DER LETZTE BESUCH
ICH HABE AUFGEHÖRT, unrealistischen Träumereien nachzuhängen. Die Illusionen, in die ich mich verstiegen hatte, sind von mir abgefallen, ohne dass ich allzu sehr leiden musste. Das Trinken habe ich jedoch nicht eingestellt, ist meine Gesundheit doch unwichtig geworden. Aber ich trinke maßvoll, ich möchte einen klaren Kopf bewahren. Auf diesem Weg habe ich auch einen Teil meiner Kräfte wiedererlangt: die wenigen, die ich noch benötige, um das zu tun, was mir zu tun bleibt.
Ich habe die letzten Tage damit zugebracht, dieses Memorandum zu diktieren. Ich habe die Aufnahmebänder dafür benutzt, auf denen ich seinerzeit die Laute der Insekten registriert hatte. Aus diesen verstärkten Lauten schien ich verzweifelte Liebesrufe und ein Geschrei der Angst und des Entsetzens ausmachen zu können. Nun legten sich meine Worte über und zwischen diese Schreie: ein unbedeutendes Rauschen eines unbedeutenden Lebens, ebenso unbedeutend wie jenes endlose Zirpen. Warum habe ich es getan? Ich weiß es nicht. Wollte ich, dass man wusste, auf welch niederträchtige und lächerliche Weise ein Ex-Sonderkommando versuchte, ins Leben zurückzufinden? Oder wollte ich mich einfach nur erinnern? Ich wiederhole: Ich weiß es nicht. Abgesehen davon hat es auch keine Bedeutung; meine Geschichte neigt sich jetzt dem Ende zu.
Tonina hat mich vorgestern noch einmal besucht. Aber sie hat mir nicht wie versprochen das Kind gebracht: Es habe ein kleines Wehwehchen am Bauch, nichts Schlimmes, sagte sie. Vielleicht hätte es mir gefallen, es an der Mutterbrust trinken zu sehen.
Es war ein schöner Altweibersommer, und wie das letzte Mal blieben wir draußen in der Sonne.
Es war ein Samstagnachmittag, und von der Ebene unter uns schallte aus der Ferne ein ununterbrochenes Motorengeräusch zu uns her. Der große Stadt-Fisch streckte seine Tentakel über die Ebene und alle umliegenden Dörfer aus. Es war dies eine Art Ritual, eine kollektive Hektik, der er sich jeden Samstag hingab und das er weekend nannte. In der darauffolgenden Nacht würde er sich wieder zusammenreißen, damit er am nächsten Tag wieder je nachdem seinen gewöhnlichen Schwimm-, Jagd- oder Sexualtätigkeiten nachgehen konnte.
Wir beide waren dort, allein und fernab des wilden Treibens. Wir saßen uns gegenüber, zwischen uns eine Flasche Rotwein und zwei Gläser.
Sie hatte sich so gekleidet, wie sie wusste, dass es mir gefiel: Sie trug einen weiten, schwarzen Rock mit Blumenmuster in bäuerlichem Stil, eine weiße Bluse und ein wollenes Fransentuch über den Schultern. Unter der weiten Bluse sah ich ihre Brüste wippen.
Ich fragte sie, ob das Gebären wehtäte.
Sie sagte: »Ja, ganz schrecklich. Aber ich denke nicht mehr daran.«
Also erzählte ich ihr, dass eine Gruppe Wissenschaftler an einer Herde Gazellen entsprechende Experimente durchgeführt hatte; und diese hätten ergeben, dass die weiblichen Gazellen ihre Jungen umso mehr lieben, je schmerzhafter die Geburt war.
»In der Tat«, sagte sie, »diesen kleinen Bastard habe ich sehr lieb.«
Und auf ihr Geschlecht deutend fragte ich dann: »Und da, wie geht es da? Bist du verletzt? Haben sie dich aufgeschnitten? Haben sie dich wieder zusammennähen müssen?«
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Dort bin ich ja kräftig gebaut«, sagte sie. Und ich weiß nicht warum, aber ihre Worte freuten mich, machten mich glücklich.
Mit diesen Worten über das Kind war dies Thema angeschnitten, und sie war es, die es ruhig und ohne sich zu verstellen weiter erörterte.
»In der letzten Zeit«, sagte sie zu mir, »habe ich daran gedacht, für das Kind einen Vater zu finden (und in diesem Moment spürte ich einen dumpfen Schlag im Herzen, einen kleinen, trügerischen Schlag, den ich schnell wieder zu vergessen suchte), und jetzt glaube ich, einen gefunden zu haben. Es ist ein junger Mann aus dem Dorf, gesund, stark, fleißig. Er wäre auch bereit, mich zu heiraten. Aber nur unter gewissen Bedingungen.«
Sie erklärte, wie schrecklich schwierig es sei, einen anständigen Mann zu finden, der sich bereit erklärte, eine Frau mit einem unehelichen Kind zu heiraten. Gewiss, sie gefiel ihm, aber das genügte nicht. Da er unvermögend sei, stimme er zu, sie in der Kirche oder auch nur standesamtlich zu heiraten, vorausgesetzt, sie verhälfe ihm zu einer angesehenen Stellung in der Gesellschaft.
Sie erklärte mir etwas wirr, dass er ein guter, fachkundiger und passionierter Mechaniker für jede Art von Motoren sei und bereits ein Auge auf eine kleine Werkstatt geworfen habe, die auch zwei Tanksäulen beinhaltete; sie stünde jetzt zum Verkauf und sei mit einer Hypothek belastet. Grund ihres Besuchs sei, das mit mir zu bereden. Von dem Geld, das ich ihr gegeben hatte, war noch einiges übrig: Das würde, wenn man gut ins Geschäft käme, vielleicht für die erste Rate reichen. Aber für die darauffolgenden Raten war kein Geld da. Und er, der junge Mann, war sehr vorsichtig. Er wollte sich nicht verpflichten, ohne die Sicherheiten zu haben, auch den Rest abbezahlen zu können.
Wie vor den Kopf gestoßen, sah ich sie an. Ich wusste nicht, ob ich ihr glauben sollte oder nicht. Konnte es möglich sein, fragte ich mich, obwohl ich die Raffgier und das Ungeschlachte des Völkchens dieser Gegend bestens kannte, dass es einen Mann gibt, der so viel Leben, so viel Schönheit und so viel Glück vor sich hat und dann so mies ist, sich erst bezahlen zu lassen, bevor er sich dazu herablässt, sie zu nehmen, sie zu der Seinen zu machen und sich an ihr zu verlustieren? Vielleicht war es wieder nur ein Betrugsmanöver wie damals, als sie heimlich ihre Flucht aus meinem Haus vorbereitet hatte. Vielleicht hatte sie diese Forderungen des Mannes nur erfunden, wie sie mir die Krankheit ihrer Großmutter vorgegaukelt hatte. Vielleicht gab es diesen Mann in Wahrheit gar nicht, und das Ganze war nur ein Vorwand, um mehr Geld aus mir herauszuschinden. War es denn möglich, dass sie mir solche Lügen auftischte? Ja, das war durchaus möglich. Sie lächelte erwartungsvoll, ich lächelte zurück, wobei ich mir sagte, aber sicher doch war so etwas möglich. Aber es hatte keine Bedeutung. Denn sie war das Leben. Und das Leben durfte ruhig auch lügen, ja, es lügt doch fast immer, es betrügt die Menschen in einem fort, und doch ist es derart schön, dass alle sich gern hinters Licht führen lassen.
»Wie viel braucht ihr für den Kauf und die Ablösung der Hypothek?«, fragte ich. »Geht in Ordnung«, erwiderte ich dann, als sie mir die Summe nannte. »Ich werde meinem Anwalt schreiben, damit er dir das Geld zukommen lässt und sich um die Vertragsabwicklung und die Hypothekenauflösung kümmert. So kannst du auch sichergehen, dass dich keiner über den Tisch zieht. Unterdessen gebe ich dir einen Scheck, damit du beruhigt bist.«
»Aber das ist doch viel zu viel!«, rief sie aus, als sie die Ziffer las. »Das ist schon ausreichend für alles.«
»Es braucht seine Zeit, bis der Anwalt alles geregelt haben wird. Unterdessen musst du für dein Kindchen sorgen und dich um ein Haus, ein Auto, einen Kinderwagen, Aussteuer, Babynahrung und was noch mehr kümmern.«
Sie lächelte mich an und schickte mir einen Kuss durch die Lüfte.
»Ich wusste, professore«, sagte sie, »dass du mir helfen würdest.«
Diese Andeutung eines Kusses verwirrte mich mehr, als ich es wahrhaben wollte. Ein langes Schweigen machte sich breit, drang tief in mich ein und löste sich in einem großen Gefühl von Zärtlichkeit.
»Das ist nicht der Rede wert, Tonina«, sagte ich. »Denk nicht daran. Es ist weiter nichts.«
»Ich stehe in deiner Schuld, professore«, sagte sie zu mir. »Ich werde dir alles zurückzahlen, sowie ich kann. Ich werde wieder dein Modell sein. Sobald ich abgestillt habe, und das habe ich bald schon vor, werde ich mir ein Mädchen suchen, das sich um mein Kind kümmert. So werde ich wieder zu dir kommen können, sagen wir ein über den anderen Tag. Am Morgen werde ich posieren, am Mittag für dich Essen zubereiten, und dann habe ich den ganzen Nachmittag, um mich um deinen Haushalt zu kümmern.«
Und wie mir Tonina mit ganz ernster Miene (ihr altes Schmollgesichtchen, dachte ich, wie hatte es sich doch verändert!) dieses zukünftige Leben mit einer Spur von Zuneigung in der Stimme beschrieb, spürte ich eine große Rührung in meinem Herzen. Die Wahrheit überzog sich mit einem Schleier, und die Entscheidung stand auf wackeligen Beinen.
»Aber wird dein Mann es zulassen, dass du nackt für mich posierst?«, fragte ich.
»Ich habe ihm bereits davon erzählt«, sagte sie, »und er hat nichts dagegen. Da ist nur eines, was er nicht will, dass ich es tue. Er will absolut nicht, dass ich mich da unten rasiere.«
»Aber warum?«
»Er sagt, es gefällt ihm einfach nicht. Die rasierte Fotze ekle ihn an.«
»Aber dir hat es gefallen«, sagte ich. »Ich hab’s gemerkt, dir gefiel es.«
»Ja«, sagte sie und errötete, dann lachte sie: »Ja, es gefiel mir.«
»Dann brauchst du nicht beunruhigt zu sein. Es wird sich eine Lösung finden.«
Wir plauderten noch ein Weilchen. Die Sonne war nun auf ihrem Weg hinter den Horizont knapp oberhalb der Bäume auf dem Hügelkamm angelangt.
»Ich muss pinkeln«, sagte Tonina und erhob sich.
»Das ist der Wein«, sagte ich zu ihr. »Geh ruhig. Du wirst sicher noch wissen, wo das Klo ist.«
»Nein, ich mag’s lieber im Freien. Das hat mir immer gut gefallen. Ich werde dorthin, ans Ende der Straße, hinter die Büsche gehen.«
»Ist in Ordnung. Aber hüte dich vor den Hunden. Gegen Abend spielen sie immer verrückt. Und es sind schon fünf oder sechs Tage, dass sie nichts von mir zu fressen bekommen haben.«
Sie lachte bloß und zuckte mit den Schultern. »Die Hunde und ich, wir sind Freunde. Das letzte Mal, du hast es nicht mitgekriegt, weil du schlafen gegangen warst, sind sie zum Torgatter gekommen, um mich zu begrüßen. Ich habe sie einzeln mit Namen gekannt, und sie haben mir die Hände geleckt. Nur einer fehlte: ein großer, sehr alter Wolfshund, mit schwarzer Schnauze, den ich Nerone getauft hatte. Ich habe laut nach ihm gerufen, aber er hat sich nicht blicken lassen.«
Ich verriet ihr nicht, weshalb Nerone nicht gekommen war, um sie zu begrüßen.
»Wie kommt es nur, dass du so Freund mit den Hunden bist?«
»Weil ich ihnen immer zu fressen gebracht habe, als ich noch bei dir wohnte. Und ich habe viel mit ihnen geredet, als ich mich einsam und verlassen fühlte.«
»Das wusste ich nicht.«
»Dass ich ihnen zu fressen brachte?«
»Weder das noch dass du dich manchmal so alleine fühltest.«
»Es gibt noch viele Dinge, die du nicht weißt, professore«, sagte sie mit ernstem Blick. Dann lachte sie wieder und sagte: »Jetzt geh ich aber.«
Und während sie sich entfernte, dachte ich an diesen ihren letzten Satz. Sie hatte ganz ernsthaft gesprochen, als wäre es ein Vorwurf, aber zugleich auch ganz gelassen, als wäre das Ganze offensichtlich. Was wollte sie eigentlich damit andeuten, dass ich was nicht wusste? Vielleicht meinte sie das Gemauschel mit dem Angestellten oder ihre amourösen Stelldicheins mit dem Burschen am Torgatter oder all das, was ihr dann in der Stadt widerfahren war. Oder vielleicht wollte sie mir sagen: Du weißt nicht, wie einsam ich in der Stadt war, was ich alles zu erleiden hatte und wie sehr ich dich verabscheut habe. Oder: Du weißt nicht, dass ich dich im Grunde auch ein wenig gern gehabt habe. Oder aber: Ja, weißt du nicht, dass du immer in meiner Schuld stehst? Weißt du nicht, dass ich aus dem einzigen Grund, weil ich Geld brauche, wieder bereit bin, nackt für dich zu posieren? Ein bisschen Geld, um zu überleben; und du schuldest mir dieses Geld, noch viel mehr schuldest du mir; und wenn ich mich noch weiter beuge, um dich zu bedienen und dir Hochachtung zu zollen, dann nur, um zu kriegen, was du mir sowieso geben müsstest. Aber du, der du in deinem Egoismus verbarrikadiert bist, siehst es nicht, willst nichts davon wissen.
Welche dieser möglichen Versionen war die richtige? Ich konnte es einfach nicht begreifen, aber längst war es mir gleichgültig.
Ich wurde unruhig, weil sie zu lange wegblieb, und ich hatte die Hunde zwischen den Rebstöcken gesehen. Aber ich hörte kein Kläffen, und so beruhigte ich mich wieder.
Ich stellte sie mir auf der Lichtung vor, im Kreise ihrer geliebten Hunde, die sie aus dem Strauchwerk heraus verstohlen anschauten.
Dann stellte ich mir vor, wie sie sich hinkauerte. Den Rock hielt sie nach vorn hochgerafft in den Armen, den Hintern hatte sie nach hinten ausgestreckt, die Schenkel gespreizt, der kleine Schlitz in dieser Haltung weit geöffnet, während der goldene Strahl aus dem kleinen Loch spritzte.
Ich dachte an die zarte Keimzelle, an die leichte Tumeszenz, und ich erinnerte mich an die Zeit, in der ich noch dachte, ja, überzeugt davon war, dass es mir genügen würde, sie einfach nur zu berühren oder sie auch nur für einen kurzen Augenblick in meine gewölbte Hand aufzunehmen, damit me...