1. Juni
Die Silhouette hatte sich mir eingeprägt, und selbst wenn ich die Hoffnung und die Lust verloren hatte, den jungen Mann wiederzufinden, schoss mir doch ein Schweissausbruch in den Nacken und ein anderer in die Kreuzgegend, als ich ihn in meiner Blickachse erkannte. Ich fuhr langsamer. Er lebte also weiter, nahm weiterhin seine Mahlzeiten ein, ging weiterhin spazieren, traf sich mit jungen Frauen, hörte Musik, ging durch die Stadt, als wäre nichts geschehen. Der junge Mann war allein, er wartete an einem Fussgängerstreifen, dass die Ampel auf grün schaltete. Ich habe abgebremst und auf seiner Höhe angehalten. Ich habe mein Wagenfenster hinuntergekurbelt, als ob ich ihn um eine Auskunft bitten möchte. Er hat sich zu mir heruntergebeugt. Eine Sekunde lang glaubte ich, er würde mich wiedererkennen. Mit der gleichen Stimme, die er im Supermarkt gehabt hatte, etwas beschwingter vielleicht, sagte der junge Mann: Kann ich Ihnen helfen? Ich habe ihm bedeutet, ich höre schlecht. Wie gewünscht, steckte der junge Mann den Kopf ins Wageninnere und wiederholte, immer noch lächelnd, seine Frage. Eine sympathische Miene aufsetzen und ihn dann am Kragen packen und zu mir heranziehen. Ihn schön direkt im Auge haben, schön gegenüber, schön im Griff, ein paar wenige Zentimeter von mir weg, und ihm aus vollen Kräften feucht in die Schnauze belfern: Arschloch. Der junge Mann hätte sich heftig losgerissen, wäre mit dem Kopf gegen die Wagentür geprallt, in einem dumpfen, starken Knall. Blut wäre hinausgespritzt. Mit einem einzigen, blutigen Wort, einem Wort, das gleich in der ersten Sekunde hätte kommen müssen, wäre alles wieder an seinen Platz gerückt. Ich hätte ihm nachgeschaut, hätte ihn weggehen sehen, verstört, Rotes auf dem Gesicht, auf den Kleidern, taumelnd, ein aufgeplatzter Augenbrauenbogen, Besseres vielleicht. Der junge Mann hätte sich mulmig gefühlt in seiner Haut, meine Stimme in ihn eingeätzt. Ich wäre losgeprescht wie ein Held aus der Krimiserie, mit diesem wohltuenden Arschloch, das im Wagengehäuse geträllert, auf den Sitzen herumgetanzt hätte, und der andere wäre zu Boden gestürzt, darniederliegend, unrühmlich ungeniert, so hätte ich ihn zum letzten Mal in meinem Rückspiegel gesehen.
Die Stimme war wieder da, liebevoll: Kann ich Ihnen helfen? Ich habe den jungen Mann angeschaut, seine blendende Weisse, sein freundschaftlich auf mich gerichteter Blick, seine schwarzen Haarsträhnen, seine Augen, die grau waren wie der See vor einem Gewitter, seine schmalen Handgelenke, seine schlanke Gestalt. Doch vor allem hörte ich den Klang seiner Stimme, eine schöne Stimme, ehrlich gesagt, eine sinnliche Stimme, die weiterhin fragte, ob sie mir helfen könne, diese Stimme, die man nur lieben konnte, wie Yannis das Lächeln seines Clochards nur lieben konnte. Ich erkannte diese Stimme, sie war mir vertraut, sie ähnelte zum Verwechseln der Stimme meines Sohnes, die Stimme dieses jungen Mannes verschmolz mit der Stimme von Gustave, dasselbe Timbre, derselbe Atem. Ich habe dem jungen Mann gedankt, habe ihm zugelächelt, ich habe es geschafft, ihm zu sagen, ich hätte mich geirrt, vollkommen geirrt, doch ich sei froh. Er hat gelacht und sich wieder auf den Weg gemacht. Ich habe ihm nachgeschaut, wie er die Strasse überquerte, seine grazile Gestalt, sein prinzlicher Gang. Ich hoffte, er würde sich umdrehen. Er hat sich umgedreht und mir zugewinkt.
1 Emil Michel Cioran (1911 – 1995), rumänischer Schriftsteller und Philosoph, lebte ab 1937 in Paris: Aveux et anathèmes
2 Mario Trejo (1926 – 2012), argentinischer Poet und Dramatiker
3 Joseph Joubert (1754-1824), fanzösischer Moralist, u.a. Sekretär von Diderot
4 Berthold Brecht (1898 – 1956), deutscher Dramatiker und Lyriker
5 Rémy de Gourmont (1858 – 1915), französischer Schriftsteller und Journalist
6 Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865), französischer Ökonom und Soziologe
7 Joseph de Maistre (1753 – 1821), französischer Staatsmann, Schriftsteller und Philosoph
8 Emil Michel Cioran (1957-1972), rumänischer Philosoph und Aphoristiker: Carnets 1957–1972
9 Fernando Pessoa (1888 – 1935), portugiesischer Dichter und Schrifsteller: Erostrate
10 Shakespeare (1564 – 1616), englischer Dramatiker, Lyriker und Schauspieler: Hamlet
11 Aischylos (525 v. Chr. – 465 v. Chr.), Dichter der griechischen Tragödie: Agamemmnon
12 Gustave Flaubert, (1821 – 1880), französischer Romancier: Lettre à Louise Colet
13 Primo Levi (1919 – 1987), italienischer Schriftsteller und Holocaust-Überlebender: Si c’est un homme
14 Die Wortspiele, mit der sich der Erzähler an dieser Stelle über seine weniger »gebildeten« Mitmenschen lustig zu machen beliebt, wären ihm im Deutschen um einiges schwerer gefallen. Wie die in Klammer hinzugefügte Übersetzung deutlich macht, sind die Verwechslungsmöglichkeiten aufgrund einer teilweisen Homophonie (wie bei cahoteux und chaotique) oder aufgrund der diskreten Variante eines Lehnworts aus dem Lateinischen (immutabilité und immuabilité), wie auch aufgrund der wenig üblichen Bildung eines Adjektivs oder eines Substantivs im Deutschen viel weniger gegeben, vor allem deshalb, weil die meisten Lehnwörter für den gängigen Sprachgebrauch ins Deutsche übersetzt worden sind. Nur in der Fachterminologie haben sich die Lehnwörter erhalten.
Damit werden die Begriffe im Deutschen für jedermann unmittelbar, konkret verständlich – demokratisiert könnte man sagen! Das Französische, als eine lateinische, aber auch höfische Sprache verrät hier ein geschichtlich gewachsenes Potenzial der Herrschaftsausübung durch das Vokabular, für das es im Deutschen keine derart in den Begriffen selbst verankerte Parallele gibt. Entsprechend wird die Übersetzung dem deutschsprachigen Leser diese Erfahrung also nicht adäquat vermitteln können. Daher auch die Entscheidung, die französischen Begriffe beizubehalten und ihnen nur eine wörtliche Übersetzung hinzuzufügen. (Anm. d. Übers.)
15 Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), deutscher klassischer Philologe: Menschlich Allzumenschliches – Ein Buch für freie Geister
16 Flaubert (1821 – 1880), französischer Schriftsteller: Briefe an Louise Colet
17 Raoul Vaneigem (*1934), belgischer Autor und Kulturphilosoph
Der Autor
Michel Layaz, geboren 1963 in Fribourg, lebt in Lausanne und Paris. Seit 1993 hat er in regelmässiger Folge Romane und Erzählungen veröffentlicht. Darunter Les larmes de ma mère (2003), der mit dem Prix Dentan ausgezeichnet wurde, Cher Boniface (2009), Les deux soeurs (2011), Le Tapis de course (2013) und 2016 Louis Soutter, probablement, alle bei Editions Zoé erschienen. Er gilt als einer der wichtigsten Westschweizer Autoren seiner Generation. 2014 erschien Die fröhliche Moritat von der Bleibe (La joyeuse complainte de l’idiot), übersetzt von Yla M. von Dach. Auf dem Laufband ist der zweite Roman im verlag die brotsuppe.
Die Übersetzerin
Yla M. von Dach lebt als freischaffende Autorin, journalistische und literarische Übersetzerin in Biel und Paris. Sie hat zahlreiche Westschweizer Autorinnen und Autoren (u.a. Nicolas Bouvier, Sylviane Chatelain, François Debluë, Marie-Claire Dewarrat, Sandrine Fabbri, Henri Roorda, Alexandre Voisard) sowie Lyrik und dramatische Texte übersetzt. Für ihre Übersetzung Melken mit Stil von Jean-Pierre Rochat erhielt sie 2016 den Terra-Nova Schillerpreis für literarische Übersetzung. Eigene Veröffentlichungen: Geschichten vom Fräulein, Niemands Tage-Buch (Prosa), PhiloZoo (Verse).
Michel Layaz
Die fröhliche Moritat von der Bleibe
Roman
übersetzt von
Yla M. von Dach
128 Seiten, gebunden
CHF 25 /
ISBN 978-3-905689-51-8
www.diebrotsuppe.ch