen sagte Loai: »Da du mit uns zusammenarbeitest, denken wir darüber nach, deinen Vater freizulassen. So kannst du in seiner Nähe sein und sehen, was in den Palästinensergebieten los ist.« Ich wusste nicht, dass diese Möglichkeit überhaupt bestanden hatte, aber ich war glücklich, dass ich meinen Vater zurückbekam.
Einige Jahre später tauschten mein Vater und ich uns manchmal über unsere Erfahrungen aus. Er ging nicht gern ins Detail über seine leidvollen Erfahrungen. Doch er wollte mich wissen lassen, dass er während seiner Zeit in Megiddo einiges in Ordnung gebracht hatte. Auch ihm war es beim Fernsehen im Mi’var einmal passiert, dass mitten in der Sendung ein Brett vor dem Bildschirm heruntergesaust war.
»Ich werde hier nicht fernsehen, wenn ihr weiterhin den Bildschirm mit diesem Brett verdeckt«, erklärte er dem Emir. Sie zogen das Brett hoch, und damit war das Thema erledigt. Und als er ins Gefängnislager umgezogen war, konnte er sogar der Folter ein Ende setzen. Er ordnete an, dass der Sicherheitsdienst ihm alle Akten gab, studierte sie und stellte fest, dass mindestens sechzig Prozent der vermeintlichen Kollaborateure unschuldig waren. Also sorgte er dafür, dass ihre Familien und Nachbarn von den falschen Anschuldigungen erfuhren.
Einer der zu Unrecht Beschuldigten war Akel Sorour. Die Unschuldsbescheinigung, die mein Vater in Akels Dorf schickte, konnte nicht auslöschen, was er erlitten hatte. Doch wenigstens konnte er wieder in Frieden und ehrenvoll leben.
Nachdem mein Vater aus dem Gefängnis entlassen worden war, kam mein Onkel Ibrahim uns besuchen. Mein Vater gab auch ihm zu verstehen, dass er den Folterungen in Megiddo ein Ende gesetzt und festgestellt hatte, dass die meisten der Männer, deren Leben und Familien der Sicherheitsdienst zerstört hatte, unschuldig waren. Ibrahim täuschte Erschütterung vor. Und als mein Vater Akel erwähnte, erklärte mein Onkel, er habe versucht ihn zu verteidigen und dem Sicherheitsdienst versichert, Akel könne unmöglich ein Kollaborateur sein.
»Allah sei gepriesen«, sagte Ibrahim, »dass du ihm geholfen hast!«
So viel Heuchelei konnte ich nicht ertragen und verließ den Raum.
Mein Vater teilte mir auch mit, dass ihm in Megiddo die Doppelagenten-Geschichte zu Ohren gekommen war, die ich dem Sicherheitsdienst aufgetischt hatte. Aber er war nicht wütend auf mich. Er sagte mir nur, es sei töricht von mir gewesen, überhaupt mit diesen Männern zu reden.
»Ich weiß, Vater«, sagte ich. »Ich verspreche dir, dass du dir darum keine Sorgen mehr machen musst. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Das ist gut«, sagte er. »Bitte sei von jetzt an vorsichtiger. Es gibt keinen, dem ich mehr vertraue als dir.«
Als ich mich später im gleichen Monat mit Loai traf, sagte dieser: »Jetzt solltest du anfangen. Ich habe einen Auftrag für dich.«
Endlich, dachte ich.
»Dein Auftrag besteht darin, ans College zu gehen und deinen Bachelor-Abschluss zu machen.«
Er reichte mir einen Umschlag voller Geld. »Das sollte für die Studiengebühren und alle anderen Ausgaben reichen«, sagte er. »Wenn du mehr brauchst, dann sag mir bitte Bescheid.«
Ich konnte es kaum glauben. Doch für die Israelis war das alles vollkommen logisch. Meine Bildung, innerhalb und außerhalb des Hörsaals, war eine gute Investition für sie. Es wäre nicht sehr klug vom Inlandsgeheimdienst, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der ungebildet war und keine Zukunftsaussichten hatte. Es war außerdem gefährlich für mich, als Verlierer angesehen zu werden. Immerhin hieß es in den Palästinensergebieten landläufig, dass nur Verlierer mit den Israelis zusammenarbeiteten. Natürlich war diese Meinung nicht besonders gut durchdacht, denn Verlierer hatten dem Schin Beth nichts zu bieten.
Also bewarb ich mich an der Bir-Zait-Universität, doch ich wurde abgelehnt, weil mein Schulabschluss zu schlecht war. Ich erklärte, dass es außergewöhnliche Umstände gegeben hatte und ich im Gefängnis gewesen war. Ich sei ein intelligenter junger Mann und würde ein guter Student werden. Doch sie machten keine Ausnahmen. Meine einzige Möglichkeit bestand in einem Fernstudium an der al-Quds-Universität von zu Hause aus.
Dieses Mal bekam ich gute Noten. Ich war inzwischen ein bisschen klüger geworden – und viel motivierter. Und wem hatte ich das zu verdanken? Meinem Feind.
Immer, wenn ich mich mit meinen Schin-Beth-Führungsoffizieren traf, sagten sie: »Wenn du irgendetwas brauchst, dann gib uns einfach Bescheid. Du kannst die vorgeschriebenen Reinigungsrituale vollziehen. Du kannst beten gehen. Du musst keine Angst haben.« Das Essen und die Getränke, die sie mir anboten, verstießen nicht gegen das islamische Gesetz. Meine Führungsoffiziere achteten sehr darauf, nichts zu tun, das anstößig für mich wäre: Sie trugen keine kurzen Hosen. Sie saßen nicht mit den Beinen auf dem Schreibtisch da und streckten mir die Füße ins Gesicht. Sie waren immer respektvoll. Und deswegen wollte ich mehr von ihnen lernen. Sie benahmen sich nicht wie »Militärroboter«. Sie waren Menschen und sie behandelten mich als Mensch. Fast immer, wenn wir uns trafen, zerfiel ein weiterer Stein im Fundament meiner Weltanschauung zu Staub.
Meine Kultur – nicht mein Vater – hatte mich gelehrt, dass die IDF und die israelischen Menschen meine Feinde seien. Mein Vater sah nicht die Soldaten; er sah individuelle Menschen, die taten, was sie als Soldaten für ihre Pflicht hielten. Er hatte kein Problem mit den Menschen, sondern mit den Ideen, welche die Menschen motivierten und antrieben.
Loai ähnelte meinem Vater mehr als jeder Palästinenser, den ich kannte. Er glaubte nicht an Allah, doch er respektierte mich trotzdem.
Also wer war jetzt mein Feind?
Ich sprach mit dem Schin Beth über die Folter in Megiddo. Sie sagten mir, dass sie alles darüber wüssten. Jede Bewegung der Häftlinge, alles, was jemand sagte, wurde aufgezeichnet. Sie wussten von den geheimen Nachrichten in den Teigbällen und von den Folterzelten und dem Loch im Zaun.
»Warum habt ihr dann nichts dagegen getan?«
»Erstens können wir diese Mentalität nicht ändern. Es ist nicht unsere Aufgabe, der Hamas beizubringen, dass sie einander lieben sollten. Wir können nicht dort hingehen und sagen, ›Hey, foltert euch nicht gegenseitig; bringt euch nicht gegenseitig um‹, und alles in Ordnung bringen. Und zweitens zerstört die Hamas sich selbst von innen heraus stärker als alles, was Israel von außen tun kann.«
Die Welt, die ich kannte, zerbröckelte gnadenlos und legte eine andere Welt frei, die ich gerade erst zu verstehen begann. Jedes Mal, wenn ich mich mit dem Schin Beth traf, lernte ich etwas Neues: über mein Leben und über andere. Es war keine Gehirnwäsche durch nervtötende Wiederholung, Hunger und Schlafentzug. Was die Israelis mir beibrachten, war logischer und authentischer als alles, was ich bisher von meinen eigenen Leuten gehört hatte.
Mein Vater konnte mir das alles nicht beibringen, weil er immer im Gefängnis gewesen war. Und ehrlich gesagt vermutete ich, dass er mir diese Dinge sowieso nicht hätte beibringen können, weil er vieles davon selbst nicht wusste.
* * *
Unter den sieben alten Toren, die durch die Stadtmauer hindurch Zugang zur Altstadt von Jerusalem bieten, gibt es eines, das alle anderen an Kunstfertigkeit übertrifft. Das Damaskustor, angelegt von Sulaiman dem Prächtigen vor fast fünfhundert Jahren, befindet sich etwa in der Mitte der Nordmauer. Bezeichnenderweise führt es die Menschen genau dort in die Altstadt, wo die Grenze zwischen dem historischen muslimischen Viertel und dem christlichen Viertel verläuft.
Im ersten Jahrhundert nach Christus reiste ein Mann namens Saulus von Tarsus durch das Tor, das früher an dieser Stelle stand. Er war unterwegs nach Damaskus, um dort eine neue jüdische Sekte, die er als gotteslästerlich betrachtete, brutal zu verfolgen. Diese Verfolgten würde man später »Christen« nennen. Eine überr...