Kapitel 1:
Kosten-Nutzen-Abwägungsgebote in der Rechtsordnung
Die (rechts-)verbindliche Beantwortung der Frage, in welchem Umfang, nach welchen Vorgaben und nach welcher Methodik die Abwägung von Kosten und Nutzen einer zusätzlichen (Sicherheits-)Maßnahme erfolgen kann, soll und muss, kann nicht alleine mit Hilfe wirtschaftswissenschaftlicher Theoreme erfolgen, vielmehr können sich entsprechende Anhaltspunkte und Leitlinien nur aus der Rechtsordnung selbst ergeben.
Im folgenden Abschnitt sollen deshalb Bezugspunkte für Kosten-Nutzen-Überlegungen in der Rechtsordnung herausgearbeitet werden. Hierzu soll in der Absicht, zwischen Ökonomie und Rechtswissenschaft Trennendes und Verbindendes herauszuarbeiten, zunächst die Frage aufgeworfen werden, an welchen Stellen und in welchem Kontext die Rechtsordnung die zunächst scheinbar ökonomisch geprägten Begriffe der „Kosten“ und des „Nutzens“ einer Maßnahme thematisiert und welches Begriffsverständnis dabei jeweils zugrunde gelegt wird.
Eine erste grundlegende Differenzierung muss dabei hinsichtlich des Bezugspunkts des Kostenbegriffs erfolgen. Demnach wendet sich der Blick zunächst auf Kosten-Nutzen-Relationen im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme privater, d. h. nicht-staatlicher, im Eigentum der Bürger stehender Ressourcen52, um sodann Kosten-Nutzen-Fragen im Hinblick auf die Disposition über knappe staatliche Ressourcen zu erfassen.
I. Kosten-Nutzen-Abwägungen hinsichtlich privater Ressourcen
1. Die juristische Kosten-Nutzen-Abwägung: der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Soweit man die Rechtsprechung und die rechtswissenschaftliche Literatur nach dem vermeintlich ökonomischer Provenienz entstammenden Begriff des Kosten-Nutzen-Verhältnisses durchforstet, wird man in einem – zunächst – überraschenden Kontext fündig: Regelmäßig wird bei der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen der „Angemessenheit“ oder „Zumutbarkeit“53 zur Rechtfertigung staatlichen Handelns gefordert, dass der angestrebte „Nutzen“ (sic!) des staatlichen Eingriffs gegenüber seinen Nachteilen überwiegen solle54. Ein gerechtes Abwägungsergebnis müsste demnach voraussetzen, dass die Maßnahme mit einem positiven „Nettonutzen“verbunden ist55.
Dies mag zunächst erstaunen, gilt doch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das in ihm enthaltene Übermaßverbot als „zentraler Baustein der Freiheitsrechtsdogmatik“56, als eine „zentrale Errungenschaft der deutschen Grundrechtstheorie“57, sogar als „eine, wenn nicht die herausragende Leistung des öffentlichen Rechts nach 1945“58 und geradezu als „Exportschlager“ der deutschen Rechtswissenschaft59.
Tatsächlich hindert dies nicht daran, den vermeintlich genuin juristischen Grundsatz der Proportionalität auch im Sinne eines ökonomischen „Gebots der Verschwendungsfreiheit“60 zu lesen: demnach ist eine die Freiheitsrechte beschränkende Maßnahme nicht nur „rechtswidrig“, sondern auch als „unwirtschaftlich“ zu verwerfen, wenn sie ein negatives Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweist, also im Ergebnis deren Vorteile für die Allgemeinheit, d. h. deren „Nutzen“, hinter den damit verbunden Freiheitseinbußen und Belastungen für den Einzelnen, mithin deren „Kosten“, zurückbleibt.
Entsprechend lassen sich auch die im konsentierten dreistufigen Schema61 vorgelagerten Prüfungsstufen unschwer als Kriterien zur Vermeidung von Verschwendung knapper Freiheitsrechte charakterisieren:
So setzt das Gebot der Geeignetheit voraus, dass die getroffene Maßnahme oder das eingesetzte Mittel grundsätzlich in der Lage ist, einen bestimmten legitimen Zweck oder ein bestimmtes legitimes Ziel zu erreichen62. Diese Eignung soll allerdings schon dann vorliegen, „wenn die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass der angestrebte Erfolg eintritt, wenn der Erfolg also gefördert werden kann“63. Einen relativ groben Filter stellt dies insoweit dar, als dass eine vollständige Zweckerreichung nicht notwendig ist und es ausreichen soll, dass der Zweckeintritt zumindest wahrscheinlicher erscheint64. Ausgeschieden – und als rechtswidrig gebrandmarkt – werden damit Maßnahmen, die schon nicht in der Lage sind, das anvisierte (Gemeinwohl-)Ziel zu erreichen und damit Nutzen zu stiften. Die mit dieser nicht effektiven Maßnahme verbundenen „Kosten“ sind demgegenüber verschwendet, weil sie besser auf anderes, Nutzen Versprechendes verwendet worden wären65. Von der rechtswissenschaftlichen Warte aus erweist sich die unwirksame Maßnahme mithin als rechtswidrig, eine ökonomische Position würde sie ohne Umschweife als „unwirtschaftlich“, weil ineffektiv kennzeichnen66. Denn das Kosten-Nutzen-Verhältnis einer Maßnahme, die schon grundsätzlich keinerlei Nutzen zu stiften vermag, erweist sich als denkbar schlecht67.
Nicht „erforderlich“ ist ein Mittel wiederum, wenn zu ihm mildere Alternativen gleicher Wirksamkeit vorhanden sind und sich die Maßnahme somit als unnötig eingriffsintensiv erweist68. Positiv gewendet soll daher diejenige Handlungsalternative gewählt werden, die entgegenstehende Interessen – sofern überhaupt nötig – am wenigsten beeinträchtigt und so die Intensität der Beeinträchtigung auf das unbedingt Erforderliche reduziert69. Deutlich machen dies auch Formulierungen, wonach das schonendste Mittel zu wählen ist bzw. soviel Freiheit wie möglich zu erhalten sei70.
Ebensolche Maßnahmen sind nicht nur rechtswidrig, weil ein Teil der Kosten, nämlich der zur Erzielung des gewünschten Nutzens nicht erforderliche, überflüssig ist und zu vermeiden gewesen wäre71. Sie sind zugleich relativ unwirtschaftlich, da eine Alternative bestanden hätte, die den gleichen Nutzen mit geringeren Kosten erzielt hätte und somit eine vergleichsweise bessere Kosten-Nutzen-Bilanz aufgewiesen hätte72. Auf den zweiten Blick liegen also auch der Erforderlichkeitsprüfung letztlich Überlegungen zugrunde, die bei der Wahl zwischen verschiedenen Handlungsalternativen auf ein optimales Kosten-Nutzen-Verhältnis zielen.
2. Die Besonderheiten einer Verhältnismäßigkeitsprüfung
Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass die Affinität von ökonomischer Kosten-Nutzen-Abwägung und juristischer Verhältnismäßigkeitskontrolle angesichts der dieser zugrundeliegenden relationalen Konzeption weithin anerkannt wird73. Der allgemeine Verhältnismäßigkeitsgrundsatz lässt sich leicht sowohl ökonomisch als auch außerökonomisch deuten74.
Wenngleich sich also die Frage nach Kosten und Nutzen staatlichen Handelns auf allen Stufen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nachweisen lässt, wäre es doch vorschnell, juristisches Verhältnismäßigkeitsdenken und ökonomisches Kosten-Nutzen-Denken pauschal gleichzusetzen.
a) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Kontrollmaßstab und Handlungsnorm
Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommt – bei aller Uneinigkeit hinsichtlich seiner Rechtsgrundlage(n) und seines Anwendungsbereiches – in erster Linie „eine die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre verteidigende Funktion zu“75, er erweist sich als ein „letztes Sicherheitsventil für die Freiheit des Einzelnen“76.
Anders als eine ökonomische Kosten-Nutzen-Abwägung die eine Vielzahl von Handlungsalternativen miteinbezieht und letztlich diejenige präferiert, deren Nutzenüberschuss (=Nettonutzen) am höchsten ist, kann und will er ein „optimales“ Kosten-Nutzen-Verhältnis aus zwei Gründen nicht garantieren:
Entsprechend seiner Funktion als Instrument der Freiheitssicherung steht er zum einen zu „milden“ Maßnahmen nicht entgegen, also solchen, die wegen eines zu geringen Einsatzes bzw. Eingriffs (= Kosten) einen leicht möglichen, höheren Ertrag (= Gemeinwohlnutzen) und damit ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis verfehlen77. Nicht geprüft wird also, ob eine Handlungsalternative bestanden hätte, die den Grundrechtsträger noch stärker belastet hätte, aber dadurch einen überproportional hohen Beitrag zur Erreichung des legitimen Zwecks hätte leisten können.
Zu berücksichtigen ist weiter, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zuvörderst einen gerichtlichen Kontrollmaßstab darstellt. Da er als solcher von einem konstanten Zweck ausgeht, berücksichtigt er auch nicht, ob mit einem unerheblichen Weniger an Zweckerreichung ein überproportionales Mehr an Freiheit zu gewinnen wäre78. Eine „optimale“ Zuordnung von Kosten und Nutzen dergestalt, dass keine Alternative denkbar wäre, die Freiheitskosten und Gemeinwohlnutzen noch besser austarieren würde, erfordert er gerade nicht79. Ein solches einzig richtiges, weil optimales Ergebnis kann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht voraussetzen80. Denn zum einen kann schon grundsätzlich in Frage gestellt werden, ob ein solches „Optimum“ dem menschlichen Erkenntnisvermögen überhaupt zugänglich ist81. Jedenfalls aber enthält die Verfassung kaum Anhaltspunkte dafür, wie eine verhältnismäßige oder gar optimale Zuordnung von Rechtsgütern zu bestimmen sei82. Dass der Verfassung zwar einzelne Wertungen entnommen werden können, ihr aber keine geschlossene systematisch-ordinale und erst recht keine kardinale (Grundrechts-)Ordnung einzelner anerkannter und geschützter Rechtsgüter zugrunde liegt, ist intuitiv unmittelbar einsichtig und spätestens seit Schlinks83 grundlegender Arbeit hinreichend begründet84. Hieran ändert auch die in älteren Judikaten benutzte – zwischenzeitlich zurückhaltend85 und nunmehr wieder verstärkt verwendete86 – Wortwahl, wonach „das Grundgesetz keine wertneutrale Ordnung sein“ wolle und in seinem Grundrechtsabschnitt „auch eine objektive Werteordnung aufgerichtet“ habe, nichts87, da dieses rationale Unterscheidungskriterien nicht erkennen lässt. In begrenztem Maße wird man zwar schon aus logischen Gründen abstrakt-generelle Rangunterschiede und einen Vorrang des Art. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 GG gegenüber allen anderen Freiheitsrechten begründen und somit zumindest rudimentäre Ansätze einer hierarchischen Ordnung auffinden können. Denn deren Existenz ist die Voraussetzung der Wahrnehmung der Freiheitsgrundrechte. Darüber hinaus enthält das Grundgesetz eine vollständige und geschlossene Rangordnung allerdings weder mit Blick auf die Grundrechte noch mit Blick auf die Staatsaufgaben ...