1.1David und Goliath oder die Last der Tradition
David und Goliath
Diesen Riesen zu tödten, war leicht für den muthigen Hirten,
Welcher, im Schleudern geschickt, sicher versandte den Stein.
Schwerer fand er es schon, den Todten des Haupts zu berauben,
Doch es gelang ihm zuletzt durch den verdoppelten Streich.
Aber dem Letzten erliegt er, er soll es dem König ja bringen,
Und nun schleppt er sich todt an der gewaltigen Last. (W 6, S. 451)
Drei formal meisterhaft gebildete Distichen merkwürdigen Inhalts: Die biblische Erzählung von David, der als kleiner Junge den Riesen Goliath erschlägt und enthauptet,1 wird hier bewusst verkehrt. Zwar verändert sich der Ausgang jenes blutigen Zweikampfs nicht, allerdings wird die Geschichte um einen Epilog ergänzt: Letztendlich erliegt der Sieger doch dem Besiegten. Die Last des Toten war so übermäßig, dass der Versuch der Überwindung für den noch Lebenden selbst tödlich endet. Von dem Glauben an Gott aber, der dem jungen Helden der biblischen Erzählung zufolge seine Kraft verleiht, keine Spur. Triumphiert hat nicht David oder der hinter ihm stehenden Gott, sondern das tote Haupt des Riesen Goliath mit seiner irdisch-materiellen Schwere.
Entstanden ist das kleine Gedicht Friedrich Hebbels am 23. Juni 1858 auf dessen Reise nach Weimar, und inspiriert ist es durch einen Besuch der Königlichen Gemäldegalerie in Dresden am Tag zuvor. Es seien ihm „ein Paar Epigramme“ gelungen, so meldet er seiner Frau nach der Ankunft in Weimar, „zu denen die Dreesd’ner Gallerie mich angeregt hatte. Eins auf Goliath und David ist nicht übel.“2 Auf welches Bild das Gedicht sich bezieht, lässt sich allerdings nicht näher identifizieren: Nicht zuletzt deshalb, weil es keine getreue Bildbeschreibung, sondern eine radikale Umkehrung der ikonographischen Tradition darstellt.
Die historische Überlieferung des biblischen Stoffs wird im Lexikon für christliche Ikonographie folgendermaßen beschrieben:
Im Westen D.[d.i. David, M.M.] in MA [d.i. Mittelalter, M.M.] u. Neuzeit in den Jugendszenen als Hirte u. ländlich gekleideter Jüngling wiedergegeben. Attribute des jugendl. D. sind Hirtenstab, Schleuder, Schwert u. Goliathhaupt in Erinnernung an den Kampf mit Goliath. […] D. als Besieger Goliaths, D. in triumphierender Gebärde nach dem Kampf, ab 14. Jh. häufig in der it., später auch dt. u. niederl. Kunst, in der einen Hand das Schwert, in der andern das Haupt Goliaths […]. Des öfteren das Haupt Goliaths zu Füßen D.s […], seltener das Haupt Goliaths auf den Schultern tragend […]; D., den Stein schleudernd […].3
In der bildenden Kunst überwiegt die Darstellung Davids mit triumphierenden Gebärden und Attributen, die auf seinen Sieg hinweisen. Letzterer wird aufgrund struktureller Parallelität in der Bibelexegese nicht selten als alttestamentliche Vorwegnahme von des Sieges Christi über den Teufel gedeutet. Auch in der florentinischen Renaissance, in der die biblischen Figuren durch künstliche Neugestaltung eine Verselbstständigung von der Glaubenskonnotation erfahren haben, wird der Triumph Davids in einem säkularisierten Kontext festgeschrieben: Die Marmorstatue Michelangelos verwandelt den siegreichen Hirtenjüngling in die Inkarnation einer wehrhaften Republik und damit Träger der Freiheits- und republikanischen Ideen.4
In zweifacher Weise zeichnet sich die Hebbelsche Umschreibung aus: einerseits inhaltlich durch einen pointiert-persiflierenden Umgang mit dem traditionellen Sinngehalt, andererseits formal durch eine komplexe metrisch-syntaktische Struktur. Die Depotenzierung des biblisch vorkodierten Protagonisten ist unter anderem daran abzulesen, dass es sich bei allen vier Personalpronomen „er“, das auf den heilsgeschichtlichen Helden verweist, um metrisch unbetonte Silben handelt. Sodann vollzieht sich eine triadische Steigerung, an deren Ende die unüberwindliche, metrisch akzentuierte „Last“ steht, welche die abschließende Klimax bildet. Weder der Riese noch der Jüngling, sondern die irdisch-reale Schwere trägt den eigentlichen Sieg davon. Es sei, so argumentiert die wohl einzige Interpretation bisher, eine Verwandlung des heroischen Mythos in Absurdität, die von Hebbels Vorliebe fürs Groteske und Paradoxe herrühre.5 Ferner wird diese Auslegung dadurch zeitgenössisch aktualisiert und konkretisiert, dass der tote Körper des erlegten Riesen als Symbol vermeintlich bereits beseitigter politischer Regime interpretiert wird, an denen sich die moderne Gesellschaft noch lange nicht abgearbeitet habe: Kolonialismus, Tyrannei und Gewaltherrschaft. 6 Schließlich stelle Goliath der biblischen Vorlage gemäß doch eine existenzbedrohliche kriegerische Invasion für das israelische Volk dar.
Dennoch bedarf das Hebbelsche Epigramm keiner zusätzlichen Kontextualisierung, da es durch seine Entstehungsumstände und seinen Publikationsort ausgewiesen und mit einem ganz konkreten Erwartungshorizont versehen wird, der für den Leser ausschlaggebend ist. Gedruckt ist das Gedicht in einer Festgabe zum hundertsten Jubiläum Friedrich Schillers, nämlich im Schiller-Album der Allgemeinen deutschen National-Lotterie zum Besten der Schiller- und Tiedge-Stiftungen, das allerdings erst 1861 erschien.7 „Mit Freude“ sei er dazu bereit, der Anfrage des Herausgebers im August 1858 entgegenzukommen und Beiträge für das beabsichtigte Album zu liefern.8 Das beigelegte kleine Gedicht wurde dann neben zahlreichen künstlerisch weniger anspruchsvollen Schiller-Würdigungen alphabetisch angeordnet in das Album aufgenommen.
Es handelt sich hier um eine zwar nachträgliche, jedoch auktorial intendierte Rezeptionssteuerung. Angesichts des durch die Drucklegung implizierten Zusammenhangs zwischen dem Text und dem gegebenen Anlass der Schiller-Feier, der durch das dem Album vorangestellte Schiller-Porträt noch betont wird, kann der Leser schlichtweg nicht umhin, das Epigramm als Bezugnahme auf Schiller zu lesen. Dadurch aber gewinnt das Gedicht eine neue Sinnschicht. Es kann, ja es muss als ein bekenntnishafte Aussage Hebbels über sein Verhältnis zu Schiller gedeutet werden. Folglich erscheint Gedicht als eine Glorifizierung weniger des Siegers als vielmehr des vermeintlich Besiegten, dessen schwerwiegende Existenz den Tod überdauert und schlussendlich die Anmaßung seines Bezwingers nivelliert. Die rhetorische Klimaxbildung gipfelt in der absoluten Ohnmacht des armen Siegers, und die Verheißung einer anerkennungsvollen Zukunft beim König muss ausbleiben, da das Überwundene letztendlich als das Unüberwindbare die Oberhand behält. Insofern hat Karl Debrois van Bruyck, dem Hebbel brieflich dieses Epigramm mitteilte, durchaus recht, wenn er darin „eine neue Art von Superlativ“ veranschaulicht sah.9 Durch die Ausblendung des biblischen Glaubensinhalts und die Umkehrung der bestehenden Machtverhältnisse ermöglicht das Gedicht eine unkonventionelle Ehrerbietung, die dem Veröffentlichungskontext entsprechend nicht dem pharisäischen Riesen gilt, sondern dem titanenhaften Dichter Schiller – und vor allem dem, was über dessen irdisches Ende hinaus noch als „Last“ wirkt: seinem Werk.
Die erdrückende Schwere des toten Riesen ist also, überspitzt formuliert, das gewaltige Werk des verewigten Dichters, dessen Ungeheuerlichkeit zwar bedingungslose Achtung verlangt, in seiner Wirkung jedoch zweideutig ist. Dem Nachgeborenen erscheint das Werk als Aufgabe und Gefährdung zugleich. Die Konvergenz der Bewunderung und Erniedrigung erfährt, um hier ein Beispiel zu nennen, Friedrich Hölderlin Schiller gegenüber am eigenen Leibe. Gerade weil ihm, dessen Stil zunächst noch die Einflüsse Schillers verrät,10 die Anhänglichkeit an Schiller „heilig“ und absolut ist,11 wirkt sie sich desto destruktiver auf das eigene Selbst aus:
[U]nd weil ich fühle, wie viel ein Wort von Ihnen über mich entscheidet, such ich manchmal, Sie zu vergessen, um während einer Arbeit nicht ängstig zu werden. Denn ich bin gewiß, daß gerade diese Ängstigkeit und Befangenheit der Tod der Kunst ist, und begreife deswegen sehr gut, warum es schwerer ist, die Natur zur rechten Äußerung zu bringen, in einer Periode, wo schon Meisterwerke nah um einen liegen, als in einer andern, wo der Künstler fast allein ist mit der lebendigen Welt.12
So schrieb Hölderlin am 20. Juni 1797 an Schiller, als er diesem den ersten Band seines Hyperion zusandte. In vollem Umfang erkennt Hölderlin das Dilemma der dichterischen Nachkommenschaft: Die mit Sehnsucht gesuchte Nähe zum Meister und seinen Werken wird überschattet durch eine existentielle Angst vor der Übermacht derselben, weil „gewaltiger und verständlicher, als die Natur, aber ebendeswegen auch unterjochender und positiver der reife Genius der Meister auf den jüngern Künstler wirkt.“13 Es ist, wie Eberhard Lämmert mit recht konstatiert, die „Macht der Vorbildlichen“, die die originelle Entfaltung des eigenen Potentials eher hemmt denn fördert. 14
Dieses spezifische Spannungsverhältnis zwischen Dichtergenerationen lässt sich anhand Harold Blooms einleuchtender Theorie der Einflussangst profilieren. Bloom identifiziert in der abendländischen Dichtungstradition das eigentümliche Phänomen der Angst vor dem „schrecklichen Glanz des kulturellen Erbes“, unter dem die nachgeborenen Dichter ungeheuerlich leiden.15 Der Einfluss sei ein gefährliches Geben, „das den Nehmenden auszehrt.“16 Pathogenetisch betrachtet kann diese Furcht um die eigene Originalität die Schattenseite des Genie-Kults aufgefasst werden,17 die sich in der selbsteingebildeten Verzweiflung der Epheben manifestiert: anfangen zu müssen, ohne jedoch anfangen zu können. Zwar wird der in jeder Schaffensperiode gleichermaßen evidenten Einflussangst einen existentiellen Stellenwert zugeschrieben, aber diese Angst an sich stellt Bloom zufolge die eigentliche Inspirationsquelle der Poesie dar: „Ein Gedicht ist nicht die Überwindung der Angst, sondern ist diese Angst. […] Dichtung ist die Einflußangst, ist Fehlverstehen, ist disziplinierte Perversität.“18
Das Hebbelsche Epigramm kann durchaus als eine Artikulation dieser Furcht vor der „gewaltigen Last“ der übermächtigen Einflussnahme gelesen werden. Das Erbe der Dichtungstradition sei „zu nah, um aufgegeben zu werden“, konstatiert Fritz Martini. Es verwandle sich zugleich zu „Verpflichtungen und Hemmungen“.19 Der Ausdruck der eigenen Nichtigkeit gegenüber großen Vorbildern ist darüber hinaus symptomatisch für die nachklassische deutsche Literatur, die sich stets als „Epigonen“ bezeichnet hat. An Verbreitung gewann dieser Begriff vor allem durch Karl Immermanns gleichnamigen Roman, der „den Segen und Unsegen des Nachgeborenseyns“ behandelt.20 „Unser ist das Los der Epigonen, / Die im weiten Zwischenreiche wohnen“, klagt auch Gottfried Keller.21 Ursprünglich ein wertneutraler Begriff für Nachkommenschaft, wurde das Epigonentum im Laufe des 19.Jahrhunderts pejorativ besetzt und diente der Selbstdiagnostik der eigenen Minderwertigkeit.22 Schon Immermann wollte mit seinem Roman das „eigenthümlich[e] Siechthum“ in einer Zeit, die „an einem gewißen geistigen Überfluße“...