In frohen und in müden Zeiten
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In frohen und in müden Zeiten

Gereimtes und Erzähltes - Ein Lesebuch

  1. 176 Seiten
  2. German
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In frohen und in müden Zeiten

Gereimtes und Erzähltes - Ein Lesebuch

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Vertrauen auf die Führung Gottes, Gewissheit auch im Leid, und Zufriedenheit mit dem Leben: Das sind Eigenschaften, die die Schriftstellerin Ottilie Wildermuth für ihre Leser in Geschichten packte. Wildermuth wurde bis weit ins 20. Jahrhundert mit Begeisterung gelesen. Viele ältere Leserinnen kennen ihre Bücher noch aus der eigenen Jugend.Doch ist kaum im Fokus, dass Wildermuth Christin war und ihre Texte viele christliche Werte vermittelten. Das Buch, zusammengestellt von den Wildermuth-Experten Jonathan und UIlrike Schilling, bietet zum zweihundertsten Jahrestag nun einen neuen Blick auf die christliche Autorin. Ein liebevoll gestaltetes Lesebuch mit ausgewählte Texten.

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Information

DIE DREI SCHWESTERN ODER DER HERR BEHÜTET DIE EINFÄLTIGEN

Als Ottilie Wildermuth den von tausenden Trauergästen begleiteten Leichenzug des liberalen Theologen Ferdinand Christian Baur von ihrem Fenster aus beobachtete, war sie beeindruckt von der Masse an Leuten. Trotzdem bekannte sie, lieber würde sie ihr Leben so beenden wie eine tags darauf verstorbene arme Frau, die zwar nicht berühmt gewesen und in aller Stille beigesetzt worden war, aber treu verwaltet hatte, was Gott ihr anvertraut hatte. Wildermuth beschloss ihre Gedanken über die zwei Beerdigungen mit den Worten: »Du, Herr, der den Kindern das Reich verheißt, gib Kindessinn auch dem mächtigsten Geist! Gib Großen und Kleinen die rechte Treu und steh einst im letzten Kampfe uns bei!« Ottilie Wildermuth warb für eine Theologie der Einfalt und für einen Kinderglauben, der in allen Situationen auf Gottes Güte vertraut. Die folgende Erzählung ist ein Paradebeispiel für den freundlichen Humor und die liebevolle Ironie, mit denen sie dieses Werben betrieb.
Gar manchmal dünkte mir im Laufe dieses unvollkommenen Lebens, als sei es fast noch leichter, bei eigenem Missgeschick Geduld und Gottvertrauen zu bewahren als bei fremdem. Bei eigenem Leid fühlen wir meist bald den Schaden, den die schmerzhafte Kur heben soll. Wir ahnen den verborgenen Segen, den es mit sich bringt; wir haben zu denken und zu suchen, bis wir den Friedenstag finden, auf den der dunkle Weiser zeigen soll. Aber es kommt uns beinah lieblos und pharisäisch vor, diese Gedanken auf andere anzuwenden, die in Sorge und Not sind, während wir uns behaglich und glücklich fühlen – wie man mit geheimem Selbstvorwurf in bequemem Wagen vorbeifährt an denen, die sich im Schmutz der Straße abquälen mit Wind und Regen. Eine Ungleichheit, die übrigens seltener wird, weil die gewaltigen Schienen der Eisenbahn ebnend darüber hinziehen. Vor allem hat mich das Geschick meines Geschlechts oft betrübt und bekümmert, und ich hätte beinah auf den vermessenen Wunsch der Fischersfrau in dem alten Märchen verfallen können, die »werden wollte als wie der liebe Gott«, nur damit ich eine friedliche Heimat hätte bereiten können für die vielen armen Mädchen, die, oft ohne dass sie eine frohe Jugend gekannt, mühsam, ohne Liebe und Freude, ohne Heimatgefühl ihren Weg durch die Welt suchen müssen.
Recht zum Troste für mein ungeduldiges Herz, das sich so tief bekümmerte über diese fremden Sorgen und Leiden, die es nicht heben konnte, ward mir die Geschichte von drei Pfarrtöchtern kund, die mit keinem anderen Kapital durch die Welt gekommen sind als mit einem einfältigen Sinn und frommen Herzen. Mit ganz und gar keinem anderen. Denn mit all den Gaben, die sonst bei Frauen einigen, wenn auch schwachen Ersatz bieten für Geld und Gut – mit Schönheit, Anmut, Verstand, Talent und Handfertigkeit – waren sie in keiner Weise bedacht worden. Nie wären sie auf die Idee gekommen, Ansprüche an solche Luxusgegenstände zu stellen. Sie waren aufgewachsen in der Stille eines verborgenen Pfarrdörfleins, dessen Gegend schon eine überaus einfache war; den Schwestern wie dem Vater selbst war aber nie eingefallen, nach einer schöneren zu verlangen. Das Pfarrhaus stand inmitten des Dorfes mit Aussicht auf verschiedene Misthaufen der Nachbarn. Ein kleines Gemüsegärtchen war an der Seite angelegt, in dem gelbe Rüben und Petersilie, Salat und Schnittlauch in ziemlich gedeihlichem Zustand sich befanden und wo ohne besondere Pflege auch Ringelblumen, rote Tulpen und weiße Narzissen zum Zierrat alljährlich wieder aufgingen. Das Gärtchen lag sehr offen vor den Augen des gesamten Publikums; lauschige Plätzchen zu stillen Mädchenträumen, schattige Lauben zu heimlichem Geplauder hatten die Schwestern nicht darin, begehrten es auch nicht, denn sie hatten nichts still zu träumen und nichts heimlich zu plaudern.
Ein Literaturkritiker hat es einmal sehr merkwürdig gefunden, dass in Erzählungen die Eltern, namentlich die Väter der Heldinnen, meist schon im Greisenalter auftreten. Unserem Herrn Pfarrer, dem Vater der drei Schwestern, ist das nun nicht übel zu nehmen, denn er war schon in sehr reifen Jahren gewesen, als er in den heiligen Ehestand trat. Zwar hatte ihm seine Mutter zum Heiraten zugesprochen, sobald er die Pfarrei Waldangenloch erhalten hatte, bei deren Bewerbung er wenig Rivalen gehabt; aber er meinte damals, es würde ihn genieren, wenn so ein fremdes Frauenzimmer um ihn herumliefe. Das war gut für die Mutter selbst, denn als bald darauf ihr Mann, der Hutmacher Pommer, zu seinen Vätern versammelt wurde, so fanden sie und ihr Sohn es äußerst behaglich, dass sie zu ihm zog, seine Haushaltung führte und seine wollenen Wämser und baumwollenen Schlafmützen strickte, ihm auch nach väterlicher Weise allsonntäglich Sauerkraut, dienstags Linsen und freitags Erbsen kochte.
Sie hatte ein frommes Gemüt, die alte Pfarrmama. Auch der Pfarrer war unbeirrt geblieben von moderner Philosophie und loser Lehre der Menschen; er diente seinem Herrn in Einfalt des Sinnes mit aufrichtigem Herzen, und seine Mutter vergoss jedes Mal Freudentränen, so oft sie in dem vergitterten Pfarrstuhl saß, dass Gott sie die Ehre und Freude habe erleben lassen, ihren leiblichen Sohn auf der Kanzel zu sehen. Außer der Hausandacht, die sie alle Morgen und Abend mit der Magd hielten und an der teilnahm, wer zufällig ins Pfarrhaus kam, spielte der Pfarrer alle Sonntagabend einen Choral auf dem etwas heiseren alten Klavier, das ihm sein Vater selig bei der Auktion eines alten Schulmeisters gekauft hatte, und die Mutter sang dazu mit etwas zitteriger Stimme, aber aus der Tiefe ihres andächtigen Herzens.
Umgang mit der Nachbarschaft pflegten sie kaum; die Frau Pommerin hatte gar kurze Beine und das Gehen geschah ihr sauer. Der Pfarrer ging zu seiner Erheiterung jeden Jahrmarkt in die Oberamtsstadt, besorgte da, was seine Mutter für nötig erachtete, auch alle vier Jahre Biber zu einem neuen Flaus1, und versäumte nie, von jedem Markttag seiner Mutter eine Laugenbrezel mitzubringen. Später, als ihre Zähne gar zu schlecht wurden, sogar ein Biskuittörtchen, das die alte Frau zu ihrem Schlückchen Wein mit dankbarem Herzen verzehrte. Manchmal meinte sie freilich, es wäre doch schön, wenn ihr Andreas heiratete, damit sie auch Enkelein erleben würde, aber Andreas meinte: »Weiß Sie, Mutter«, so redete er sie noch nach alter Weise an, »so gewiss kann man’s doch nicht wissen bei einer Schwiegertochter, ob Ihr zusammenpassen würdet, und Kindergeschrei macht den alten Leuten Ohrenweh.« »Das ist wahr«, sagte die Mutter. »Wenn du zufrieden bist, so bin ich’s auch.«
Als aber die alte Frau auf ihrem Sterbebette lag und ihr Stündlein nahen fühlte, da war’s ihr doch leid, dass sie ihren Andreas so allein auf der Welt zurücklassen sollte. »Hör, lieber Andreas«, sagte sie, »es ist nicht recht von mir gewesen, dass ich dir nicht mehr zum Heiraten zugeredet habe; ich hätte bedenken sollen, dass eine alte Frau nicht ewig lebt. Zu spät ist’s aber nicht. Du bist noch ein Mann in deinen besten Jahren, zweiundvierzig, da fängt der rechte Verstand erst an. ›Wer als ein Bub heiratet, bleibt sein Lebtag ein Bub‹, sagt man.« »O Mutter, red’ Sie nicht so viel, es nimmt Ihr den Atem«, bat der betrübte Sohn. »Werd doch auch für dich mein bisschen Atem noch übrig haben«, sagte die getreue Mutter. »Gelt, du tust mir die Liebe und nimmst eine Frau? Ein lediger Pfarrer ist nichts nutz.« »Wird mir wohl sauer geschehen, aber Ihr zulieb will ich’s ja tun«, sagte der Pfarrer, »nur weiß ich nicht, woher eine nehmen.« »Nun, wenn dir sonst keine einfällt, so nimm ’s Adlerwirts selig seine Mine, die hat’s bös bei ihrer Schwester und ist eine brave Person; wenn du eine fürnehmere kriegst, ist mir’s auch recht. Jetzt kann ich nicht mehr, jetzt sprich mir den Segen!« Und der Pfarrer segnete mit vielen Tränen sein sterbendes Mütterlein ein und fühlte sich nach ihrem Tode gar einsam und trübselig in dem öden Pfarrhaus.
Adlerwirts selig seine Mine führte er heim, schon weil sie die nächste war; sie war eine rechtschaffene Person und fleißig, aber besonders weltlich just nicht; von Bildung, Geschmack und Delikatesse war auch hinfüro keine Rede im Pfarrhaus. Etwas couragierter war die junge Frau, die übrigens nur im Vergleich mit der »gar alten« jung heißen konnte. Sie zog schöne Schweine groß und unterhielt einen reich bevölkerten Hühnerhof. Im Dorf zeigte sie sich so wenig hochmütig, dass man ihr bald die Würde verzieh, zu der sie sich aufgeschwungen; die Leute meinten, eine »g’meine«, also eine gewöhnliche Frau sei man ja schon im Pfarrhaus gewöhnt. Mit umliegenden Pfarrfamilien pflegten sie noch weniger Umgang als zuvor; die Frau Pfarrerin hatte auch keine Zeit dazu, da sie im Lauf von vier Jahren ihren Eheherrn mit drei Töchtern beschenkte, wobei derselbe sich vorkam wie Vater Abraham in seinem Alter. »Ist auch gut, dass es Mädchen sind«, bemerkte er gelassen, »mit Buben ist’s immer schwer, bis man weiß, was aus ihnen machen; Mädchen, die stehen geradezu in des lieben Gottes Hand.« Es war noch nicht die Zeit, wo man auch bei Mädchen daran dachte, sie für einen besonderen Beruf heranzubilden. Solche Berufswahl für die Töchter wäre den guten Pfarrleuten schwergefallen; fiel es ihnen doch schon schwer, einen Namen für die jüngste zu wählen, nachdem die älteren mit den Namen der Mutter und Großmutter, Mine und Christine, versorgt worden waren. »Philippine hat meine Base selig geheißen«, fiel endlich die Pfarrerin ein, »und wenn sie nicht vor ihrem Mann, dem alten Anwalt, gestorben wäre, so hätten wir sie beerbt, und das wäre unseren Kindern doch recht wohl gekommen, weil von meinem Vater her so wenig übrig geblieben ist; meinst nicht, wir wollen sie Philippine heißen?« »Hab nichts dagegen«, sagte der Pfarrer. »Geld und Gut ist zwar nicht die Hauptsache, unser Herrgott kann unsern Kindern durchhelfen ohne das, aber wohl gekommen wär’s ihnen immerhin.« Und so wurde die Jüngste Philippine getauft zu Ehren der Base, die sie beinahe beerbt hätten.
Wie sich die Eltern bescheiden erwiesen, so zeigten auch die Pfarrjungfern, als sie zur Schule kamen, keine Art von Überhebung. Zwar wurden sie höflichkeitshalber als die ersten gesetzt,2 aber sie meinten keineswegs, dass sie die schönsten Schriften geschrieben und die schwersten Exempel gerechnet haben müssen; das überließen sie getrost den andern. Und wenn der Schulmeister am Ende ärgerlich rief: »Ei, ei, Jungfer Mine! Dreimal sieben ist einundzwanzig und nicht siebzehn«, so sagte sie mit dem gutmütigsten Lächeln: »Glaub’s Ihnen gern, Herr Schulmeister«, und wenn er sagte: »Aber, Jungfer Christine, ist das gerad geschrieben?«, so gab die ganz bereitwillig zu: »Nein, Herr Schulmeister, ein bissele krumm.« Böse werden konnte man ihnen nicht, sie waren stets so überaus zufrieden.
Spinnen lernten sie bei der Mutter recht ordentlich. Stricken lehrte sie Jungfer Beate, die Stricklehrerin im Dorf. Christine brachte es sogar so weit, dass sie sich ein Namenstuch nähen konnte und zur Verzierung darauf noch ein Obstkörbchen mit gelben und roten Äpfelein. Mehr von den Fortschritten ihrer Töchter konnte die Pfarrfrau nicht erleben; sie starb bei einer großen Nervenfieberepidemie, ehe ihre älteste zwölf Jahre alt war.
Der Pfarrer betrauerte sie aufrichtig und hielt ihr Gedächtnis in Ehren. An eine zweite Heirat zu denken, fiel ihm nicht mehr ein; als seine Nachbarin im Jammer sagte: »Aber, Herr Pfarrer, was soll aus Ihren drei Mädchen werden?«, so antwortete er getrost: »Das weiß der liebe Gott viel besser als ich.« Seine Mädchen ließ er aufwachsen, nicht gerade wie die Lilien auf dem Felde, denn zum einen hatten sie nicht viel Lilienähnliches und zum andern mussten sie denn doch, gut oder schlecht, nach und nach die bescheidene Mahlzeit kochen und notdürftig nähen und flicken. Aber im Übrigen kümmerte er sich um ihre Erziehung und Ausbildung nicht viel mehr als um die seiner Ringelblumen im Garten, die alle Jahre von selbst wieder wuchsen. Das einzige, was er sie lehrte, das waren schöne Gebete, Bibelsprüche und Lieder, die mussten sie ihm sonntags aufsagen. Auch sangen sie alle Tage zu ihrer gemeinsamen Morgen- und Abendandacht mit heller, wenn auch nicht besonders melodischer Stimme ein frommes Lied zusammen und erbauten sich gegenseitig daran. Die Leute vom Dorf meinten: »Schön tut’s grad nicht, wenn unsre Pfarrjungfern singen, aber ernst ist’s ihnen; unser Herrgott wird auch so vorliebnehmen.«
So wäre nun alles gut gegangen. Mine war die Köchin und kochte ihren einfachen Küchenzettel, der etwa fünferlei Gerichte fürs ganze Jahr enthielt, vom Anfang bis zum Ende. Dass es fein gekocht sei, ließ sich nicht behaupten, aber gegessen wurde es. Und wenn Philippine, das Nesthäkchen, einmal bemerkte: »Ich meine, die Spätzle seien arg schwer«, so gab Mine gutmütig zu: »’s ist wahr, schwer sind sie, die Eier sind gerade aus«, und Christine sagte: »Aber sie halten dann auch länger im Magen«, womit sich die Familie wieder beruhigte. Christine konnte noch am leidlichsten das Nötigste nähen und zusammenflicken, obwohl die alte Dorfnäherin meinte, an den Nahtstichen der Pfarrjungfer könnte man Pfannen aufhängen. Beim Flicken machte sie Gitter wie an einem Gartenhaus und klopfte es nachher mit dem Kehrwischstiel; aber sie waren damit zufrieden, und wenn der Papa in seinem geflickten Werktagsrock spazieren ging und man die Flicken von Weitem sah, so meinte Christine wohlgefällig: »Man sieht doch, dass wir den Papa ordentlich versorgen und nicht zerrissen gehen lassen.« Philippine war die Pflegerin des Schönen, obgleich dies in überaus bescheidenem Maße im Pfarrhaus vertreten war. Das Henkelglas, darauf »Wandle auf Rosen und Vergissmeinnicht« stand, wobei die Blumennamen durch handfeste Stickereien in starken Farben dargestellt waren, – Papa hatte es ihr einmal vom Markte gebracht – füllte sie je nach der Jahreszeit mit Ringelblumen, Rittersporn oder Astern und stellte es mitten auf den viereckigen Esstisch. Sie schmückte auch die Kommode mit etlichen gemalten Porzellantassen und einer rot lackierten Zuckerbüchse, so dass Mine mit beifälligem Lächeln sagte: »Ja, die Kleine, die will’s eben immer schön haben.«
Des Pfarrers Besoldung war äußerst mäßig, aber sie reichte aus. Wie, das wusste niemand. Es wurden weder Einnahmen noch Ausgaben aufgeschrieben; das Besoldungsgeld wurde in ein Schiebfach in des Papas Schreibtisch gelegt, und daraus nahm man, solange da war. Ging es zu Ende, ehe wieder Besoldung kam, so konnte man auch ein paar Tage ohne Geld leben. Ein bisschen Fleisch im Rauch, ein paar Eier in der Speisekammer und etwas Brot in der Tischlade war immer vorhanden. Wollte das Geldschieblädchen sich immer noch nicht wieder füllen, so nahm der Pfarrer einen von den drei Lammdukaten3, welche die Mädchen von ihrem verstorbenen Onkel, seinem einzigen Bruder, als Taufgeschenk erhalten, und brachte ihn dem alten Merkes, dem Kaufmann des Dorfes, der in seinem Wohnstübchen zugleich seinen bescheidenen Spezereihandel trieb. »Könnten Sie mir vielleicht den Dukaten auswechseln, Herr Merkes?«, fragte der Pfarrer in gleichgültigem Ton, als ob es eben eine Liebhaberei von ihm sei, Dukaten wechseln zu lassen, denn es schickte sich doch nicht, zu zeigen, dass der Pfarrer in Geldverlegenheit sei. »Für Sie immer, Herr Pfarrer«, sagte dienstfertig der alte Merkes und zählte fünf Gulden und sechsunddreißig Kreuzer auf den Tisch. »Wäre mir aber lieb, Herr Merkes, wenn Sie den Dukaten indes zurücklegen wollten«, sagte der Pfarrer beim Abschied ebenso gleichgültig. »Könnt ja doch sein, dass ich ihn später gern wieder einwechseln möchte.« »Soll geschehen, Herr Pfarrer«, sagte der Krämer und legte ihn in ein besonderes Schächtelein. »Steht jederzeit wieder zu Diensten.« Gewöhnlich reichte dann schon die Münze vom ersten Dukaten, bis wieder Besoldung kam oder der liebe Gott eine Taufe oder Beerdigung ins Dorf schickte, obwohl diese sehr gering honoriert wurden. Manchmal ging’s auch noch an den Dukaten der Christine und in besonderen Fällen, wenn etwa der Pfarrer einen Rock hatte anschaffen müssen oder eine neue schwarze Hose, sogar an den der Kleinen. Sobald aber die Besoldung kam, war es sein Erstes, die Dukaten beim alten Merkes wieder einzulösen. »Will’s doch wieder einwechseln«, meinte er so en passant, »es ist immer kommod, wenn man für einen Notfall ein bisschen Gold im Haus hat.« »Steht zu Diensten, Herr Pfarrer«, sagte der Alte, holte die Dukaten aus dem Schächtelein und sah gutmütig lachend dem Pfarrer nach, wenn er so zufrieden mit dem geborgenen Schatz seiner Kinder davonzog. Dies Manöver war schon manch liebes Mal vollführt worden, und der Pfarrer sagte oft: »Es ist ein wahrer Segen in dem Patengeld; wie oft hat’s uns geholfen und ist immer wieder da.« Und die Schwestern freuten sich überaus, dass ihr Besitz solche Wunder tun könne.
So wären die vier vergnüglich und zufrieden ihren Lebensweg miteinander gegangen und hätten nichts Besseres begehrt. Auch die Gemeinde hatte sich an ihren Pfarrer gewöhnt; sie wussten allmählich jeden Sonntag im Voraus, was er predigen würde, denn der Ideenreichtum des guten Pfarrers war nicht sehr groß. Aber es ging ihm von Herzen, und das fühlten die Leute. Auch mit den Töchtern waren sie zufrieden. »Schön sind unsre Pfarrjungfern grad nicht, aber sauber«, meinten sie. »Jungfer Mine ist so stattlich wie ein Kasten und die Jungfer Philippine hat rote Backen wie Ackerschnallen, und christliche Jungfern sind’s auch.«
Aber es nimmt alles ein Ende, auch der zufriedene Zustand im Pfarrhaus zu Waldangenloch, obgleich er möglichst lange gewährt hatte. Der Pfarrer war nahe an achtzig und hatte nie einen Vikar gebraucht, als er unerwartet, ohne lange Krankheit, heimgerufen wurde. »Der liebe Gott wird’s wohlmachen mit euch«, sagte er mit seiner brechenden Stimme, als er die drei Töchter gar bitterlich weinend an seinem Bette sah. »Fürchtet euch nur nicht: ›Was unser Gott erschaffen hat, das will er auch erhalten‹«, und in diesem Glauben schlief er getrost ein.
Die Schwestern waren sehr betrübt, sie weinten zusammen recht herzlich, wenn sie miteinander allein in der Pfarrstube saßen. Aber es war ein lauteres, pures Herzeleid, ohne Dorn und Stacheln. Sie plagten sich mit keinen Gedanken, wie es hätte vielleicht anders kommen können, was man etwa an dem Kranken versäumt habe oder ob er nicht früher einen besseren Dienst hätte erlangen können. »Schön ist’s eben doch, dass der Papa immer hier geblieben ist«, sagte Mine, »dass man ihn neben die Mama selig hat begraben können.« »Und er ist lange gesund gewesen«, rühmte Christine. »Wie hat ihm nicht erst vor vierzehn Tagen noch das Sauerkraut geschmeckt!« »Und an dem Nelkensträußchen, das ich ihm heraufgebracht, hat er auch noch gerochen«, sagte Philippine. Und so rühmten sie den Papa selig, seine schönen Predigten und sein glückliches Leben, bis sie wieder ins Weinen kamen.
Dem Amtsverweser, der nun einzog, räumten sie bereitwillig des Papas Stube ein, kochten ihm nach bestem Wissen und waren verwundert, dass es ihm nicht allezeit so gut schmeckte wie dem Papa selig. Ein Netz nach ihm auszuwerfen, der Gedanke kam nicht in ihre einfältigen Seelen. Als die Frau Schulmeisterin gegen Jungfer Mine bemerkte: »Wenn aber der Herr Amtsverweser an die Jungfer Philippine käm und sie noch Frau Pfarrerin hier würd, das wär doch schön.« Da lächelte die getreue Schwester freilich wohlgefällig, sagte aber: »’s kommt mir gar nicht so vor, Frau Schulmeisterin.« Und als eines schönen Tags eine Braut des Amtsverwesers mit ihrer Mama Besuch im Pfarrhaus machte, da kochte ihnen Jungfer Mine einen Kaffee von gelben Rüben, so gut sie’s verstand, und sagte gelassen: »Hab’s gleich gedacht, dass der Amtsverweser eine andre nimmt.«
Der Onkel, von dem die wundertätigen Lammdukaten stammten, war lange schon tot. Sein Sohn, der einzige Verwandte der drei Schwestern, war Pfarrer in Guggenbühl; er hatte nicht zur Beerdigung kommen können, aber er besuchte nachher seine verlassenen Basen, um zu hören, welche Pläne sie für ihre Zukunft entworfen. Ja, Pläne hatten sie ganz und gar keine; sie hatten sich noch gar nicht darüber besonnen, was sie anfangen wollten, wenn sie das Pfarrhaus verlassen müssten. Die Teilungsbehörde hatte leichte Arbeit gehabt; nachdem alles gehörig bereinigt und bezahlt war, blieb für die Schwestern so viel, dass sie etwa hundert Gulden jährlicher Einkünfte zusammen hatten. Der Vetter hatte selbst ein kinderreiches Haus und war nicht in der Lage, ihnen eine Heimat zu bieten. »Ja, meine lieben Bäschen, was wollt ihr denn tun, wenn die Stelle wieder besetzt wird?«, fragte der Pfarrer ratlos. »Weiß noch nichts«, sagte Jungfer Mine, »der liebe Gott wird’s wohlmachen mit uns, hat der Papa selig gesagt.« »Gewiss«, sagte...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Über die Autoren
  6. Zum Geleit
  7. Ottilie Wildermuth: Eine vergessene christliche Bestsellerautorin
  8. Mission der Zufriedenheit
  9. Die drei Schwestern oder Der Herr behütet die Einfältigen
  10. Gaben von oben
  11. Berufung
  12. Die Frau des Missionars
  13. Mein Vater ist am Steuer
  14. Klärchens Genesung
  15. Gottvertrauen
  16. »Frommes, stilles, treues Festhalten an Gott«
  17. Sonntag
  18. Der erste Ehezwist
  19. Wiegenlied aus stürmischer Zeit
  20. Der Kinder Gebet
  21. Zum Abschied
  22. Editorische Anmerkungen
  23. Anmerkungen
  24. Fußnoten
  25. Leseempfehlungen