1 Dido zwischen Mythos und Literarisierung
Die Liebesbeziehung zwischen Dido und Aeneas ist eine der großen love stories der Literatur- und Kulturgeschichte. Sie ist aber kein Bestandteil des ursprünglichen Dido-Mythos, der in seinen frühesten schriftliterarischen Fassungen im vierten vorchristlichen Jahrhundert in der griechischen Historiographie begegnet.1 Der Mythos berichtet davon, dass die phönizische Königstochter Elissa vor ihrem Bruder Pygmalion fliehen muss, der aus Macht- und Geldgier ihren Gatten Sychaeus tötete. Sie findet Zuflucht in Libyen und gründet mittels einer List Karthago.2 Dort erhält sie aufgrund ihrer langen Irrfahrt ihren ›römischen‹ Namen Dido.3 Nachdem sich Karthago zu einem mächtigen Stadtstaat entwickelt hat, will der einheimische Fürst Iarbas Dido heiraten. Ihr Volk versucht, sie gegen ihren Willen und gegen den Schwur, ihrem toten Ehemann treu zu bleiben, zu dieser Ehe zu zwingen. Um dem aus ihrer Weigerung resultierenden machtpolitischen und moralischen Dilemma zu entgehen, errichtet Dido schließlich einen Scheiterhaufen und stürzt sich in die Flammen.
Wichtig für die Verbindung des Dido-Mythos mit der Geschichte des landlosen Trojaflüchtlings Aeneas, der an der libyschen Küste strandet und bei Dido Unterschlupf und die Aussicht auf eine neue Heimstatt findet, ist Vergils Aeneis (entstanden zwischen 29 und 19 v. Chr.). Vergil hat diese Verbindung aber nicht frei erfunden, denn bereits Gnaeus Naevius (ca. 269 – 195 v. Chr.) erzählt in seinem Epos über den ersten Punischen Krieg davon; auch die Annales des Quintus Ennius (ca. 239 – 169 v. Chr.) enthalten, wohl beeinflusst von Naevius, die Kombination des Dido-Mythos mit dem Bericht von der Flucht des Aeneas aus Troja.4
Vergils Darstellung der Liebesbeziehung zwischen Dido und Aeneas ist ein Paradebeispiel für eine von Intimität geprägte, leidenschaftliche (›passionierte‹) Liebe mit tragischem Ausgang – zumindest für Dido, die am Ende der Episode alles verloren hat: ihren Geliebten Aeneas, ihre politische Macht, ihre vorherige Existenz als selbstbestimmte weibliche Herrscherin und zuletzt ihr Leben. Didos Grundproblem ist in der Aeneis im Vergleich zur Mythos-Fassung der Geschichte drastisch verschärft: Nach dem Tod ihres Gatten Sychaeus und ihrer Flucht hatte sie geschworen, nie mehr einem Mann ihre Liebe zu schenken, und mit diesem Schwur hatte sie die Ablehnung aller Avancen der libyschen Fürsten begründet. In Vergils Ausgestaltung des Dido-Mythos hat sie dagegen erst durch ihre Liebesbeziehung mit Aeneas, durch die sie selbst ihren Schwur gebrochen hat, ihre Situation untragbar gemacht. Ihr Selbstmord ist hier nicht mehr lediglich ein Opfer für ihre Stadt Karthago und ihr Volk, er ist in erster Linie der tragische Liebestod einer verlassenen, unglücklichen und verzweifelnden Frau.
Der narrativ verhandelte Kern des Dido-Mythos besteht also im Versuch der Ausbalancierung von Didos Doppelrolle als Herrscherin und liebender Frau, der aber von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. In Vergils Version des Stoffes ist dieses Problem durch die Konzentration auf die Dido-Aeneas-Episode deutlich gesteigert und zudem um die Problematik der (Un‐)Verfügbarkeit passioniert-erfüllter Liebe ergänzt. Als weiterer Aspekt tritt bei Vergil nämlich die Frage hinzu, wie von der Liebe zwischen Dido und Aeneas erzählt werden kann, deren Höhepunkt die körperliche Vereinigung während eines von einem Gewitter unterbrochenen Jagdausflugs ist und deren Ende mit Didos als furor ausgewiesener Liebeskrankheit und ihrem daraus resultierenden Selbstmord ähnlich stark wie die Darstellung des Liebesvollzugs während der Jagd auf Fragen der Körperlichkeit ausgerichtet ist. Bei Vergil wird zwar von Didos verführerischer Schönheit berichtet – und das durchaus in erotisierter Weise (z. B. Aeneis I,494 – 506).5 Die passionierte, körperlich erfüllte Liebe an sich ist aber als unsagbar markiert: Die Liebesvereinigung in einer Höhle wird nicht auserzählt, sondern nur angedeutet (Aeneis IV,165 – 172), wodurch die Unsagbarkeit des Ereignisses gerade betont wird.
Damit ist ein Darstellungsmuster etabliert, das die Rezeption entscheidend beeinflusst hat. Das zeigt sich etwa in den beiden mittelalterlichen volkssprachigen Bearbeitungen der Aeneis, wenn der anonyme altfranzösische Roman d’Eneas (entstanden nach 1160) ebenfalls darauf verzichtet, das Beilager von Dido und Eneas zu schildern,6 und wenn Heinrich von Veldeke in seinem mittelhochdeutschen Eneas (entstanden zwischen 1170 und 1188) davon ausgehend die Liebesvereinigung mit Jagdmetaphorik verschleiert – zwar leicht zu decodieren, aber dennoch ebenfalls nicht ›explizit‹.7 Es geht aber auch hier – bei Vergil wie bei seinen mittelalterlichen Bearbeitern – nicht nur um die Liebe und das Reden über die Liebe, sondern ebenso sehr um das Verhältnis von herrscherlicher Verantwortung (›Politik‹) und persönlichem Glück (›Selbstverwirklichung‹) bzw. um die beiden als unvereinbar gekennzeichneten Seiten der Dido-Figur: Dido als Herrscherin und Dido als liebende Frau.8
Die Spannung zwischen diesen beiden Polen ist zentral für die antiken und vor allem die nachantiken Bearbeitungen des äußerst fruchtbaren Dido-Mythos (die annotierte Bibliographie von Thomas Kailuweit9 verzeichnet auf weit über 400 Seiten mehr als 1400 Rezeptionszeugnisse, ist aber nicht vollständig). Die mittelalterliche Rezeption, die die Geschichte einerseits produktiv narrativ aufgreift, andererseits als exemplarisch aufruft und entsprechend funktionalisiert, fußt dabei – neben Ovids siebtem Heroides-Brief – in der Regel auf Vergils Aeneis bzw. ab dem späten 12. Jahrhundert auf den beiden bereits erwähnten volkssprachigen mittelalterlichen Bearbeitungen von Vergils Aeneis: dem altfranzösischen Roman d’Eneas und dessen mittelhochdeutscher Übertragung durch Heinrich von Veldeke.
Was diese beiden Texte aus der Dido-Geschichte und ihren Problemkernen machen, wäre eine eigene Betrachtung wert.10 Hier soll aber ein bisher so gut wie gar nicht systematisch beachteter Bereich der Dido-Eneas-Rezeption im Mittelalter im Zentrum stehen: die mittelhochdeutsche Lyrik (mit einem einleitenden Seitenblick auf einige lateinische Strophen der Carmina Burana), die Dido und/oder Eneas immer wieder als Exempel- oder Vergleichsfiguren anführt.
Wir wollen nachzeichnen, wie das Exempel von Dido und Eneas als Ergebnis eines komplexen Transformationsprozesses11 in verschiedenen lyrischen Liebesdiskursen aufgenommen und funktionalisiert wird. Interessant sind dabei vor allem die diskursiven Interdependenzen, die auftreten, wenn das Phantasma einer alle Grenzen überschreitenden, auch körperlich erfüllten, intimen Liebe – wie es in der Geschichte von Dido und Eneas entworfen und zugleich als einerseits unsagbar, andererseits nicht dauerhaft verfügbar ausgewiesen wird – in lyrischer Brechung auf verschiedene andere Liebeskonzeptionen trifft.12 Unsere Leitfrage zielt darauf, was mit den antiken Figuren Dido und A...