Predigt auf den Untergang Roms
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Predigt auf den Untergang Roms

Roman

  1. 208 Seiten
  2. German
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Predigt auf den Untergang Roms

Roman

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Über dieses Buch

Der Autor gewann mit diesem in Frankreich gefeierten Titel 2012 den renommierten Prix Goncourt.Ein korsisches Dorf. Das Leben, vom Alltag bestimmte Monotonie. Sommer, Hitze, Jagd auf Wild, wiederkehrend Tag um Tag. Und dann: ein Ereignis, eine Erschütterung. Folgenreich. Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Zur allgemeinen Verwunderung haben zwei Söhne des Dorfes ihr vielversprechendes Philosophiestudium auf dem Kontinent vorzeitig beendet und übernehmen die Dorfkneipe. Um ganz im Sinne der Leibnizschen Lehre in ihrem Dorf die "beste aller möglichen Welten" zu errichten. Aber: es richtet sich die Hölle selbst am Tresen ein. Und es wird eine korsische Dorfkneipe zur Weltenbühne des menschlichen Dramas. Mit prächtiger Sprache erzählt, dicht und bildkräftig, ein Wunder an Ausgewogenheit von Wucht, Weite, Tiefe und Leichtigkeit.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783905951585

»Denn Gott hat für Dich nur eine verderbliche Welt geschaffen.«

In diesem Dorf steigen die Toten allein ins Grab – nicht allein in Wahrheit, sondern gehalten von fremden Händen, was aufs Gleiche hinausläuft, und so ist es also gerecht zu sagen, dass Jacques Antonetti den Weg zur Gruft allein nahm, während seine am Ausgang der Kirche fern von ihm unter der Junisonne gruppierte Familie die Trauerbekundungen entgegennahm, denn Schmerz, Gleichgültigkeit und Mitleid sind Bekundungen des Lebens, deren kränkendes Schauspiel von nun an vor dem Verschiedenen verborgen gehalten werden muss. Jacques Antonetti war drei Tage zuvor in einem Pariser Krankenhaus verstorben, und das Flugzeug, das ihn zurückbrachte nach Hause, war noch am gleichen Morgen in Ajaccio gelandet, zur Stunde, da sein Sohn Matthieu die Schlafstätte der Kellnerinnen verließ und zur Bar ging, um sich einen Kaffee zu bereiten. Libero stand bereits hinterm Tresen, im Anzug, er brachte die Kaffeemaschine in Gang, und Matthieu war ihm dankbar, dass er so früh aufgestanden war, um ihm zur Seite zu stehen.
»Hast du hier geschlafen?«
Matthieu nickte zustimmend und senkte seinen Kopf. Er hätte die beiden letzten Nächte gern bei sich zu Hause verbringen wollen, er hatte es tatsächlich vorgehabt, am Vorabend hatte er es sogar versucht, aber sein Großvater blieb schweigsam sitzen und schien seine Anwesenheit nicht einmal wahrzunehmen, sodass Matthieu sich ebenfalls in einen Sessel gesetzt hatte, den Blick auf die geschlossenen Fensterläden gerichtet, mit Beginn der Nacht war er aufgestanden, um eine Lampe zu entzünden, aber sein Großvater hatte gesagt: »Nein«, ohne sich zu bewegen, ohne die Stimme zu erheben, einfach »Nein« hatte er gesagt und hatte hinzugefügt: »Das entspricht nicht der Ordnung der Dinge«, und hatte mit der Hand ein Zeichen gemacht, das Matthieu eiligst als eine Erlaubnis, Abschied nehmen zu dürfen, verstehen wollte oder als etwas Definitiveres und vielleicht sogar Gewaltsameres, als eine herrschaftliche Einladung, sich hier und jetzt zu entfernen von einer Einsamkeit, die allein nach der Stille der Nacht verlangte, und Matthieu hatte gehorcht, hatte seinen Großvater von seiner lästigen Anwesenheit befreit und befreite sich so zugleich von ihm und war kein einziges Mal mehr ihn besuchen gegangen. Libero servierte Matthieu einen Kaffee, setzte sich zu ihm und musterte ihn von Kopf bis Fuß.
»Du willst so gehen? Du willst so auf die Beerdigung deines Vaters gehen?«
Matthieu trug saubere Jeans und ein schwarzes Hemd, das er einigermaßen aufgebügelt hatte. Leicht verstört prüfte er seine Aufmachung nun auch selbst.
»Geht das so nicht?«
Libero näherte sich ihm und packte ihn am Nacken.
»Nein, das geht so nicht. Du kannst deinen Vater so nicht beerdigen. Du riechst nach Schweiß. Du riechst nach Parfum. Du stinkst. Deine Fresse sieht unmöglich aus. Wir gehen jetzt zu meiner Mutter und du wirst erst mal eine Dusche nehmen, dann wirst du dich rasieren und wir suchen für dich einen Anzug raus und eine Krawatte, wir werden was finden, was dir passt, und alles wird gut ablaufen, du wirst alles so machen, wie du es machen musst, alles wird gut werden. Ich bleibe an deiner Seite. Es wird gut gehen, du wirst schon sehen, ich verspreche es dir.«
Matthieu spürte Tränen in seine Augen steigen, aber sie hielten sich genau an der Linie seiner trockenen Lider und zögerten einen Augenblick, bevor sie dann plötzlich zurückflossen. Er fand seine Atmung wieder und zog Libero kurz an sich, bevor er ihm folgte, und zwei Stunden später, als der Leichenwagen, gefolgt von einer nicht endenden Wagenkolonne, zum Klang der Totenglocke ins Dorf einfuhr, wartete Matthieu aufrecht an der Seite seines Großvaters vor der Kirche, in einem ihm weidlich zu großen Anzug, den er mit der Anweisung erhalten hatte, nur ja nicht die Weste aufzuknöpfen, damit die unschönen Falten der Hose verdeckt blieben, die ein oberhalb seines Bauchnabels hängender Gürtel hielt. Libero gab ihm ein Zeichen mit dem Daumen, alles sei gut, und plötzlich dann, als der Sarg aus dem Leichenwagen gezogen wurde, entstieg den Wagen eine Menge lüsterner Leute und stürzte in einem grauenerregenden Gewühl auf ihn ein, um ihn zu küssen, Frauen, die er nicht kannte, drückten ihn gegen die schwarze Spitze ihrer Trauerkleider, seine Wangen waren benetzt von fremden Tränen, er roch den aufdringlichen Geruch von Eau de Cologne, Tagescremes und billigen Parfums und er sah aus dem Augenwinkel weitere Unbekannte die Ellenbogen einsetzen, um sich auf Marcel zu stürzen, ein Angestellter des Bestattungsunternehmens rief: »Nachher! Nachher die Beileidsbekundungen! Nach der Feier!«, aber niemand hörte ihm zu, die Menge hatte Matthieu gegen die Kirchenmauer gepresst und erdrückte ihn mit ihrer feuchten Umklammerung, ihm wurde schwindelig, er nahm seine Mutter wahr, die den Arm nach ihm streckte und ihn rief, aber sie wurde erfasst von einer Unmenge mitleidloser Hände, die das von Trauer zersetzte Fleisch berühren wollten, Aurélie weinte in der Nähe des Sarges, ihrerseits überflutet von einer dichten Welle gefräßigen Mitleids, die stark gespannten feuchten Lippen vor dem Kontakt mit dem Kuss, die speichelglänzenden Goldzähne unter geschürzten Lippen, und Matthieu hatte den Eindruck, sich in einem Gebräu menschlicher Wärme aufzulösen, sein Hemd war schweißnass, der Druck der Gürtelschnalle auf seinen Bauch schmerzhaft, und alles beruhigte sich schlagartig, die Menge trat beiseite, um den Toten passieren zu lassen, den Virgile Ordioni, Vincent Leandri und vier von Liberos Brüdern trugen, und Matthieu folgte ihm, am Arm seiner Mutter, die ihn schließlich erreicht hatte, an der Seite seines Großvaters und auch von Aurélie, und als sie die Kirche betraten, schloss er die Augen unter der köstlichen Liebkosung der kühlen Luft, während hinter dem Altar Pierre-Emmanuel Colonna und die Freunde aus Corte das Requiem sangen. Die gesamte Zeremonie über machte sich Matthieu auf die Suche nach seinem eigenen Kummer, fand ihn aber nirgends, er betrachtete das fein gearbeitete Holz des Sarges, das mumienhafte Gesicht seines Großvaters, er hörte das miteinander vermengte Schluchzen seiner Mutter und seiner Schwester und nichts geschah, er konnte noch so sehr die Augen schließen und sich zu traurigen Gedanken zwingen, sein Kummer antwortete auf keinen einzigen seiner Rufe, er fühlte ihn manchmal ganz nah vorbeiziehen, seine Lippe erzitterte davon leicht, und in dem Augenblick, da er dachte, die Tränen würden endlich zu fließen beginnen, versiegten mit einem Male alle feuchten Quellen seines Körpers und er wurde wieder gleichmütig und trocken, aufrecht stehend vor dem Altar wie ein toter Baum. Der Pfarrer schwenkte ein letztes Mal das Weihrauchfass um den Sarg herum, flehende Stimmen erhoben sich in der Kirche,
Rette mich, Herr, vor dem ewigen Tod,
und der Sarg setzte sich langsam in Bewegung zum Ausgang hin, Matthieu folgte ihm und wusste, dass er das letzte Mal hinter seinem Vater herging, aber er weinte nicht, er gab dem Kruzifix einen Kuss mit einer Pietät, die er gern nicht geheuchelt hätte, aber weder sein Vater noch Gott erwarteten ihn am Kreuze und er fühlte nichts anderes als den Kontakt mit dem kalten Metall an seinen Lippen. Die Türen des Leichenwagens schlossen sich wieder. Claudie murmelte unter Tränen den Namen ihres Mannes, der zugleich auch der Name war ihres Bruders in Kindertagen, und Jacques Antonetti begann seinen Weg hin zum Grab und er war allein, wie es das Gesetz dieses Dorfes will, denn die Fremden, die nah mit ihm dahingingen im Rhythmus seines Schweigens, waren nicht der Rede wert. Die Beileidsbekundungen waren endlos. Matthieu antwortete mechanisch »Danke« und bei bekannten Gesichtern deutete er ein Lächeln an. Virginie Susini strahlte geradezu freudig und sie schloss ihn so eng in die Arme, dass er das Schlagen ihres todessatten Herzens fühlen konnte. Die Kellnerinnen saßen auf einer Mauer und warteten, dass sich die Menge verstreute, um sich dann ihrerseits zu nähern, und Matthieu musste sich zügeln, Izaskun nicht auf den Mund zu küssen. Nach einer halben Stunde waren gut dreißig Personen zurückgeblieben, die sich bei den Antonettis einfanden, wo ihnen Liberos Schwestern Kaffee servierten, Eau de vie und Gebäck. Die Unterhaltungen begannen mit gesenkter Stimme, wurden dann lauter und lauter, man hörte ein leises Lachen, und bald schon war das Leben wieder zurück, unerbittlich und heiter, wie es immer geschieht, auch wenn die Toten es nicht wissen dürfen. Matthieu trat in den Garten hinaus, mit einem kleinen Glas Eau de vie. In einer Ecke pinkelte Virgile Ordioni gegen einen Stapel Holzscheite. Über seine Schulter richtete er auf Matthieu seine großen geröteten Augen. Er war völlig verlegen.
»Ich wollte eben nicht fragen, wo die Toiletten sind. Deiner Mutter zuliebe, verstehst du.«
Matthieu gab ihm seinen Segen mit einem Augenzwinkern. Er fürchtete den unvermeidlichen Moment, da alle fort sein würden. Er hatte Angst davor, sich von Angesicht zu Angesicht mit den Seinen allein wiederzufinden, mit denen er nicht einmal deren Kummer teilen konnte, da der seine unauffindbar blieb. Bei Sonnenuntergang würden sie alle gemeinsam zum Friedhof gehen, der Grabstein würde dann bereits einzementiert sein, sie würden die Kränze und Blumengebinde ordnen und dies wäre alles, was Matthieu sehen würde, Blumen und den Stein, nichts anderes, keine einzige Spur des Vaters, den er verloren hatte, nicht einmal eine Spur seiner Abwesenheit. Vielleicht hätte er weinen können, wenn er die Sprache der Symbole hätte verstehen oder zumindest seine Vorstellungskraft hätte bemühen können, aber er verstand nichts, er hatte keine Vorstellungskraft mehr, sein Geist versteifte sich auf die konkrete Gegenwart der Dinge, die ihn umgaben, jenseits von ihnen war nichts mehr. Matthieu schaute aufs Meer und er wusste, dass seine Unempfindlichkeit nichts anderes war als das unwiderlegbare Symptom seiner Dummheit, er war ein Vieh, das das unveränderliche und beschränkte Glück der Viecher genoss, und auf seine Schulter legte sich eine Hand, in der er diejenige von Izaskun wiederzuerkennen glaubte, die ihm in den Garten gefolgt wäre, wohl, weil sie darunter gelitten haben musste, ihn so einsam zu sehen, und wohl auch, weil er ihr gefehlt haben musste. Er drehte sich um und stand Aurélie gegenüber.
»Wie geht es dir, Matthieu?«
Sie betrachtete ihn ohne Wut, aber er senkte seine Augen vor ihr. »Mir geht es gut. Ich bin nicht einmal traurig.«
Sie näherte sich ihm und schloss ihn in ihre Arme, »Aber natürlich bist du das, du bist traurig, sehr traurig«, und der Kummer, den er den ganzen Nachmittag über vergeblich gejagt hatte, war da, eingebunden in die Worte seiner Schwester, fern der unnützen Stütze von Symbolen und der Vorstellungskraft, er stürzte auf Matthieu ein, der gleich einem Kinde in den Armen Aurélies zu weinen begann. Sie streichelte ihm das Haar, küsste ihm die Stirn und nötigte ihn, seine Augen auf sie zu richten.
»Ich weiß sehr wohl, dass du traurig bist. Aber es nützt nichts, verstehst du. Deine Traurigkeit nützt nichts und niemandem was. Es ist zu spät.«
Am fünfzehnten Juli erhielt er einen Brief von Judith Haller, die ihm ihren erfolgreichen Abschluss beim Staatsexamen verkündete, sie wolle ihre Freude mit ihm teilen, selbst von fern, sie erwarte keine Antwort, sie hoffe, dass er glücklich sei – war er glücklich?, aber Matthieu stellte sich diese Frage nicht, er betrachtete den Brief, als wäre er ihm von einer fernen und dennoch merkwürdig vertrauten Galaxie zugeflogen, deren Einstrahlungen in ihm konfuse Widerklänge eines anderen Lebens wachriefen. Er steckte den Brief in seine Tasche, wo er ihn vergaß, um Champagnerflaschen zu öffnen zu Ehren der Abreise von Sarah. Sie hatte sich verliebt in einen Pferdezüchter, der ihr kürzlich erst vorgeschlagen hatte, sich mit ihm irgendwo am Taravo niederzulassen. Er war ein gut vierzigjähriger Mann, der den ganzen Winter über nur mit auffälliger Nüchternheit auf sich aufmerksam gemacht hatte und mit der Ausdauer, die er an den Tag gelegt hatte, um wieder und wieder die Kilometer zu überwinden, die die Bar von seinem verlorenen Dorf am Ende der Welt trennten. Er setzte sich an eine Ecke des Tresens, vor ihm ein Glas Sprudel, offenkundig erfasst von einer rätselhaften Meditation. Er schaute die Kellnerinnen nicht an, versuchte nicht, ihre Hintern zu berühren oder sie zum Lachen zu bringen, ging sogar so weit, die Willkommenszärtlichkeit von Annie abzuwehren, und es war unmöglich zu ergründen, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Mitteln er eine Romanze mit Sarah hatte knüpfen können, die nun an seinem Hals hing und ihn mit Küssen überschüttete und ihn nötigte, Champagner zu trinken. Pierre-Emmanuel sang Liebeslieder mit leicht komischer Untermalung, er stellte seine Gitarre zur Seite, um sich was auftischen zu lassen und um Virgile Ordionis schütteres Haar zu zerzausen und ihn auf das glückliche Pärchen zu verweisen: »Siehst du, Virgile, vielleicht findest du am Ende ja auch noch eine Kleine!«
Und Virgile errötete und lachte und sagte: »Ja, ja! Ich auch, mag sein, warum nicht?«, und Pierre-Emmanuel zog ihn am Ohr und rief: »Ah! Du Hund! Du Schwein! Mädchen, da hast du Bock drauf, was. Du bist mir ’ne Nummer, nee!«, und er griff wieder nach seiner Gitarre, um voller Tremolos die Geschichte einer jungen Frau zu erzählen, die so schön war, dass ihre Patentante nur eine Fee gewesen sein konnte. Um zwei Uhr morgens sammelte Sarah ihre Sachen zusammen, verstaute sie in dem geräumigen, schlammverschmierten Allrad ihres neuen Gefährten und begann, sich zu verabschieden. Rym schloss sie in die Arme und weinte, sie musste ihr versprechen, von ihrem Glück zu berichten, was Sarah tat und ihrerseits einige Tränen vergoss, als sie jeden einzelnen derjenigen umarmte, die sie verließ, sie sagte zu Matthieu und Libero, dass ihnen zu begegnen das Beste gewesen sei, was ihr je passiert sei, sie würde sie nicht vergessen, da, wo sie leben werde, sei ihnen ein Platz sicher, was der Pferdezüchter vom Taravo mit einem Kopfnicken bestätigte, und mit einem beinahe väterlichen Gefühl sah Matthieu sie entschwinden, denn er zweifelte nicht daran, dass sein vormundschaftlicher Schatten sich für immer auf Sarahs Leben werfen werde. Matthieu war mit sich besonders zufrieden und stellte verdrossen fest, dass Libero diese glückliche Verfassung nicht teilte, er ging nervös hin und her, kapselte sich auf der Terrasse ab, um mehrmals mit Vincent Leandri zu tuscheln, und maulte die Mädchen an, die noch immer dümmlich rumheulten, anstatt ihre Arbeit zu beenden und den Boden zu reinigen und dann endlich in ihren Betten weiterzuheulen oder wo immer es ihnen auch beliebte. Als die Mädchen weg waren, schlug Annie vor, noch zu bleiben, um eventuelle Nachtschwärmer zu bewirten. Libero warf ihr vernichtende Blicke zu.
»Nein! Du ziehst auch Leine. Du erholst dich besser mal, du siehst beschissen aus.«
Sie öffnete ihren Mund, um etwas zu erwidern, besann sich aber und ging wortlos weg und ließ Libero allein zurück mit Vincent Leandri und Matthieu, der völlig verloren wirkte.
»Liegt es an Sarahs Abreise, dass du so ausrastest?«
»Nein. An Annie. Sie bestiehlt uns, die Schlampe, ich bin mir sicher.« Seit Saisonbeginn hatte Annie die Angewohnheit, nach der Sperrstunde, die ungerechterweise durch willkürliche Verordnung des Präfekten auf drei Uhr morgens festgelegt worden war, noch in der Bar zu bleiben. Wenn Libero und Matthieu schlafen gingen, samt Inhalt ihrer Kasse und mit der Pistole im Gürtel, blieb sie heldenhaft auf ihrem Hocker hinter dem Tresen sitzen, bereit, die letzten Trunkenbolde zu bedienen, die die Gegend durchzogen auf der Suche nach einem anheimelnden Ort, an dem sie ihre Reise Richtung Suffkoma vollenden konnten. Im sehr ungewöhnlichen Fall einer Stippvisite der Gesetzeshüter konnte sie so vortäuschen, dass die Bar geschlossen habe, die Kasse abgerechnet sei und sie mit einigen engen Freunden die Freuden eines privaten Abends genoss. Sie bonierte erst im letzten Augenblick, wenn man sichergehen konnte, dass nirgendwo in der Umgebung irgendeine Schirmmütze umherstreifte. Diese List, an der man den zivilen Widerstand gegen die Ungerechtigkeit des Staates nur begrüßen konnte, machte zunächst alle glücklich: Außer sich vor Dankbarkeit konnten die herumirrenden Trunkenbolde von nun an mit einem Quartier rechnen, Annie wurde ihre Selbstlosigkeit mit einem großzügigen Trinkgeld, das zum Verdienst der Überstunden hinzukam, vergolten und die Umsatzzahlen der Bar waren angestiegen. Natürlich kam es vor, dass Annie vergeblich auf Gäste wartete, und dies geschah sogar häufiger und häufiger, was Libero erst in Alarmbereitschaft versetzte, als Vincent Leandri ihm rein zufällig erzählte, dass Freunde aus Ajaccio auf ein Glas vorbeigekommen seien nach der Disko letzten Samstag, wohingegen Annie ganz klar gesagt hatte, dass in ebendieser Nacht niemand aufgetaucht sei. Libero fragte Vincent Leandri, ob er sich auch nicht im Datum irrte und was seine Freunde getrunken hätten und wie viel, sodass Vincent sie anrief, um sie zu bitten, die Stimmigkeit seiner Angaben zu bestätigen. Libero war stocksauer und nichts schien ihn beruhigen zu können, Vincent wies ihn mit einem von Weisheit geprägten Fatalismus darauf hin, dass Kellnerinnen sich seit eh und je aus der Kasse bedienten, das sei ein Naturgesetz, er mahnte ihn vergeblich zur Nachsicht, Matthieu wiederholte ihm gegenüber mehrmals, dass das so schlimm nicht sei, aber er hörte nicht auf sie, er wollte Annie in die Enge treiben, indem er sie auf frischer Tat ertappte, das sei die einzige Möglichkeit, ansonsten würde sie alles in Abrede stellen, diese unglaubliche Nutte, dieses Luder, dieses gemeine Miststück, und er beruhigte sich erst, als er einen Weg gefunden hatte, die ›frische Tat‹ zu organisieren, nach der seine Rache dürstete. Er trommelte im Dorf eine Gruppe Jugendlicher zusammen, von denen er sicherstellte, dass Annie keinen einzigen kannte, er gab ihnen Geld, das sie in der Bar bis auf den letzten Cent vertrinken sollten in der darauffolgenden Nacht. Sie sollten so tun, als ob sie auf Durchreise wären in der Gegend, aber nicht vorhätten, auch nur noch einmal wiederzukommen, und sie sollten vor allem darauf achten, alles, was sie konsumierten, aufzuschreiben und Libero später dann die genaue Abrechnung ihres Besäufnisses geben, eine Aufgabe, die sie mit einwandfreier Loyalität erfüllten. Zwei Tage darauf, als Annie ihren Dienst am Nachmittag antrat, erwartete Libero sie dann mit einem breiten Lächeln in der Bar.
»Und, hattest du letzte Nacht ein paar Gäste?«
Sein Lächeln verflüchtigte sich für einen Moment, als Annie ihm »Ja« zur Antwort gab und in Kassenbons gewickelte Geldscheine überreichte. Libero zählte sie und lächelte nochmals.
»Also kaum was los gewesen.«
Nein, kaum was los gewesen, bis auf zwei Typen aus Zonza, die auf einen Drink für zwei Minuten reingekommen wären auf dem Weg nach Hause, sie habe gewartet, habe dann gegen fünf Uhr abgeschlossen, die Nacht sei lang gewesen, es könne ja nicht immer laufen, das mache aber auch nichts, und Libero fing an zu brüllen, ohne Rücksicht auf die Gäste, die sich erschreckten, »Bist du bald fertig mit deinem Scheiß?«, und er brüllte, dass er wisse, dass Gäste dagewesen waren, aber Annie antwortete: »Nein! Das stimmt nicht! Nein!«, mit der bockigen Schnute eines Kindes, und er ging auf sie zu, die Fäuste geballt, und beschrieb jeden einzelnen der Jugendlichen und listete auf, was sie getrunken hatten,...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. »Möglich, dass Rom nicht zugrunde gegangen ist, wenn die Römer nicht zugrunde gehen.«
  7. »Empfindet also, Brüder, keine Vorbehalte gegenüber den Strafen Gottes.«
  8. »Du, siehe, was Du bist. Denn unabwendbar kommt das Feuer.«
  9. »Was der Mensch schafft, das zerstört der Mensch.«
  10. »Wohin wirst Du gehen außerhalb der Welt?«
  11. »Denn Gott hat für Dich nur eine verderbliche Welt geschaffen.«
  12. Predigt auf den Untergang Roms
  13. Anmerkung des Autors zur französischen Originalausgabe
  14. Anmerkung des Übersetzers zur deutschsprachigen Ausgabe
  15. Weitere Titel aus dem Verlagsprogramm