Verordnung zur Ausführung des Bayerischen Kinderbildungs- und -betreuungsgesetzes (AVBayKiBiG)1
Verordnungstext mit Erläuterungen
Vorbemerkung
„Allen Kindern frühzeitig bestmögliche Bildungserfahrungen und -chancen zu bieten zählt heute zu den Hauptaufgaben verantwortungsvoller Bildungspolitik. Bildung auch schon im vorschulischen Alter wird heute als Aufgabe gesehen, die Eltern, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam fordert und verpflichtet“ (BayBEP 2012, S. 7 f.).
Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung, der am Staatsinstitut für Frühpädagogik entwickelt wurde, stellt ein politisch-gesellschaftliches Instrument dar, mit dessen Hilfe eine hohe Bildungsqualität in allen Bildungsorten und für alle Kinder gesichert werden soll (BayBEP 2012, Fthenakis, Vorworte XII). Das ihm zugrunde liegende Verständnis von Bildung als sozialem Prozess, verändert die Perspektive auf die Bildungs- und Erziehungsziele in Kindertageseinrichtungen, die Qualität der Beziehung zwischen Fachkräften und Kindern, den methodisch-didaktischen Ansatz und die Beziehung der verschiedenen Bildungsorte untereinander.
Zunehmend weisen Eltern – aber auch die Gesellschaft – den Kindertageseinrichtungen Bildungs- und Erziehungsaufgaben zu. Kindertageseinrichtungen, die Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Bildungs- und Erziehungsaufgaben unterstützen, haben heute noch größere Verantwortung für die Bildung, Erziehung und Betreuung der Kinder als früher.
Das Bayerische Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz (BayKiBiG) und seine Ausführungsverordnung (AVBayKiBiG) sind Ausdruck dieser öffentlichen Verantwortung. Das Gesetzeswerk stärkt den Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen sowie die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit. Insofern ist es ein Gesetz für Kinder und ihre Eltern, also für die Familien. Als ein familienunterstützendes und -ergänzendes öffentliches Angebot gehen Kindertageseinrichtungen und Tagespflege eine Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit den Eltern ein. Sie begegnen sich als Partner in ihrer gemeinsamen Verantwortung für das Kind. In enger Kooperation werden die vielfältigen individuellen Bedürfnisse von Familien in den Blick genommen und die Bildungsprozesse von Kindern beiderseits konsequent unterstützt.
Regelt das BayKiBiG den bedarfsgerechten Ausbau, die Bildungs- und Erziehungsarbeit sowie die Förderung gleichgewichtig, so werden in der Ausführungsverordnung zu diesem Gesetz vor allem und an erster Stelle die Bildungs- und Erziehungsziele verbindlich geregelt.
Zum Quartett werden BayKiBiG, AVBayKiBiG und der BayBEP mit den Bayerischen Leitlinien für die Bildung und Erziehung von Kindern bis zum Ende der Grundschulzeit (BayBL). Während der BayBEP als Hilfestellung für das pädagogische Personal in Kindertageseinrichtungen die Vorgaben aus der Ausführungsverordnung vor dem Hintergrund der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Frühpädagogik erläutert, schaffen die BayBL einen verbindlichen Orientierungs- und Bezugsrahmen für alle außerfamiliären Bildungsorte, die Verantwortung für Kinder bis zum Ende der Grundschulzeit tragen. Gesetz, Verordnung, Bildungs- und Erziehungsplan und Bildungsleitlinien sind die Säulen der – durchaus noch fortentwicklungsfähigen – inhaltlichen Reform bayerischer Kindertageseinrichtungen. Die wichtigste Orientierung für die pädagogische Arbeit, sozusagen das Regiebuch, bildet die Ausführungsverordnung. Sie leitet das pädagogische Personal bei der Ausführung des BayKiBiG.
1. Abschnitt
Bildungs- und Erziehungsziele
§ 1
Allgemeine Grundsätze für die individuelle Bildungsbegleitung
(1) 1Das Kind gestaltet entsprechend seinem Entwicklungsstand seine Bildung von Anfang an aktiv mit. 2Das pädagogische Personal in den Kindertageseinrichtungen hat die Aufgabe, durch ein anregendes Lernumfeld und Lernangebote dafür Sorge zu tragen, dass die Kinder anhand der Bildungs- und Erziehungsziele Basiskompetenzen entwickeln. 3Leitziel der pädagogischen Bemühungen ist im Sinn der Verfassung der beziehungsfähige, wertorientierte, hilfsbereite, schöpferische Mensch, der sein Leben verantwortlich gestalten und den Anforderungen in Familie, Staat und Gesellschaft gerecht werden kann.
(2) 1Das pädagogische Personal unterstützt die Kinder auf Grundlage einer inklusiven Pädagogik individuell und ganzheitlich im Hinblick auf ihr Alter und ihre Geschlechtsidentität, ihr Temperament, ihre Stärken, Begabungen und Interessen, ihr individuelles Lern- und Entwicklungstempo, ihre spezifischen Lern- und besonderen Unterstützungsbedürfnisse und ihren kulturellen Hintergrund. 2Es begleitet und dokumentiert den Bildungs- und Entwicklungsverlauf anhand des Beobachtungsbogens „Positive Entwicklung und Resilienz im Kindergartenalltag (PERIK)“ oder eines gleichermaßen geeigneten Beobachtungsbogens.
(3) 1Die Arbeit des pädagogischen Personals basiert auf dem Konzept der Inklusion und Teilhabe, das die Normalität der Verschiedenheit von Menschen betont, eine Ausgrenzung anhand bestimmter Merkmale ablehnt und die Beteiligung ermöglicht. 2Kinder mit und ohne Behinderung werden nach Möglichkeit gemeinsam gebildet, erzogen und betreut sowie darin unterstützt, sich mit ihren Stärken und Schwächen gegenseitig anzunehmen. 3Alle Kinder werden mit geeigneten und fest im Alltag der Einrichtung integrierten Beteiligungsverfahren darin unterstützt, ihre Rechte auf Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Mitwirkung an strukturellen Entscheidungen sowie ihre Beschwerdemöglichkeiten in persönlichen Angelegenheiten wahrzunehmen.
Inhaltsübersicht
1. Das Kind als aktiver Mitgestalter seiner Bildung (Abs. 1 Satz 1)
2. Basiskompetenzen entwickeln (Abs. 1 Satz 2)
3. Der beziehungsfähige, wertorientierte, hilfsbereite, schöpferische Mensch, der sein Leben verantwortlich gestaltet (Abs. 1 Satz 3)
4. Inklusive Pädagogik (Abs. 2 Satz 1)
5. Individuelle und ganzheitliche Unterstützung (Abs. 2 Satz 1)
6. Begleitung und Dokumentation des Bildungs- und Entwicklungsverlaufs (Abs. 2 Satz 2)
7. Teilhabe und Beteiligung (Abs. 3)
Anmerkungen
§ 1 formuliert grundlegende, allgemeine Grundsätze für die individuelle Bildungsbegleitung. Was so nüchtern klingt, entfaltet in drei Absätzen grundlegende Aspekte der pädagogischen Arbeit, wobei ganz bewusst an den Beginn der Ausführungsverordnung „das Kind“ gesetzt wird: § 1 Abs. 1 Satz 1 beginnt mit „Das Kind …“. Damit wird unübersehbar dargelegt, dass das Kind Ausgang und Mittelpunkt aller pädagogischen Bemühung ist. Der Gesetzgeber stellt das Kind als Subjekt, als Träger von Rechten und ausgestattet mit unantastbarer Würde ins Zentrum der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen. Das Kind ist somit nicht nur Ausgang, sondern auch Ziel aller pädagogischen Arbeit.
1. Das Kind als aktiver Mitgestalter seiner Bildung (Abs. 1 Satz 1)
Es gibt verschiedene Ansätze, Bildungsprozesse zu erklären: Manche stellen die eigenaktive Erkundung des Kindes in den Vordergrund und fordern von der Erzieherin vor allem, dass sie günstige Bedingungen zu selbstbildendem Handeln bereitstellt. Erzieherinnen und Eltern greifen hier so wenig wie möglich in die Selbstbildungsprozesse des Kindes ein und geben Hilfestellungen nur soweit als nötig (Selbstbildung). Andere verstehen Bildung vor allem als sozialen Prozess (sozialkonstruktivistischer Ansatz). Diesem Ansatz folgen sowohl der Bildungs- und Erziehungsplan als auch die AVBayKiBiG: Danach ist das Kind Mitgestalter seiner Bildung. Diese Sicht betont stärker den Aushandlungsprozess als die Eigentätigkeit. Das bedeutet, dass das Kind seine Bildung in konkreten sozialen Bezügen selbst gestaltet. Das Kind formt sich selbst, aber in der Interaktion mit anderen, insbesondere auch Erwachsenen. An diesem sozialen Prozess der Selbstgestaltung sind insbesondere Eltern und pädagogisches Personal, natürlich auch die Gesellschaft beteiligt. „Sie alle gestalten kindliche Bildungsprozesse mit und übernehmen Verantwortung bei der Konstruktion seiner Bildungsprozesse“ (BayBEP 2006, S. 11). Das Kind ist Architekt seiner Bildung. „Entsprechend seinem Entwicklungsstand“ darf hierbei nicht als einschränkend oder abwertend aufgefasst werden. Wenn der Verordnungsgeber an dieser Stelle von „Entwicklungsstand“ spricht, meint er damit eine Momentaufnahme im Entwicklungsverlauf des Kindes, der vom pädagogischen Personal beobachtbar ist. Entwicklung ist immer im Prozess und ist niemals endgültig abgeschlossen.
Das Kind gestaltet seine Bildung aktiv mit, indem es sich selbsttätig mit seiner Umwelt forschend und fragend auseinandersetzt, und im Austausch mit anderen ein Bild von seiner Welt entwirft und dies wiederum zum Ausgangspunkt für neue Erfahrungen nimmt.
2. Basiskompeten...