Wechselseitige Erwartungslosigkeit?
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Wechselseitige Erwartungslosigkeit?

Die Kirchen und der Staat des Grundgesetzes – gestern, heute, morgen

  1. 410 Seiten
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Wechselseitige Erwartungslosigkeit?

Die Kirchen und der Staat des Grundgesetzes – gestern, heute, morgen

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Über dieses Buch

In der frühen Bundesrepublik erwarteten die Kirchen und der junge, noch unsichere Staat des Grundgesetzes viel voneinander und im kirchenfreundlichen Staatskirchenrecht dieser Zeit fanden diese wechselseitigen Unterstützungserwartungen jahrzehntelang eine verfassungsrechtliche Festschreibung.

Heute befinden wir uns jedoch in einem rasanten Umbauprozess zu einem 'neutralen' – manche meinen auch: indifferenten – Religionsverfassungsrecht, in dem sich Kirchen und Staat wechselseitig nicht mehr zu 'brauchen' scheinen. Und in der Tat kann man den Eindruck gewinnen, dass beide heute ganz gut und routiniert 'erwartungslos nebeneinanderher' leben können.

Von daher stellt sich die Frage, ob für die Zukunft des Verhältnisses von christlichen Kirchen und säkularem Staat von einem Zeitalter der wechselseitigen Erwartungslosigkeit auszugehen ist, oder ob man noch ernsthafte Erwartungen aneinander richtet. Und wenn dem so ist: wer 'braucht' dann eigentlich wen – und wozu?

Der Sammelband geht zurück auf eine interdisziplinäre Tagung an der Technischen Universität Darmstadt aus Anlass des 40-jährigen Bestehens des dortigen Instituts für Theologie und Sozialethik.

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Information

I Theologisches Fremdeln oder Überschwang vermeintlicher Gemeinsamkeiten? Evangelische und katholische Kirche vor dem Grundgesetz – in der Zeit der frühen Bundesrepublik

„…daß es nicht gelungen ist, dem Grundgesetz eine tiefere religiöse Begründung zu geben“

Die Konfessionen und die Entstehung des Grundgesetzes
Christof Dipper
TU Darmstadt Inst. f. Geschichte 15, Dolivostraße 64293 Darmstadt Germany
1945 waren die Mägen leer, die Gotteshäuser voll und die Kirchen die einzigen Organisationen, die die Alliierten unangetastet ließen. Hatten auch Post und Bahn zunächst den Betrieb eingestellt, erhielten die Oberhirten privilegierten Zugang zu Lebensmittelkarten, Autos, Benzin, bekamen rasch Passierscheine und hatten hinreichend Bewegungsfreiheit, sodass sie schon wenige Monate nach Kriegsende an unzerstörten Orten Treffen abhalten konnten, zu denen Vertreter aus allen vier Besatzungszonen anreisten.1 Macht besaßen die beiden Kirchen nicht, aber Einfluss – und ihr Prestige befand sich auf einem in neueren Zeiten einmaligen Höhepunkt. Besatzungsoffiziere fragten sie nach vertrauenswürdigen Personen für politische Funktionen, in seltenen Fällen übernahmen sie diese selbst, sie waren bevorzugte Ansprechpartner ausländischer Hilfsorganisationen und begannen mit dem (Wieder‐)Aufbau von Hilfswerken. Ihr religiöses Weltbild erlaubte ihnen problemlos, die Trauer über die gegenwärtige Katastrophe mit Hoffnung für die Zukunft zu verbinden, ja es war in ihren Augen Gottes Wille, die Deutschen für ihre Sünden so zu strafen, dass sie nach getaner Buße bereit sein würden, mit Hilfe der Geistlichen einer lichtvollen Zukunft entgegenzugehen. Verchristlichung des Lebens, im Idealfall unterstützt durch einen christlichen Staat, lautete die bis 1949 immer wieder zu hörende Losung.
Solche Hoffnungen haben sich nicht bestätigt. Die hauptsächlichen Gründe dafür werden in diesem Beitrag zusammengestellt. Es sind im Wesentlichen drei: das Verhältnis zur Welt, die daraus abgeleitete Programmatik und die Fähigkeit zur politischen Einflussnahme.
Zum Stand der Forschung nur wenige, den Kenner nicht überraschende Worte. Da dieser Beitrag im Schnittpunkt von Theologie-, Kirchen- und allgemeiner Geschichte angesiedelt ist, dürfte es nur ganz wenige Namen geben, die auf allen drei Feldern zuhause sind bzw. waren. Genannt seien von theologischer Seite nur die bereits verstorbenen zeitgeschichtlich arbeitenden Kurt Nowak und Martin Greschat, während von allgemeinhistorischer Seite wegen ihrer wegweisenden religionsgeschichtlichen Beiträge die Namen von Lucian Hölscher und Thomas Großbölting fallen müssen. Religionsgeschichte wird in diesem Beitrag jedoch nur gestreift. Werden in der Forschung schon die disziplinären Grenzen nur selten überschritten, so gilt das noch viel mehr von den konfessionellen,2 denn hieran wirken auch institutionelle Grenzen, insbesondere natürlich Fakultäten, mit. Zu den Folgen zählen die oft problematische Qualität dieser Disziplin und ihr Nischendasein im Rahmen der Geschichtswissenschaft insgesamt. Die breite Akzeptanz des Säkularisierungsparadigmas ist ein klares Signal, obwohl seine verbreitete Trivialversion wenig Erklärungskraft besitzt.3 Das ändert natürlich nichts daran, dass es für wahr gehalten wird – damals deutlich mehr als in der Gegenwart – und folglich eine wesentliche Rolle für das christliche Weltverständnis spielt(e). Dazu nachfolgend einige wenige Belege.

1 ‚Säkularismus‘: Die Klage über die Welt

Dass man 1945 als Deutscher die Zeitumstände beklagte, ist kein Wunder. Die Kirchen jedoch, aber nicht nur sie, beklagten sie freilich schon seit Längerem. Auch wenn das christliche Weltbild seit jeher den Aufenthaltsort im Diesseits als ‚irdisches Jammertal‘ bezeichnete, so gab es doch, jedenfalls im Rückblick, durchaus Zeiten, in denen sich die Welt innerhalb der durch die Erbsünde gezogenen Grenzen mit Gottes Geboten im Einklang befand. Die Scholastik hatte dafür das Denkmuster zweier im Idealverhältnis zueinander stehender Organisationen entwickelt: Staat und Kirche waren als Gottes Schöpfung jeweils eine societas perfecta, mochten die in ihnen aufgehobenen Menschen auch nicht immer den göttlichen Willen vollziehen. Es herrschte, mit Rudolf Smend zu sprechen, in früheren Zeiten „eine gewisse Problemlosigkeit des Verhältnisses von Staat und Kirche“4. Diese war mit dem Großereignis ‚Revolution‘, dem politisch-sozialen Sündenfall par excellence, schlagartig zu Ende.5 Der Katholizismus hat seine zu Anfang des 19. Jahrhunderts erzwungene Trennung vom Staat, der darum keine societas perfecta mehr sein konnte, vergleichsweise besser verarbeitet. Ihm half dabei eine längst entwickelte Gesellschaftslehre auf der Grundlage eines geoffenbarten und vernünftigen, den Menschen einsichtigen Naturrechts, das den nötigen Halt zu geben vermochte. Die gleichsam allein übrig gebliebene societas perfecta Kirche mit ihrem von der Hierarchie approbierten Lehrgebäude vertrat nun als einzige Instanz das nicht durch Menschenwerk verunstaltete Diesseits und vermittelte damit der Welt immer noch einen Restbestand göttlicher Schöpfungsordnung, in der man sich als Katholik aufgehoben fühlen konnte. Klagen über ‚Säkularismus‘ begegnet man daher im Katholizismus viel weniger – nicht weil er die Gegenwart mit Wohlgefallen betrachtet, sondern weil er sich den Folgen der ‚Revolution‘ nicht völlig ausgeliefert weiß.
Vergleichbares war dem Protestantismus fremd. Seine Kirche ist ihm, geschichtlich gesehen, ebenso ein ‚weltlich Ding‘ wie der Staat, sie vermochte ihm daher solche letzten Sicherheiten nicht anzubieten, sondern verfügte in ihrer Staatsfrömmigkeit über vergleichsweise wenig Instrumente, um dem Übel zu wehren. „Daß sich seit 200 Jahren das Leben und Denken der Menschheit in zunehmendem Maße verweltlicht hat, ist eine Tatsache, die klar vor unseren Augen steht. Dieser Prozeß der Verweltlichung oder, wie wir mit einem Fremdwort zu sagen pflegen: der Säkularisierung, hat sich in keinem anderen Lande so gründlich vollzogen wie in Deutschland“, sagte Bischof Dibelius auf dem Berliner Kirchentag 1947.6 Sein Amtsbruder Wurm hatte schon gleich 1945 in Treysa dem Katholizismus recht gegeben, der seit dem 19. Jahrhundert die „Staatsgläubigkeit“ der Protestanten zu kritisieren pflegte, „in der das orthodoxeste Luthertum und der extremste Liberalismus übereinstimmten“. Aus ihr sei „der Säkularisationsprozeß hervorgegangen […] , der im Dritten Reich seinen Höhepunkt erreichte“.7 Auch ohne Jahreszahl war klar, was der Herausgeber des Kirchlichen Jahrbuchs, Johannes Beckmann, meinte, wenn er in seiner ‚Ortsbestimmung der Gegenwart‘ von den „Widerfahrnissen der letzten Jahrhunderte“ sprach, „die die ungeheure Bedrohung des Menschen durch die Programme und Ideen des Menschen [haben] ans Licht treten lassen“. Beckmann schrieb dies 1950, als die „Programme und Ideen der Menschen“ seiner Ansicht nach einen weiteren Tiefpunkt erreicht hatten, nämlich die „Atom- und Wasserstoffbombe“.8 Er war beileibe nicht der einzige, der eine direkte Linie von der Revolution zur Gegenwart zog. Sein Vorvorgänger im Amt des Vorsitzenden des Bruderrates der EKD, Hans Asmussen, hatte bereits 1945 festgestellt: „Der Geist der Guillotine ist kein besserer Geist als der von Potsdam.“9
Es fällt auf, dass sämtliche hier zitierten Protestanten zum Führungspersonal der Bekennenden Kirche zählten, die bis heute wegen ihrer Verweigerungshaltung gegenüber der nationalsozialistischen Kirchenpolitik zu Recht einen denkbar guten Ruf hat. Daraus aber irgendwelche Nähe zur Demokratie, ja zur Moderne überhaupt abzuleiten, verkennt ihre leitende Idee. Die Mehrheit ihrer Mitglieder bezog im Gegenteil ihre Widerstandskraft aus einer expliziten, ihr von der dialektischen Theologie und dann von Bonhoeffer eingeschärften Weltferne,10 deren Fehlen sie der liberalen Theologie, wie sie seit dem späten 19. Jahrhundert in Deutschland tonangebend war, vorwarf.11 Entsprechend weltfern fiel auch ihr Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit aus. Denn wenn Säkularisierung ein seit der Revolution die Welt regierender Basisprozess ist, bedarf es außerirdischer Kräfte, sich ihm mit Erfolg in den Weg zu stellen. Individuell mag das immer wieder mit Gottes Hilfe gelungen sein, geschichtlich jedenfalls nicht.12 Das ‚Dritte Reich‘ ist dann nur eine weitere Station des Abfalls von Gott, damit „vergangenheitspolitisch entsorgt und für das christliche Selbstverständnis theologisch instrumentalisiert“13. Nicht ‚Programme und Ideen der Menschen‘ ermöglichen also eine bessere Zukunft, sondern Rückkehr zu Gott, d. h. Hoffen auf ein direktes Eingreifen Gottes. Politisch gewendet konnte das den christlichen Staat bedeuten, auch wenn Bonhoeffer vor „Verchristlichung oder Verkirchlichung der weltlichen Ordnungen“14 gewarnt hatte.

2 Die Illusion der Rechristianisierung

Nicht nur 1945 waren die Kirchen voll, sie blieben es auch noch weitere ein bis zwei Jahre. Das hatte mannigfache Gründe, etliche darunter ohne engeren Bezug zum Glauben. Viele Kirchen waren zerstört, also wurde es in den intakten enger. In diesen kamen oft Ausgebombte und Flüchtlinge unter, gab es Essen, Kleidung und Wärme, da blieb man natürlich während des Gottesdienstes. Millionen Flüchtlinge und Vertriebene verdichteten in der amerikanischen, britischen und russischen Besatzungszone die Bevölkerung erheblich, sie fanden in den Kirchengemeinden oft die ersten Ansprechpartner. Zu Schutz und Geborgenheit kamen noch andere, eher fragwürdige Motive. Durch kirchliche Empfehlung bekam man direkt nach Kriegsende am ehesten eine Stelle, sodass beim Kirchgang vielfach Opportunismus im Spiel war. Mehr noch: Von Anfang an bot namentlich die evangelische Kirche Nationalsozialisten Hilfe bei der Verfolgung durch die Besatzungsmächte an. In Stuttgart zeigten sich bereits im Sommer 1945 amerikanische Stellen konsterniert über die zahlreichen Eingaben kirchlicher Stellen zugunsten ehemaliger Parteigenossen. Der Vertrauensmann des Rottenburger Generalvikars bemerkte, dass namentlich Bischof Wurm durch unkluges Verhalten auch die katholische Kirche in Schwierigkeiten bringe; der von ihm geprägte „Begriff des ‚gut-christlichen Nazi‘ als einer harmlosen Spezies von Nationalsozialisten“ werde „von den Amerikanern als grotesk empfunden“.15 Offen deutschnationale Gesinnung selbst seitens Angehöriger der Bekennenden Kirche erleichterte geschickte Tarnung und half vielen, die quasi über Nacht die Seite gewechselt hatten. Hans Joachim Iwand,16 Hauptautor des Darmstädter Worts, begründete die Dringlichkeit für diese scharfe Selbstanklage mit der Gefahr, „daß die evangelische Kirche zum ‚Rückzugsgebiet‘ für den nur verdrängten, keineswegs aber überwundenen Nationalsozialismus werden würde“; dies komme gerade in den überfüllten Kirchen zum Ausdruck.17
Dass Not beten lehrt, gehört zu den anthropologischen Konstanten und galt natürlich auch damals.18 Aber nicht erst seit 1945, sondern schon seit Stalingrad fand „eine messbare Revitalisierung des Religiösen“ statt, die von den NS-Instanzen durchaus...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Vorwort
  5. I Theologisches Fremdeln oder Überschwang vermeintlicher Gemeinsamkeiten? Evangelische und katholische Kirche vor dem Grundgesetz – in der Zeit der frühen Bundesrepublik
  6. II Zwischen Distanz, Akzeptanz und Über-Legitimation Selbstverständigungsbemühungen der christlichen Kirchen in der Bonner und der Berliner Republik
  7. III Einweisung in die Indifferenz? Religionsverfassungsrecht und Religionspolitik in nachchristentümlicher Zeit
  8. IV Die Kirchen und der säkulare Staat Ausblicke zu einem spannungsreichen Verhältnis
  9. Personenregister
  10. Liste der Beitragenden