Gegen die diktierte Aktualität. Wolfgang Rihm und die Schweiz
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Gegen die diktierte Aktualität. Wolfgang Rihm und die Schweiz

Für Wolfgang Rihm zum 60. Geburtstag

  1. 136 Seiten
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Gegen die diktierte Aktualität. Wolfgang Rihm und die Schweiz

Für Wolfgang Rihm zum 60. Geburtstag

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Zur Schweiz als Wirkungs- und Aufführungsort hat der am 13. März 1952 in Karlsruhe und damit nicht unweit der Schweizer Grenze geborene Wolfgang Rihm eine enge Beziehung. Die in dieser Publikation versammelten Beiträge leuchten diese vielseitige und facettenreiche Präsenz des Komponisten und seines Schaffens im Schweizer Musikleben aus. Die Topographie dieser Präsenz wird durch Institutionen wie das Lucerne Festival, das Luzerner Sinfonieorchester und die Paul Sacher Stiftung, sowie zahlreiche persönliche und oft langjährige Bekannt- und Freundschaften zu Vertretern der Schweizer Musik- und Kulturszene bestimmt. Bekanntschaft meint in diesem Zusammenhang auch Auseinandersetzung mit Persönlichkeiten wie Friedrich Nietzsche und Adolf Wölfli, welche im Schweizer Geistesleben Spuren hinterlassen haben. Neben wissenschaftlichen Beiträgen (Thomas Gartmann über Rihms Wölfli-Vertonungen; Eleonore Büning über Rihms Kompositionen für Paul Sacher; Thomas Meyer über Rihms durch das Luzerner Sinfonieorchester angeregte Auseinandersetzung mit dem sinfonischen Schaffen von Johannes Brahms, aus welchem das Werk Nähe fern hervorging; Mark Sattler über Rihms Verhältnis zu Nietzsche und der Beziehung zum Lucerne Festival und dem Luzerner Sinfonieorchester; und Jürg Huber über die schweizerische Rezeption des Schaffens Rihms) und einem ausführlichen Interview mit dem Komponisten Dieter Ammann bietet die Publikation auch Statements von Künstlerfreunden wie Anne-Sophie Mutter, Michael Haefliger, James Gaffigan und Jonathan Nott sowie eine detaillierte Übersicht der Aufführungen von Werken Wolfgang Rihms in der Schweiz seit 1980.

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Information

STUDIEN

Zusammentreffen zweier „Triebtäter“:

Zu Wolfgang Rihms Wölfli-Liedern

Thomas Gartmann
I.
Ich habe Dich, geliebet !
Ich liebe Dich, nicht mehr.
Ich scheiss Dihr in die Augen !
Dann sieh’st Du mich, nicht mehr.
Du bist ein Gottes, -Leugner !
Bringst mich zum Bettel, -Staab !
Und hast auch Keine, Eutter !
Drumm öffne mihr, das Graab.1
Ein merkwürdiges Gedicht. Auf den ersten Blick könnte es sich um ein Liebesgedicht handeln, mit dreihebigen Jamben und alternierend weiblicher und männlicher Kadenz, wobei sich die männlichen Enden reimen. Der fast mechanische Sing-Sang klingt nach Kinderlied und zu Gartenlauben-Lyrik herunter gesunkener Romantik, der auch Versatzstücken gleich einzelne Sprachbilder entstammen. Unter dieser Oberfläche brodelt es aber gewaltig. Die Orthographie führt ein Eigenleben, hält sich nicht an Normen, ist mehr Klangsprache (wenn nicht Sprechakt), die Dehnungen und Helligkeit der Vokale nachzeichnet, teils auch dialektal färbt.
Irritierend die Interpunktion: Oft steht ein Zeichen, zwei Striche übereinander, zwischen Doppelpunkt und Ausrufezeichen (hier vereinfacht als Ausrufezeichen gedruckt). Dieses fehlt einzig bei zwei Versen, die so resignierend zusammen gebracht werden: „Ich liebe Dich, nicht mehr – Drumm öffne mihr, das Graab.“ Durch Kommata werden auch die einzelnen Verse aufgerissen und zum Atmen gebracht und: Die Binnengliederung erhöht die Spannung als ein Innehalten und Zögern besonders vor kruden Aussagen. Umso mehr fallen die Verse aus dem Rahmen, wo das Komma fehlt: „Ich scheiss Dihr in die Augen!“ Dies ist auch ein Bruch der Sprachebene, eine Revolte gegen die clichierten Sentenzen einer erstarrten Bürgerlichkeit, zugleich Ausdruck einer Sexualität, die noch in der Analphase steckt, Auslöschung des Augenlichts und Menschenverachtung. Folgerichtig ist beim Opfer nicht von der Brust die Rede, sondern, nach einem stockenden Komma und in einer ähnlichen Viehsprache wie sie Noëlle Revaz in ihrem Roman Von wegen den Tieren der Hauptfigur in den Mund legt,2 von den fehlenden Eutern – handelt es sich doch hier noch um ein Kind.
Weitere Brüche ergeben sich aus der wechselnden Erzählperspektive, wenn dem Täter plötzlich das Dostojewskische „Gottesleugner“ aus Schuld und Sühne entgegen geschleudert wird. Schliesslich verkehren sich auch Opfer und Täter, oder es bleibt zumindest offen, für wen das Grab bestimmt ist, ob für das geschändete (oder gar ermordete?) Kind oder für den Täter. Ich-Störung, Fixierung, Wahnbildung und Todeswunsch sind dabei typische Zeichen für den 1908 vom Schweizer Psychiater Bleuler eingeführten Schizophrenie-Begriff.
Der Autor dieses Gedichtes ist Adolf Wölfli, geboren 1864 als siebtes Kind eines Steinhauers, Gelegenheitsdiebs und Trunkenbolds, der die Familie verlässt, als der Knabe fünfjährig ist. Die Mutter, eine Wäscherin, wird armengenössig. Man trennt die beiden, und Adolf wird Verdingbub – eine Praxis, die sich in bäuerlichen Gebieten der Schweiz noch weit ins 20. Jahrhundert erstreckte und (wie kürzlich eine Ausstellung und ein Film zeigten)3 – oft mit Gewalt, körperlicher Züchtigung und seelischer Not verbunden war. 10-jährig erfährt Adolf drei Monate verspätet vom Tod seiner Mutter. Er wird Bauernknecht, Wanderarbeiter, Friedhofsgärtner, verliebt sich unstandesgemäss und deshalb unglücklich, vergreift sich zweimal an Mädchen von 14 und 5 Jahren, wird zu Kerker verurteilt und als Rückfälliger und unheilbar Gemeingefährlicher von 1895 bis zu seinem Tode 1930 in die Psychiatrie weggesperrt, in die Klinik Waldau bei Bern, wo dann 1929 fast als sein Nachfolger Robert Walser eintritt. Während dieser hier aber verstummt, erlebt Wölfli geradezu einen Schaffensrausch und wird zum produktivsten Schöpfer der „Art brut“: Aufgefordert, sein bisheriges Leben aufzuzeichnen, schafft er ab 1899 ein wucherndes Werk aus 1’460 Zeichnungen, etwa 1’560 Collagen und 25’000 zu Heften gebundenen Seiten. Kernstück darin ist seine 1908–1912 entstandene Autobiographie von 2’615 Seiten, in der er seine Erlebnisse verarbeitet und mit fiktiven Weltreisen zu einem Gesamtkunstwerk anreichert und sich selbst immer wieder als „Zeichner und Componist“ bezeichnet.4 Den roten Faden dieser „Wahnbiographie“ bilden sich immer wiederholende Unglücksfälle („Todessturz“), Notzuchtversuche als Sünde und Bestrafung in zwanghafter Wiederkehr.
Für den Psychiater Walter Morgenthaler5 und in der Folge auch für Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin ist Wölfli Inbegriff einer Kreativität des Abnormen. Noch zu Lebzeiten erfährt Wölfli wachsende Wertschätzung als bildender Künstler; mit der Documenta 1972, wo ihn Harald Szeemann im Kontext internationaler Kunst unter „individuelle Mythologien“ bekannt macht,6 und einer grossen internationalen Wanderausstellung 1976–1980 wird er international ein Begriff;7 1973–1976 beginnt die Transkription seines dichterischen Werks, die 1985 zu den ersten Bänden einer bisher nicht mehr weiter verfolgten Gesamtausgabe führte;8 1976 erfolgen erste Transkriptionsversuche einzelner Kompositionen.9
Doch bereits zuvor animierte Peter Vujica, der Intendant des Steirischen Herbstes, vier Jung-Komponisten zu einer Art Pasticcio aus Kammeroper-Bruchstücken unter Verwendung von originalen Wölfli-Texten. Abgesehen von dieser Vorgabe waren die Aufträge denkbar offen formuliert und führten so auch zu höchst unterschiedlichen Lösungen. Im Rahmen dieses Projekts schrieben Gösta Neuwirth auf einen eigenen Text und Ausschnitte der Autobiographie die Tragifarce Eine wahre Geschichte und Georg Friedrich Haas eine Kurzoper für Bariton, Ensemble und Tonband auf eine Textcollage um Erotik, Religiosität und Bestrafung unter dem Motto „der leidende Mensch“, und Anton Prestele komponierte Wölflis Trauermarsch für Bariton und Ensemble. Die Zusammenarbeit war sehr locker, wie Haas schreibt:
In einer nach zwei Monaten erfolgten gemeinsamen Besprechung stellten wir fest, dass unsere Projekte sich gegenseitig nicht behinderten. Freilich hat es immer wieder Kontakte zwischen Neuwirth, Prestele und mir gegeben, in denen wir vor allem die instrumentalen Besetzungen koordinierten, doch waren wir uns in dem Wunsch nach einer möglichst weitgehenden inhaltlichen und stilistischen Pluralität einig.10
Auffallend: Rihm war auch in diese lose Form der Absprachen nicht einbezogen, aus eigenem Antrieb, wie er meinte: „Das ist mein Beitrag. Ich weiss nicht, was sonst noch kommt. Das ist gut so, nur so kann ich mir ‚Team‘ heute ehrlicherweise vorstellen: unbewusst.“11
Während die anderen Komponisten eigene Libretti verfassten und Szenen zu Wölflis Biographie schrieben, entschied sich Rihm dafür, aus denkbar disparaten Texten ein zyklisches „Liederbuch“ um Liebe, Sünde, Tod zu konstituieren und stellte dafür aus Wölflis Textstrom Gedichtförmiges zusammen: „Ich habe nur Gereimtes herausgegriffen, weil dort das Ungereimte als Musik möglich wird.“12
Das Ungereimte, die Brüche, die Verse, die nur an der Oberfläche aufgehen, darunter aber krasse Unstimmigkeiten verraten: daran entzündet sich seine Fantasie. Der Auftrag kam ihm so gerade recht. Er steht in einer Reihe mit den Hölderlin-Fragmenten,13 mit den Neuen Alexander-Liedern, mit Ernst Herbeck, auch mit Jakob Lenz: Dichtung, die Rihm mit neuer Expressivität und den Ausdrucksmitteln romantischer Musik auflädt, gerade um diese Brüchigkeit von Schein und Sein zu entlarven. Nach Beate Kutschke suchte er für diese Gesellschaftskritik bewusst einen bestimmten Typus aus:
Im Zentrum der aufgezählten Werke steht […] das Unzivilisierte und Abnorme. Der (pathologisch bedingte) Kontrollverlust und Zerfallsprozess des Individuums, den die Werke um Lenz, Hölderlin, Wölfli und Alexander vorstellen, formt sich zu einer Kritik an der gesellschaftlichen Ort- und Handlungslosigkeit.14
Auch Nike Wagner unterstreicht die Affinität zu jenen Autoren, verweist aber zudem auf die notwendige Distanz, die eine zu starke Solidarisierung verhindert: „Er ist auf Dichter angewiesen, die ihm geistig und rhetorisch ausserordentlich nahe und intim verwandt, aber doch andere sind. Der Abstand, die existentielle Differenz muss gewahrt bleiben […].“15 Dieses ambivalente Verhältnis zu einem Dichterwerk, zu dem er zugleich Sympathie hegt wie Distanz pflegt, umreisst Rihm in einem Text, der selber ins Stocken gerät, ja brüchig wird, und meint zu Wölflis Versen, die in der romantischen Tradition banal und abgegriffen klingen:
Da war es der Ton der teilweise gereimten Gedichte; so wie die Romantiker oft Stücke „im Volkston“ schreiben, scheinen mir diese Stücke geschrieben, als wären sie Gedichte; ich sehe das ganz gebrochen, das sind Gedichte, die den Ton des Gedichtes vor Augen haben und plötzlich abrutschen und mit krasser Deutlichkeit sagen, was den bewegt, der das gerade dichtet – der ist plötzlich un-dicht, der dichtet nicht mehr; es sind Texte, die das krass offenlegen, eine seelische Not, beispielsweise bei Wölfli das Bewältigen der Kindesschändung, weswegen sie ihn eingesperrt hatten. Verletztheit, nicht ver-dichtet, sondern offen krass zutage liegend. Und darüber mache ich jetzt keine Musik, ich heile das nicht mit Musik, sondern die Musik geht dazwischen und beleuchtet, eher verstärkt sie diesen Eindruck, diesen Zustand. Aber es ist auch nicht nur beleuchten – man müsste ein anderes Wort finden …; auf der einen Ebene versuche ich das, was die Worte erleiden, musikalisch zu machen, also mit ganz normaler Musik die Brüchigkeit der Worte …16
Wölflis gebrochenes „Liebeslied“ steht im Erzähl-Kontext einer Reise zu verschiedenen Kapellen, deren Bilderschmuck eingehend beschrieben wird: die Versuchung des Antonius durch ein 12 Jahre altes Kind, Geburt und Tod Jesu, das Jüngste Gericht. Wölfli identifiziert sich hier mit all diesen Figuren: Sein eigenes Liebeslied legt er in den Mund des heiligen Antonius, der für Kindsschändung lebenslange Kettenstrafe erhält. Noch zwei weitere Kind...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. INHALT
  5. Mutmassungen über Wolfgang Rihm und die Schweiz: Ein Vorwort
  6. Studien
  7. Stimmen