Streiflichter meines Lebens
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Streiflichter meines Lebens

Ursprünglich sollte Gott gar nicht vorkommen

  1. 264 Seiten
  2. German
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Streiflichter meines Lebens

Ursprünglich sollte Gott gar nicht vorkommen

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Der ehemalige württembergische Landesbischof Gerhard Maier reflektiert in seiner Autobiographie offen und ehrlich, wie Gott ihn rief, in allen Höhen und Tiefen versorgte, und gibt Einblicke in seine Erfahrungen. Seine Leidenschaft für eine missionarische Kirche, das feste Vertrauen in die Bibel und die große Dankbarkeit über die immer wieder erfahrene Nähe Gottes bilden den Grundtenor dieses besonderen christlichen Lebenszeugnisses.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783775174558

V. ALBRECHT-BENGELHAUS UND TÜBINGER JAHRE

Nach dem Februar-Gespräch wurde ich im Sommersemester 1974 auch im pastoralen Zweig eingesetzt. Mir schlugen viele Widerstände entgegen. Ich richtete im Karl-Heim-Haus bestimmte Zeiten ein. Dort wohnten schon Dutzende von Bengel-Studenten. Heiko Krimmer hatte als Studienassistent ihre Betreuung und Begleitung aufgenommen. Seine Kaffeemaschine summte ununterbrochen, vielleicht mit Ausnahme weniger Nachtstunden. Reinhold Rückle, sein Freund aus Ruit und Examensstudent, stand ihm bei. Der Andrang sprengte manchmal die Raumgröße des Zimmers. Es war Heiko Krimmers Großtat, die ich ihm nie vergessen werde, dass er mich in diesen Betrieb einbaute. Und was ich nach meinen bisherigen Erfahrungen nie geglaubt hätte: Wir waren uns theologisch einig. Das heißt, es gab da einen Unterschied, den wir später bemerkten: Heiko erwartete die Wiederkunft Jesu binnen der nächsten fünfhundert Jahre, während ich zurückfragte: Und was machst du, wenn diese fünfhundert Jahre ohne die Wiederkunft vorübergehen? Heiko war ein fantastischer Freund. Heute ist er tot.
Die Bengel-Studenten im Karl-Heim-Haus lehnten mich in Teilen ab. Bei der Übersiedlung nach Tübingen hingen im Unibereich Plakate aus: »Ultrarechter Pietist aus dem Schwarzwald kommt nach Tübingen.« Freundlich begegneten mir damals Peter Stuhlmacher und Martin Hengel. Die alten Connections aus der Assistentenzeit funktionierten wenigstens teilweise noch.
Warum blieben wir? Ich hatte jederzeitiges Rückkehrrecht in die Landeskirche. Im Rückblick denke ich, dass es erstens solche Worte waren, wie sie mir die alte Frau Maser mitgegeben hatte. Da es für Christen keine Zufälle gibt, konnten auch solche Worte kein Zufall sein. Zweitens hatte sich manches ereignet, das den Weg nach Tübingen nahelegte. Hervorstechend war ein merkwürdiger Autounfall wenige Wochen vor dem Wechsel. Wegen abgefahrener Bremsen hatte ich das Auto in die Werkstatt gebracht. Es wurde repariert: »Es ist alles in Ordnung.« Aber bei der Rückfahrt kam es mir komisch vor. Ich fasste den etwas eigenartigen Beschluss, mit dem Auto hinauf auf den Hirschkopf zu fahren und auf dem steilen Rückweg zu testen, ob die Bremsen wirklich in Ordnung waren. Dann also der Rückweg: Ich konnte das Bremspedal voll durchtreten, es zeigte keinerlei Wirkung. Ich riss die Handbremse rein: Das Auto wurde nur wenig langsamer. Ich beschloss, über die Mäuerchen in den Vorgärten zu fahren: Der Wagen sprang darüber wie ein Skispringer. Um 12 Uhr mittags, zur Hauptverkehrszeit, als schon die Schüler aus der Schule heimkehrten, stürzte mein Auto in die Hauptstraße hinein und überschlug sich. Ich konnte noch selbst aussteigen. Ich hätte tot sein können. Aber nur ein Finger blutete. Zum dritten Mal nach Husum und Gönningen hatte mir Gott das Leben gerettet. − Und ich sollte umkehren von Tübingen?
Walter Tlach holte mich zur Mitarbeit in seine Konventsgruppe in die Gartenstraße. Da saßen sie nun alle um mich und vor mir: Paul Murdoch, Heinz-Werner Neudorfer, Matthias Adt und ein rundes Dutzend andere. Die Erstkontakte von damals mündeten in lebenslange Freundschaften und Verbindungen. So baute Gott Stück für Stück weiter an unserem Leben.
Das Bengel-Haus stand jetzt vor der Aufgabe, ein eigenes Gebäude zu errichten. Im Karl-Heim-Haus waren wir nur Mieter. Wo bauen? Es schälten sich zwei Möglichkeiten heraus. Die eine hätte uns nach Gomaringen geführt, circa 10 km entfernt, mit einer Kirchengemeinde und einem CVJM, die beide hinter uns standen, und einer freundlichen bürgerlichen Gemeinde. Die andere orientierte sich an der Devise »In Tübingen bleiben«, schied deshalb das Entfernungsproblem aus, traf aber auf deutliche Abneigung bei der Stadt, der Fakultät, den meisten Kirchengemeinden, den Pfarrern und den Medien. Die Abneigung entsprang zu einem guten Teil dem Widerwillen, in der Stadt so etwas wie eine »Konkurrenz« zum berühmten Evangelischen Stift zu etablieren. Viele Details blieben mir verborgen. Es war ja der Verein, der die Verhandlungen führte.
Nach meiner Erinnerung verloren wir die erste Runde. Erst recht aber kam jetzt die Diskussion auf: Gomaringen oder Tübingen? Winkte Gott nicht gewissermaßen mit dem Zaunpfahl nach Gomaringen? Ich war entschieden für Tübingen. Wer Studium, Fakultät, Ausbildung beeinflussen wollte, musste in Tübingen bleiben. Und könnten unsere Studierenden jemals aus ihrer Rand-Existenz als »Gomaringer« herauskommen? Der Vorstand mit Martin Holland, Hans Eißler und Martin Pfander sah es genauso. Aus den vielen Gesprächen der damaligen Zeit habe ich letztlich das eine mitgenommen: Man muss vorsichtig bleiben, wenn eventuell zu schnell mit Gottes »Wink« und »Willen« argumentiert wird. Wie vorbildlich waren da die »Schwäbischen Väter«, als sie die »Weisheit auf der Gasse« als eines der wichtigen Führungsmittel Gottes herausstellten! Das entscheidende Machtwort sprach der Ortschaftsrat von Tübingen-Derendingen: Das Bengel-Haus solle hier bauen. So entstand unser Neubau in den Mühlbachäckern in Derendingen. Uni und Innenstadt waren bequem mit Fahrrad und Bus, ja sogar zu Fuß, erreichbar.
Im April 1978 weihten wir das Haus ein. Unser Architekt Abbé Schmid hatte es mit städtebaulich beeindruckendem Outfit und Charme entworfen. Wir hätten dazu kirchliche Gelder bekommen können. Wir waren ja als Lebendige Gemeinde, die hinter dem Bau stand, immerhin die größte Synodalgruppe. Doch wir hielten uns an die Kirchengeschichte der letzten Jahrzehnte: Wo immer die Kirche bezahlte, musste sie letzten Endes die Regie übernehmen. Wir aber wollten frei bleiben. »In Liebe zur Kirche, aber nicht verkirchlicht« blieb unsere Losung. Und – was heute unvorstellbar ist – die Freunde brachten all die Millionen auf, die erforderlich waren. Eine Sehnsucht ging durchs Land: Wir wollen biblisch predigende Pfarrer! Man darf nicht vergessen, dass damals noch die meisten Kirchengemeinderäte in Württemberg konservativ oder pietistisch waren. Heute ist es umgekehrt.
April 1978: Nostalgie liegt nahe. Ich sehe uns noch um die Gasbrandöfen im Keller sitzen, so lange, bis die Heizung voll funktionierte. Unsere Hausmutter, Frau Neudorfer, fühlte sich rasch ein. Ihr Wort hatte Gewicht. Als sie, eine schmächtige Frau, das Wäschewaschen am Sonntag untersagte, wurde dies akzeptiert. Dass wir Christen waren, machte sich als Grundzug unserer Gemeinschaft immer wieder bemerkbar.
Nostalgie: Die Gebetsgemeinschaften in den Stockwerken. Als ich aus Korea von meiner ersten Vorlesungsreise zurückkehrte, schlug ich vor, dass wir wenigstens einmal in der Woche um sechs Uhr mit der Gebetsgemeinschaft beginnen sollten, sonst könnte es ja bei sieben Uhr bleiben. In Korea hatte ich miterlebt, wie die Professoren morgens um fünf Uhr auf die Gebetsberge stiegen, um ihre Vorlesung dann um acht Uhr zu beginnen – konnten wir dann nicht wenigstens einmal in der Woche um sechs Uhr anfangen? Es wurde bereitwillig, wenn auch schwäbisch zurückhaltend, akzeptiert. Daraus wurden zugleich die intensivsten Gesprächsrunden beim anschließenden Frühstück.
April 1978: In diesem Jahr schürzten sich viele Ereignisse. Kirchenrechtlich und für unsere Hausgeschichte interessant war die Frage nach meiner Verlängerung. Im Bengel-Haus wurde ich niemals auf Lebenszeit angestellt, sondern hatte immer nur einen Fünf-Jahres-Term. Das fand ich richtig. Denn das Haus musste stets die Freiheit behalten, sich personell neu zu orientieren. Lief ein Fünf-Jahres-Term, brauchte man die Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zu begründen. Eine Zeit lang zögerte ich. Noch war ich jung, noch zog es mich in die Gemeinde. Wir tauschten uns im Vorstand aus. Schließlich stellte der Verein bei der Landeskirche den Antrag, mir noch einmal fünf Jahre Freistellung zu gewähren. Er wurde genehmigt.
Um diese Entscheidung herum gruppierte sich manches andere. Walter Tlach ging verabredungsgemäß in den Ruhestand. Damit wurde ich geschäftsführender Studienleiter.
Im Blick auf die Fakultät hatte sich so viel abgeklärt, dass ich mein Habilitierungsvorhaben nicht weiterverfolgte. Zwar war ich von der Fakultät promoviert. Aber mein Buch über »Das Ende der historisch-kritischen Methode« hatte einen Graben aufgerissen. Unvermittelt sagte mir mein alter Doktorvater Otto Michel bei einem Semester-Abschluss-Konvent: »Sie haben sich selbst aus der Fakultät hinauskatapultiert.« Was bin ich heute froh, dass ich mich vor der Veröffentlichung des Buches »Das Ende der historisch-kritischen Methode« nicht lange beraten habe! Das Projekt wäre zu Tode beraten worden. Was Paulus in Galater 1,16f sagt, kann heute noch gelegentlich richtig sein. Der Vorstand hätte eine Habilitierung gewünscht. Ich selbst wollte ebenfalls auf sie zugehen. Damals sammelte ich das Material, aus dem mein Buch »Die Johannesoffenbarung und die Kirche« geworden ist. Aber die Gespräche mit verschiedenen Professoren hatten mir gezeigt, dass die Fakultät meine Habilitierung wahrscheinlich abgelehnt hätte. So gab ich dieses Projekt auf.
Vielleicht sollte ich noch ein paar Worte zum »Ende der historisch-kritischen Methode« sagen. Ich schrieb die grundlegenden Teile während unseres ersten Privat-Urlaubs auf Samsø in Dänemark in der Heden, in »Herrn Åmdi’s sommerhus«. Das war im Sommer 1973. Im Blick aufs Bengel-Haus, wo ich ja am 1. November 1973 beginnen sollte, schien es mir notwendig, meine Stellung zur sogenannten »historisch-kritischen Exegese« grundlegend abzuklären. Die Frage nach einer eventuellen Veröffentlichung war damals zweitrangig. Später machte mir Rolf Brockhaus, der Seniorchef des R.Brockhaus-Verlages, das Angebot, meine Abhandlung als Buch zu veröffentlichen. Im weiteren Verlauf wurde Dr. Ulrich Brockhaus der Juniorchef, mein Gesprächspartner. Ich weiß noch, wie er auf der Fahrt zum Tübinger Hauptbahnhof in seiner westfälischen Ehrlichkeit zu mir sagte: »Bruder Maier, es wäre für Sie persönlich besser, wenn Sie dieses Buch nicht veröffentlichen würden. Aber natürlich sind wir als Verlag daran interessiert.« Ich dachte damals, ein solches Buch würde kein Mensch lesen, und informierte niemand. Im Rückblick erweist sich dies als Fehler.
Besonders für Walter Tlach, den geschäftsführenden Studienleiter, war die Lage schwierig. Ich werde es ihm nicht vergessen, wie er beim nächsten Jahresfest in Lustnau vor allen Anwesenden erklärte: »Ich stelle mich hinter dieses Buch von Gerhard Maier.« Die Veröffentlichung schlug in Tübingen ein wie eine Bombe. Peter Stuhlmacher zerriss es im vollbesetzten Hörsaal. Martin Hengel erklärte in seiner Vorlesung, ich würde den Menschen auf den Stand eines Tieres zurückführen. Aber manche Studierende, die damals dabei waren, erzählten mir später, sie seien gerade deshalb ins Nachdenken gekommen und vor einem bibelkritischen Kurs bewahrt geblieben. Manche Evangelikale und Pietisten erklärten mir ihre Distanz. Der alte Dekan Kurt Hennig, einer der gescheitesten Köpfe unserer Landeskirche, sagte mir: »Ein solches Buch schreibt man erst am Lebensende.« Der Einzige, der mein Buch in einer Rezension – in der Münchner Theologischen Zeitschrift – lobte, war der katholische Kardinal Scheffczyk. Die schwerste Wunde entstand bei uns im Bengel-Haus. An die zwanzig Studenten traten aus dem Haus aus, weil sie dem Weg einer biblisch-historischen Methode nicht folgen konnten. Martin Holland und Peter Beyerhaus stützten aber meinen Kurs ganz eindrücklich.
Dieses Buch hat ein seltsames Schicksal gehabt. Es erlebte meines Wissens acht deutsche Auflagen. Rasch wurde es übersetzt: Ins Dänische, Norwegische, Englische, Koreanische, Japanische. Es wurde Grundlage für Kurse und Vortragsreisen nach Norwegen, Dänemark, Finnland, Österreich, Hongkong, Indonesien, Korea, in die Schweiz. Noch bei der Bischofswahl 2001 stellten manche Synodale die Frage, ob ich dieses Buch widerrufen würde, was ich natürlich weder konnte noch wollte. Beim heutigen Sola-Scriptura-Streit gehen meine Gedanken zurück in jene Jahre der Auseinandersetzungen, und ich denke immer noch, dass ich damals recht hatte.
Bei der Einweihung des neuen Gebäudes lagen viele jener Auseinandersetzungen schon hinter mir. Ich freute mich auf ein ruhiges Fahrwasser. Das war falsch, und ich musste lernen, dass es bei meiner Tätigkeit selten ein ruhiges Fahrwasser gab. Ein solches Haus hatte wie die große Landeskirche und wohl alle christlichen Gemeinden ständige Personalfragen. Gerade fürs Bengel-Haus war es schwierig, immer die richtigen Studienleiter und Studienassistenten zu finden. Nur gut, dass Vorstand und Ausschuss eine kontinuierliche Linie fuhren.
Insgesamt wuchs in den 80er-Jahren die Zahl der Theologiestudierenden. In Tübingen zählte man circa 2 400. Das Bengel-Haus wuchs nicht weniger. Waren es im Herbst 1973 insgesamt 66 Bengel-Studierende, so zählte man in den 80er-Jahren schon um die 200. Eine Dauer-Diskussion gab es um die Frage, wie hoch der Anteil der Württemberger sein sollte. Die Grundordnung sprach davon, dass »vorzugsweise« württembergische Studierende aufgenommen werden sollten. Man wollte ja gerade in Württemberg die Pfarrerschaft auf die Ziele biblischer Verkündigung und erwecklicher Gemeindearbeit hin orientieren. Aber nun waren die Nöte der Ausbildung in anderen Landeskirchen teilweise größer. So kämpfte ich in aller Freundschaft bei jeder Aufnahme-Sitzung des Vereins auch für die Nichtwürttemberger – und weil wir eben Freunde waren, mit erheblichem Erfolg. Noch heute tut mir das wohl.
Nach dem Lausanner Kongress von 1974, zu dem mich Walter Tlach geschickt hatte, blühten evangelikale Einrichtungen und Initiativen in Deutschland auf. Die Lausanner Verpflichtung, die auch theologisch ernst zu nehmen war, bot dafür eine gute Grundlage. Mehrfach war das Bengel-Haus aktiv beteiligt. So bei der Gründung des »Arbeitskreises für evangelikale Theologie« (AfeT). Hier gewann ich mit dem Beharren auf der Bezeichnung »evangelikal« sogar in der Abstimmung gegen meinen Freund Helmut Burkhardt, der die Bezeichnung »evangelisch« vorziehen wollte. Aufgrund des Alphabets firmierte das Albrecht-Bengel-Haus als erstes Mitglied des AfeM, des »Arbeitskreises für evangelikale Missionen«. Gerade mit Letzterem gerieten wir unter schweres Feuer. Denn wir unterstützten zum Beispiel die Frankfurter Erklärung zur Grundlagenkrise der Mission, die Peter Beyerhaus entworfen hatte. Schon damals spielten Fragen wie die nach dem Verhältnis von Mission und Dialog, der Bewertung anderer Religionen oder der Übernahme von ehemals freien Missionen in kirchliche Werke eine wichtige Rolle. Alles, was uns heute im Bereich »Mission« bewegt, bewegte uns auch damals.
Persönlich kamen für mich weite Bereiche hinzu, die sich in einem Rückblick nur schwer zusammenfassen lassen. Da war einmal der Bereich Forschung und Lehre. Der Vorstand des ABH legte großen Wert darauf, dass die Lehrer des ABH nicht nur eine Art Nachhilfe zum Verständnis theologischer Probleme und schließlich zur Examensvorbereitung anboten, sondern einen eigenen theologischen Standpunkt entwickelten. Das wurde besonders beim Rektor vorausgesetzt. 1980 hatte ich das Amt des Rektors nach Peter Beyerhaus übernommen. Jetzt stand ich vor der Herausforderung, in den laufenden wissenschaftlichen Diskurs hineinzugehen und gleichzeitig die Arbeit in den Gemeinden im Auge zu behalten, ja, im Rahmen meiner Kräfte zu stärken, wo ich konnte. Praktisch bedeutete das 6–8 Bibelwochen im Jahr, außerdem fast jeden Sonntag Predigt und viele Vorträge.
Einen weiteren Schwerpunkt bildete ab 1984 die Fortsetzung der Tätigkeit in der Synode. 1978–1984 musste ich dort pausieren. Denn ich war 1978 nicht mehr in meinem alten Wahlkreis im Schwarzwald angetreten, sondern in Tübingen, wo sich Wahlkreis und Dekanat deckten. Es war beinahe hoffnungslos, als Pfarrer ohne Gemeinde gegen den amtierenden Dekan zu kandidieren. Ich verlor denn auch die Wahl, wenn auch mit einem Minus von circa 300 Stimmen nur knapp.
1984 änderte sich alles. In meinem früheren Schwarzwald-Wahlkreis fiel plötzlich, ganz kurz vor der Synodalwahl, der Kandidat der Lebendigen Gemeinde aus. Jetzt kam die Frage wieder an mich: »Springst du ein?« Nach den Tübinger Erfahrungen war ich skeptisch. Aber es gab ein schlagendes Argument: Fiel ein Gewählter während der Synodalepoche aus, dann rückte derjenige nach, der die nächsthöhere Stimmenzahl hatte. So zielte die Lebendige Gemeinde unter den gegebenen Umständen von vornherein auf diesen Nachrücker-Platz, und dafür konnte ich ruhig kandidieren.
Es kam die Wahl, und ich lag mit 113 Stimmen Vorsprung vorne. Die Offene Kirche meinte jedoch, sie könnte wegen Unregelmäßigkeiten diese Wahl verloren haben, und beantragte eine Neu-Auszählung. So saß ich bei der ersten Sitzung der Synode auf einem Stuhl an der Rückwand neben dem technischen Personal. Mein Sitz blieb einstweilen leer. Die nachträgliche Neu-Auszählung wurde für fünf Gemeinden meines Wahlkreises angeordnet. In der Tat ergab sich ein anderer Stimmenstand: Ich hatte nicht 113 Stimmen, sondern 141 Stimmen Vorsprung.
In der Synode übernahm ich dann den Vorsitz des Ausschusses für Kirche, Gesellschaft und Öffentlichkeit. Diese Aufgabe brachte mir zahllose Kontakte, Erfahrungen und viele Einsichten. Bis zur Berufung in die Prälatur 1995 war ich in diesem Ausschuss tätig. Hier einiges, was mir im Gedächtnis blieb: Sehr früh arbeiteten wir Vorschläge für ein Einwanderungsgesetz aus. Es sah Quoten, Aufnahmekriterien, Starthilfen, ethische Verhaltensmaßstäbe vor. Antwort von politischer Seite: Wir sind kein Einwanderungsland. Und dies nach fast dreißigjähriger Einwanderung seitens mediterraner und türkischer Menschen! Ein mehrjähriges Projekt war auch die Vorbereitung eines Kirchentages in Stuttgart. Theo Sorg hatte dazu eingeladen. In einer der Vorbereitungssitzungen sagte Christian Krause als Kirchentags-Vertreter: »Wir sind uns unseres Glaubens nicht mehr gewiss.« Das war eine sehr ehrliche Feststellung. Sie kennzeichnet den ganzen Mainstream-Protestantismus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Am Ende blieb unser Ausschuss unentschieden in der Frage, ob der Kirchentag nach Stuttgart eingeladen werden sollte. Doch die Kirchenleitung sprach die Einladung aus. Es war aber seltsam, dass man mich als Ausschuss-Vorsitzenden – soweit ich mich erinnern kann – von keiner Seite zur Mitarbeit einlud.
Ein besonderes Gewicht bekam sodann eine Klausur-Tagung der Synode im katholischen Kloster Reute 1995. Auf Antrag der Offenen Kirche sollte das Verhältnis zu Vertretern der Homosexuellen-Bewegung und überhaupt die Bewertung der Homosexualität geklärt werden. Die meisten Synodalen taten sehr schwer damit. Unser Ausschuss war in Vorbereitung und Ablauf immer wieder einbezogen. Am Ende bekamen wir den Auftrag, eine Entschließung zu formulieren. Eigenartig wirkten auf mich die Vertreterinnen und Vertreter der Homosexuellen-Verbände. Ich hatte kaum mein Gepäck niedergelegt, als mich schon einer dieser Vertreter ansprach und mir klarzumachen versuchte, dass die biblische Bewertung der Homosexualität nur dem Missbrauch von sozial Benachteiligten durch Höhergestellte gelte. Dieser Mann war kein Theologe. Wer hatte ihn überhaupt legitimiert? Nur sein Verband? Er belehrte mich mit der Miene dessen, der einem Ahnungslosen erste Kenntnisse mitteilt.
Die grundsätzlichen Einstellungen der Synoden-Mitglieder wurden durch die Tagung kaum verändert. Unser Ausschuss formulierte nach der Rückkehr nach Stuttgart hauptsächlich zwei Ergebnisse: 1) Eine Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren findet in der württembergischen Landeskirche nicht statt. 2) Es wird beim Oberkirchenrat eine Gesprächsgruppe gebildet, die theologisch und kirchenrechtlich die zukünftige Stellung der Landeskirche weiter zu klären versucht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich in dieser Gesprächsgruppe einmal eine stärkere persönliche Aufgabenstellung vorfinden würde. Es kam aber anders.
Als ich 1995 das Amt eines Prälaten und Regionalbischofs in Ulm übernahm, sprach mich Eberhardt Renz, mein Vorgänger im Bischofsamt, eines Tages auf diese Gruppe an. Er hatte sie – natürlich unter Mitwirkung von Referenten – bereits vollständig zusammengesetzt, mit einer Ausnahme: Der Platz des Vorsitzenden war noch nicht besetzt. Ich ließ mir die Liste der bereits berufenen Mitglieder geben. Ich stutzte: Nur zwei dieser Mitglieder vertraten den bisherigen kirchlichen und exegetischen Standpunkt zur Homosexualität, alle andern, circa ein Dutzend, wünschten die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen durch die Kirche. Sofort war mir klar: Wies ich die Bitte von Eberhardt Renz, den Vorsitz zu übernehmen, zurück, dann wurde am Ende höchstwahrscheinlich ein die Homosexuellen-Bewegung Unterstützender zum Vorsitzenden berufen. Ich sagte deshalb zu, den Vorsitz zu übernehmen. Ob es richtig war, ist für mich bis heute eine offene Frage.
Zwei völlig verschiedene Resultate standen am Ende eines in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Gruppenprozesses: 1) Eine Empfehlung, die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare zuzulassen, fand nicht statt. 2) In Klarheit und Deutlichkeit wurde markiert, wo die Auffassungen so stark auseinandergingen, dass sie nicht mehr zusammenzubringen waren. Davor gab es längere Passagen, über die man sich, wenn auch nur unter erheblichen Schmerzen, verständigen konnte. Ich trug diese »Wegegabelung« im Oberkirchenrat vor. Sie fand insgesamt Anerkennung und Zustimmung, galt als ehrliche Stellungnahme und wurde dann im Blick auf Konsequenzen weiter beraten. Es entsprach meiner biblischen Überzeugung, dass die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare ausgeschlossen blieb.
Zu meiner Überraschung machte aber das Personaldezernat unter einigen Verrenkungen deutlich, dass an wenigen Orten insgeheim anders verfahren wurde. Diese Sachlage konnte nur so entstehen, dass Kirchengemeinderat und Pfarramt gemeinsam den Verstoß gegen das allgemeine Kirchenrecht durchsetzen wollten. Hinzukommen musste die mindestens stillschweigende Duldung durch den Dekan/die Dekanin, die wohl nicht schwer zu erlangen war. Bis zum Schluss meines Bischofsamtes, also noch viel später, blieb mir verborgen, wie viele Fälle es gab und wo sie angesiedelt waren. Waren es f...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Haupttitel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Über den Autor
  6. Motto
  7. I. FRÜHE ERINNERUNGEN
  8. II. IN DER MITTE DER JUGEND
  9. III. STUDIUM, UNIVERSITÄT, THEOLOGIE
  10. IV. BAIERSBRONN
  11. V. ALBRECHT-BENGELHAUS UND TÜBINGER JAHRE
  12. VI. ULMER PRÄLATUR
  13. VII. BISCHOFSZEIT
  14. VIII. DIE ZEIT DANACH
  15. Anmerkungen
  16. Bildteil
  17. Leseempfehlungen