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Scheveningen
Als er aus Haarlem heraus war, bog der Bus in die Straße nach Süden, die am Meer entlangführt, ein. Zu unserer Rechten ragten die niedrigen Dünen auf, auf denen oben Soldaten standen. Man brachte uns also nicht nach Amsterdam.
Stattdessen kamen wir nach einer zweistündigen Fahrt in Den Haag an. Der Bus hielt vor einem neuen Dienstgebäude; man flüsterte sich zu, dies sei das Hauptquartier der Gestapo für ganz Holland. Wir wurden – bis auf Pickwick, der sich von seinem Sitz nicht erheben zu können schien – in einen großen Raum geführt, wo die endlose Prozedur des Aufschreibens von Name, Adresse und Beruf wieder von vorn begann. Auf der anderen Seite des langen Tisches, der sich durch den ganzen Raum zog, sah ich zu meinem Entsetzen Willemse und Kapteyn. Sobald ein Gefangener aus Haarlem vor den Tisch trat, beugte sich der eine oder andere der beiden vor, sprach mit einem Mann, der an einer Schreibmaschine saß, und dann klapperte die Maschine.
Plötzlich fiel der Blick des Beamten, der das Verhör leitete, auf Vater. »Dieser Alte!«, rief er. »Musste der verhaftet werden? Sie, Alter!« Willem führte Vater zu dem Tisch. Der Gestapochef beugte sich vor. »Ich möchte Sie wieder nach Hause schicken, alter Knabe. Aber Sie müssen versprechen, sich nichts wieder zuschulden kommen zu lassen.«
Ich konnte Vaters Gesicht nicht sehen, nur seine gereckten Schultern und den weißen Haarkranz darüber. Aber ich hörte seine Antwort.
»Wenn ich heute nach Hause gehe«, sagte er ruhig und deutlich, »werde ich morgen wieder jedem Menschen in Not, der bei mir anklopft, die Tür öffnen.«
Das Gesicht des anderen verdüsterte sich. »Stellen Sie sich wieder in die Reihe!«, brüllte er. »Schnell! Dieses Gericht duldet keine weiteren Verzögerungen!«
Aber Verzögerungen allein schien dieses Gericht zu wollen.
Als wir an dem Tisch vorbeizogen, wurden endlos die gleichen Fragen wiederholt, endlos Papiere geprüft, war ein endloses Kommen und Gehen von Beamten. Draußen vor den Fenstern fing es an zu dämmern. Wir hatten seit dem frühen Morgen nichts zu essen und zu trinken bekommen.
Vor mir in der Reihe antwortete Betsie zum zwanzigsten Mal an diesem Tag: »Ledig.«
»Zahl der Kinder?«
»Ich bin ledig«, wiederholte Betsie.
Der Mann blickte nicht einmal von seinen Papieren auf: »Zahl der Kinder?«, schnarrte er.
»Ich habe keine Kinder«, antwortete Betsie resignierend.
Als es dunkel wurde, wurde ein untersetzter kleiner Mann an uns vorüber zum anderen Ende des Raums geführt. Ein lauter Wortwechsel ließ uns alle aufblicken. Der Unglückliche versuchte, etwas festzuhalten. »Es gehört mir«, schrie er immer wieder. »Sie können es mir nicht wegnehmen. Sie können mir nicht mein Portemonnaie wegnehmen!«
Wie konnte er so verrückt sein? Was, glaubte er, würde Geld ihm jetzt nützen? Aber er wehrte sich weiter zur Freude der Männer um ihn herum.
»Hier, Jude!«, hörte ich einen von ihnen sagen. Er hob seinen in einem schweren Stiefel steckenden Fuß und trat den kleinen Mann in die Knie. »So nehmen wir einem Juden seine Sachen ab.«
Wie laut sie sind, war alles, was ich denken konnte, als sie ihn weiter traten. Ich hielt mich krampfhaft an dem Tisch fest, um nicht selber hinzufallen, als der Lärm weiterging. Leidenschaftlich und ohne jeden Grund hasste ich den Mann, der getreten wurde, hasste ihn, weil er so hilflos und so verletzt war. Schließlich hörte ich, wie sie ihn hinausschleppten.
Dann plötzlich stand ich dem Leiter des Verhörs gegenüber. Ich blickte auf, und meine Augen begegneten Kapteyns Augen, der unmittelbar hinter ihm stand.
»Diese Frau war die Rädelsführerin«, sagte er.
In meinem inneren Aufruhr wurde mir klar, dass es für den anderen wichtig war, ihm zu glauben. »Was Herr Kapteyn sagt, ist wahr«, sagte ich. »Die anderen – die wissen nichts davon. Ich habe ganz allein …«
»Name?«, fragte der Vernehmende unerschütterlich.
»Cornelia ten Boom, und ich bin die …«
»Alter?«
»Zweiundfünfzig. All die anderen hatten mit der ganzen Sache nichts zu tun.«
»Beruf?«
»Das habe ich Ihnen doch schon ein Dutzend Mal gesagt«, rief ich verzweifelt.
»Beruf?«, wiederholte er.
Es war finstere Nacht, als wir endlich aus dem Gebäude herausgeführt wurden. Der grüne Bus war nicht mehr da. Stattdessen sahen wir einen sehr großen Armeelastwagen mit einer Plane. Soldaten mussten Vater über die hintere Wagenklappe hineinheben. Pickwick war nirgends zu sehen. Vater, Betsie und ich fanden Sitzplätze auf einer schmalen Bank, die an den Seiten entlanglief.
Der Lastwagen hatte keine Federn und rumpelte über die von Bomben zerlöcherten Straßen in Den Haag. Ich legte meinen Arm um Vater, damit er nicht mit dem Rücken an die Kante stieß. Willem, der hinten stand, erklärte flüsternd, was er von der verdunkelten Stadt sehen konnte. Wir hatten das Stadtzentrum verlassen und schienen jetzt westlich in Richtung Scheveningen zu fahren. Das also war unser Ziel: das Staatsgefängnis, das nach diesem bekannten Seebad benannt war.
Der Lastwagen hielt jäh an. Wir hörten das Quietschen von Eisen. Dann fuhren wir ein Stückchen weiter und hielten von Neuem. Hinter uns schlug das massive Tor zu.
Wir stiegen aus und befanden uns in einem riesigen Hof, der von einer hohen Ziegelmauer umgeben war. Der Lastwagen hatte vor einem langen, niedrigen Gebäude gehalten; Soldaten scheuchten uns hinein. Ich blinzelte in den grellen Schein der Deckenlampen.
»Nasen zur Wand!«
Ich spürte, wie mich jemand von hinten stieß, und starrte auf die rissige Gipswand. Ich blickte, so weit ich konnte, erst nach links und dann nach rechts. Dort stand Willem und, nur durch zwei Fremde von ihm getrennt, Betsie. Auf der anderen Seite mir am nächsten sah ich Toos. Alle hatten wie ich das Gesicht der Wand zugekehrt. Wo war Vater?
Während des endlos langen Wartens wurden die Risse in der Wand Gesichter, Landschaften, Tiergestalten. Dann öffnete sich irgendwo rechts eine Tür.
»Die weiblichen Gefangenen folgen mir!«
Die Stimme der Oberaufseherin klang so metallisch wie das Kreischen der Tür. Als ich von der Wand zurücktrat, drehte ich mich schnell um, um nach Vater auszuspähen. Dort saß er – ein paar Schritte von der Wand entfernt – auf einem Stuhl mit gerader Lehne. Einer der Wächter musste ihn ihm gebracht haben.
Schon ging die Oberaufseherin in den langen Korridor, den ich durch die Tür sehen konnte. Aber ich zögerte, blickte verzweifelt zu Vater, Willem, Peter, all unseren tapferen Untergrundhelfern hin.
»Vater«, rief ich plötzlich, »Gott sei mit dir.«
Er wandte mir den Kopf zu. Das grelle Licht blitzte in seiner Brille.
»Und mit euch, meine Töchter«, sagte er.
Ich drehte mich um und folgte den anderen. Hinter mir wurde die Tür zugeschlagen. Und mit dir! Und mit dir! Ach, Vater, wann werde ich dich wiedersehen?
Betsie fasste mich an der Hand. Ein schmaler brauner Kokosläufer lag in der Mitte des breiten Flurs. Wir traten von dem feuchten Steinboden darauf.
»Gefangene gehen an der Seite.« Es war die gelangweilte Stimme der Aufseherin hinter uns. »Gefangene dürfen den Läufer nicht betreten.« Schuldbewusst verließen wir den nur für Privilegierte bestimmten »Pfad«.
Vor uns im Korridor stand ein Schreibtisch, hinter dem eine Frau in Uniform saß. Jede Gefangene, die dort anlangte, musste zum tausendsten Mal an diesem Tage ihren Namen nennen und, was sie an Wertsachen bei sich hatte, auf den Tisch legen. Nollie, Betsie und ich nahmen unsere schönen Armbanduhren ab. Als ich meine der Frau reichte, deutete sie auf den schlichten goldenen Ring, der Mama gehört hatte. Ich zog ihn mühsam vom Finger und legte ihn mit meiner Brieftasche und ein paar Geldscheinen auf den Tisch.
Die Prozession durch den Korridor ging weiter. An den Wänden zu beiden Seiten reihten sich schmale Metalltüren aneinander. Der Zug der Frauen hielt jetzt an: Die Oberaufseherin steckte in eine der Türen einen Schlüssel. Wir hörten, wie ein Riegel zurückgezogen wurde und Angeln quietschten. Die Oberaufseherin blickte auf eine Liste, die sie in der Hand hielt, und rief dann den Namen einer Dame auf, die ich nicht kannte. Sie war eine von denen, die an Willems Gebetsstunde teilgenommen hatten.
War es möglich, dass das erst gestern gewesen war? War heute erst Donnerstagabend? Das, was im Beje geschehen war, schien schon weit, weit zurückzuliegen. Die Tür wurde abgeschlossen, und der Zug zog weiter. Eine andere Tür wurde aufgeschlossen, eine andere Frau hinter ihr eingesperrt. Nie kamen zwei aus Haarlem in die gleiche Zelle. Unter den allerersten Namen auf der Liste stand der Betsies. Sie ging durch die Tür, und noch ehe sie sich umdrehen oder Auf Wiedersehen sagen konnte, hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen. Zwei Zellen weiter musste Nollie sich von mir trennen. Das Zuschlagen der beiden Türen dröhnte mir in den Ohren, als wir langsam weiterzogen.
Der Korridor teilte sich jetzt, und wir bogen nach links ein. Dann nach rechts, dann wieder nach links, eine nicht enden wollende Welt aus Stahl und Beton.
»Ten Boom, Cornelia.«
Eine Tür wurde aufgeschlossen. Die Zelle war lang und schmal, kaum breiter als die Tür. Eine Frau lag auf der einzigen Pritsche. Drei weitere lagen auf Strohmatratzen auf dem Boden. »Lassen Sie die hier auf der Pritsche liegen«, sagte die Oberaufseherin. »Sie ist krank.«
Und tatsächlich, noch ehe die Tür sich ganz geschlossen hatte, bekam ich einen schlimmen Hustenanfall.
»Wir wollen hier keine Kranke haben!«, rief jemand. Die Frauen erhoben sich, wichen so weit von mir zurück, wie es das kleine Loch zuließ.
»Es … Es tut mir so leid …«, begann ich.
Aber eine andere Stimme unterbrach mich. »Das braucht es nicht. Es ist nicht Ihre Schuld. Kommen Sie, Frau Mikes, geben Sie ihr die Pritsche.« Dann wandte sich die junge Frau mir zu. »Lassen Sie mich Ihren Hut und Mantel aufhängen.«
Dankbar reichte ich ihr meinen Hut, den sie auf einen der Haken an der einen Wand, an der schon eine Menge Sachen hingen, hängte. Aber meinen Mantel behielt ich an, wickelte ihn fest um mich. Die Pritsche war jetzt frei, und ich ging zitternd auf sie zu, bemühte mich, nicht zu niesen oder zu atmen, als ich mich an meinen Zellengenossinnen vorüberquetschte. Ich ließ mich auf die schmale Lagerstatt sinken und bekam einen neuen heftigen Hustenanfall, als eine schwarze Staubwolke aus der schmutzigen Strohmatratze aufstieg. Schließlich ging der Anfall vorüber, und ich legte mich hin. Der üble Geruch des Strohs drang mir in die Nase. Ich spürte das harte Holz durch die dünne Matratze hindurch. In so einem Bett werde ich nie schlafen können, dachte ich, aber dann war es plötzlich Morgen, und man hörte Klappern vor der Tür. »Jetzt gibt’s was zu essen«, sagten meine Leidensgenossinnen. Ich stand auf, so schwer es mir auch fiel. In der Tür hatte sich ein Metallviereck geöffnet, das ein kleines Bord bildete. Jemand im Flur stellte Blechteller mit dampfender Grütze darauf.
»Hier ist eine Neue«, rief die Frau, die Mikes hieß, durch die Öffnung. »Wir bekommen fünf Portionen!« Ein weiterer Blechteller wurde auf das Bord gestellt.
»Wenn Sie keinen Hunger haben«, sagte Frau Mikes, »dann esse ich Ihre Portion.«
Ich nahm meinen Teller, blickte auf die wässrige graue Grütze und reichte ihn ihr stumm. Kurz darauf wurden die Teller eingesammelt und die »Durchreiche« in der Tür geschlossen.
Später am Morgen drehte sich ein Schlüssel im Schloss, der Riegel wurde zurückgeschoben, und die Tür öffnete sich so weit, dass der Toiletteneimer hinausgereicht werden konnte.
Die Waschschüssel wurde ebenfalls geleert und mit frischem Wasser gefüllt. Die Frauen nahmen ihre Strohmatratzen vom Boden au...