Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging
eBook - ePub

Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging

Roman

  1. 344 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging

Roman

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Erster Akt der Revolte: sich den Anfang aneignen, die eigene Geburt. Wie? Lassen Sie sich überraschen! Zweiter Akt der Revolte: sich die Sprache aneignen, als was? Als Waffe gegen eine Welt von Egozentrikern, die ihre Kinder verwahrlosen lassen und die Bande der ach so heilen Familie nur umso enger um die Kehlen ihrer Sprösslinge knüpfen, als dass, "unter uns", nichts, aber nun auch wirklich nichts, "weiter schlimm" ist. Und so darf es quellen und gären und aufkeimen im Morast einer monströs normalen Familie: das uralte Grauen, das Ovid schon besang, als er in seinen "Metamorphosen" Philomena gegen ihren Peiniger ausschreien ließ: "wenn nicht mit meiner Unschuld alles vor die Hunde ging!", bevor dieser sie ihrer Zunge entledigt - Kimberley, einst Titelheldin eines Songs von Patti Smith, hier nun wutentbrannte Stimme einer Heranwachsenden, die einen Spiegel vor unsere Augen schleudert, dessen Kristallsplitter Baudelaire, Hugo, Rimbaud, Verlaine aufblitzen lassen, diese Kimberley, sie wird zur Kronzeugin einer Kraft, die gegen alle Wucht des Schicksals mit der Sprache in der Hand sich ihre eigene Identität schöpfen wird: Und wenn die fragilste Stelle des Menschen seine sexuelle Identität ist, so ist dieser grandios zornige Roman ein überwältigender Aufschrei des Lebens, der auch dort widerhallt, wo der Abgrund der "unerträglichen Grausamkeit des Seins" aufklafft. Zum Beispiel: im von Geburt an gespaltenen Gesicht der Mutter, Vorsicht, die Oberfläche der Körper! All ihre Narben!

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging von Emmanuelle Bayamack-Tam, Christian Ruzicska, Paul Sourzac im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literatur & Literatur Allgemein. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2014
ISBN
9783905951349

1. BANG BANG

Als meine Großmutter versucht, die Schenkel wieder zu schließen, hindert die Hebamme sie daran und beginnt unverzüglich, ihren schmerzenden Damm abzureiben. Meine Großmutter täte gut daran, den Grund dieser Brutalität zu hinterfragen, aber da sie stets ein Händchen dafür hatte, die Gunst des Augenblicks zu nutzen, gönnt sie sich die Entspannung, die ihr die wiedergewonnene Ruhe ihrer Eingeweide und das rasche Entschwinden ihres Neugeborenen gewähren. Sie lässt gedankenverloren die Hand über ihren eingesunkenen Bauch fahren und kommt gerade noch dazu, die letzten Wehen, die absterbende Replik des großen Tohuwabohu zu spüren, bevor sie von einer Plazenta erlöst wird, deren Existenz ihr unbekannt war und die sich in drei wollüstigen Zuckungen aus ihr herausdrückt.
Allein gelassen, die Beine noch immer in archaischen Bügeln hängend, wird meine Großmutter von einem nervösen Lachen erfasst. Sie täte gut daran, den Sinn auch dieser Einsamkeit zu hinterfragen, aber mit ihren sechsundzwanzig Jahren weiß sie bereits genug vom Leben, um sich über nichts mehr zu wundern und hinzunehmen, dass Einsamkeit unser Daseinsgrund ist. Alles, was ihr in den Sinn kommt, sind die Fetzen eines Liedes von Nancy Sinatra, »Bang Bang«, sowie die leuchtende und erstarrte, gleichsam in der schimmernden Falle ihres Gedächtnisses gefangene Erinnerung an den Strand von Sidi Fredj.
Schwebend, glückselig, möchte sie beinahe schon vor sich hin summen, als ihr endlich die Frucht ihres Leibes hingehalten wird, eingepackt in einen smaragdgrünen Samtstrampler mit appliziertem Bienenwabenmusterlatz, ein Kleidungsstück, das ihr merkwürdig bekannt vorkommt, bis sie sich schließlich daran erinnert, es selbst in der Babyabteilung bei Dames de France gekauft zu haben.
Bang bang, meine Großmutter kann das Leben noch so gut kennen, eine Vorbereitung für das, was jetzt folgt, gibt es nicht. Sie schließt die Augen, kreuzt die Finger, sucht nach der rechten Geste, dem magischen Schlüssel, aber nichts zu machen, keine Taube flattert da mühsam aus irgendeinem Hut, kein Hase quält sich da aus ihm hervor, keine ellenlange Folge von Halstüchern entwindet sich der gestärkten Tasche der Hebamme, die nicht davon ablässt, ihr ein Baby hinzuhalten, dessen ergreifend hässliches Gesicht einen erbärmlichen Kontrast darstellt zu dem prunkvollen Kleidungsstück, das ihm seine Eltern ausgesucht hatten, als es höchste Zeit war, auch an Kleidung zu denken.
Meine Großmutter streckt, da die Umstände es erfordern, jedoch ohne jeglichen Elan, die Arme in Richtung ihres Sprösslings, dessen sich die Hebamme mit ebenso deutlicher wie demütigender Erleichterung entledigt. Bang bang, ein Gefühl der Ungerechtigkeit brandet in meiner Großmutter auf, die eine Kränkung auf den ersten Blick zu erkennen vermag. Wir befinden uns Ende der sechziger Jahre, noch hätte keine Ultraschallaufnahme die finsteren Tiefen ihrer Schwangerschaft ergründen können; noch hätte keine pränatale Untersuchung ihr eröffnen können, dass ihr erstes Kind ein Mädchen und dass dieses Mädchen an etwas erkrankt war, das landläufig noch immer als Hasenscharte bezeichnet wird. Heute spräche man eher von einer Lippen-Kieferspalte, die, im Falle meiner Mutter, da ja von meiner Mutter die Rede ist, in eine Gaumenspalte übergeht, ganz abgesehen von einem gespaltenen Zäpfchen, dessen Existenz sich hinsichtlich der anderen erfassten Fehlbildungen letzten Endes aber als belanglos erweisen wird.
Meine Großmutter drückt ihren Säugling fester an sich. Der kleine Kopf beginnt sich umgehend mit animalischer und blinder Entschlossenheit zu bewegen, bis es ihm gelingt, an einer von neun Monaten Schwangerschaft überdehnten und grünadrigen Brustwarze anzudocken. Wachsam hinunterschielend auf die klaffenden Nasenlöcher und die rätselhaft dreiblättrige Lippe ihres Neugeborenen, wendet sich meine Großmutter an die Hebamme:
– Wird es saugen können?
– Das wird schwierig.
Meine Großmutter verspürt nur allzu deutlich die perverse Genugtuung, die die Hebamme bei der Formulierung ihrer Diagnose empfindet, aber ohne besondere Gefühlsregungen preiszugeben, begnügt sie sich damit, den gierigen Mund ihres Kindes passender an ihre schmerzende Brust zu legen. Aller Erwartung zum Trotz gelingt es derjenigen, die nur dreiundzwanzig Jahre später meine Mutter werden wird, einen Rachen voll Kolostrum hinunterzuschlucken, dann einen zweiten, woraufhin sie sich unter Protestgeschrei nach hinten wirft – denn auf meine Mutter ist Verlass in Sachen Wut und Lärm.
– Wie werden Sie es nennen?
Kalt erwischt, versucht meine Großmutter Zeit zu gewinnen und die Panik zu unterdrücken, die sie überfällt zwischen dem Baby, das schreit, und der Hebamme, die sie mustert. Nicht etwa, dass sie vergessen hätte, für welche Vornamen sie sich entschieden hatte, und zwar gemeinsam mit dem Vater dieses Neugeborenen, das da zwischen ihren Armen schäumt und krampft, bei dem sie aber noch immer nicht weiß, ob es ein Junge oder Mädchen ist.
Ohne ihre Feindin zu konsultieren, lässt sie zwei Ton in Ton unisexgrün lackierte Druckknöpfe aufspringen. Wir befinden uns Ende der sechziger Jahre, Wegwerfwindeln gibt es noch keine, und so hat meine Großmutter mit den Sicherheitsnadeln zu kämpfen, bevor es ihr endlich gelingt, aus den Windeln zu schälen, was sich als ein kleines, im Genitalbereich vollkommen wohlgeformtes Mädchen erweist. Überschwemmt von viel zu vielen absurden Gedanken, verkrampft sich meine Großmutter, sieht sich aber vom gleichen wilden Lachen eingeholt wie kurz zuvor auch schon. Bang bang: Es wäre besser gewesen, sagt sie zu sich selbst, die Fehlbildungen hätten die Vulva meiner Tochter betroffen anstatt Mund und Nase; bang bang, es wäre besser gewesen, ihr dieses Wams aus unnötig glänzendem Samt nicht gekauft und sie auch nicht im Vorfeld schon mit unnötig fürstlichen Namen getauft zu haben, die für ein normales Baby ihren Zweck erfüllt hätten, für das Monster jedoch, das ich gerade in die Welt gesetzt habe, eine Verschwendung darstellen, ja sogar eine weitere Schmach.
Während jener Zeit, da das noch zu gebärende Kind nichts anderes tat, als ab und an die Seiten meiner Großmutter zu zerbeulen, hatten die Eltern in spe ihre Entscheidung zugunsten von Léopold und Fabiola gefällt, eine Wahl, die unter dem Deckmantel der Würdigung der wallonischen Herkunft meines Großvaters wohl eher ihrer beider Traum von Größe verriet. Wie dem auch sei, meine Großmutter zieht dieses Baby, das sie dazu zwingt, ihre dynastischen Ambitionen zurückzustellen, wieder an und wiegt es nachdenklich, während sich die Hebamme um sie herum zu schaffen macht.
– Ich werde Ihnen einen kleinen Plastikgaumen bringen: den wird es brauchen. Und dann werde ich ihm ein Fläschchen bereiten. Es würde mich wundern, wenn Sie gute Milch hätten, Sie sind zu mager.
– Ich glaube, ich will weiterhin stillen. Wir werden ja sehen.
– Ich kenne mein Metier, wissen Sie. Solche wie Sie habe ich haufenweise gesehen, die wollen stillen, halten aber keine achtundvierzig Stunden durch. Also warum Ihnen nicht gleich unnötige Leiden ersparen?
Meine Großmutter ist der festen Überzeugung, ihr die Leiden ersparen zu wollen, stelle nicht die lobenswerte Sorge dar, die ihre Beißerin antreibt. Allein schon die kleinen, geheuchelt mitleidsvollen Zungenschnalzer, die sie mit jedem weiteren Blick auf das Neugeborene von sich gibt, allein schon das scheinheilige Beharren, mit dem sie wieder und wieder auf die Frage nach dem Vornamen zurückkommt, als wäre es nicht das Gebot der Stunde, die Gebärende über den Schock und die Enttäuschung hinwegzutrösten, von denen sie sich mehr schlecht als recht zu erholen und deren Ausmaß sie zu kaschieren sucht.
– Der Standesbeamte wird nicht lange auf sich warten lassen, wissen Sie.
– Um was zu tun?
– Sie müssen es ihm dann mitteilen. Was den Vornamen anbelangt. Oder die Vornamen. Sie können bis zu vier geben.
Den Blick ostentativ auf das viereckige, von der Hebamme auf Höhe des Herzens getragene Namensschild gerichtet, raunt meine Großmutter voller Perfidie:
– Im Falle eines Mädchens hatten wir an Gladys gedacht.
Totenstille knallt nieder auf diesen Saal, der den Geburten zugedacht ist. Aber es muss angenommen werden, dass nicht alle Geburten den gleichen Wert besitzen und weder zur gleichen Aufmerksamkeit noch zur gleichen Freude Grund geben. Unter dem unerbittlichen und erschöpften Blick meiner Großmutter errötet die Hebamme und sucht nach einer Retourkutsche, die sie niemals finden wird – und das aus gutem Grunde: Wie ablehnen, dass ein Kind heißen soll wie sie und dies zweifelsohne auch noch ihr zu Ehren? Zuzugeben jedoch, dass diese Ehre zugleich eine Beleidigung sei, dies genau ist für beide Seiten schlechterdings unmöglich. Meine Mutter wird Gladys heißen und die fürstlichen Vornamen werden den anderen Kindern dienen – meinem Onkel Léopold und meiner Tante Fabiola, er wie sie glücklicherweise bar sichtlicher Makel.
Das Leben ist ungerecht, denn meine Mutter ist eine Prinzessin und hätte Ehrentitel nötiger als jede andere, in erster Linie einen Vornamen, der ihre Würde bezeugte anstelle dieses »Gladys«, das als Rache einer Frau entgegen geschleudert wurde, die meine Großmutter bis hin zu deren bloßer Existenz umgehend nach dem Verlassen der Klinik vergessen haben wird.
Das Leben ist ungerecht, aber meine Mutter ist für das Leben geschaffen. Während meine Großmutter ihren Triumph und die Enttäuschung ihrer Feindin auskostet, saugt ihre Tochter wie wahnsinnig an der nährenden Brust, und was soll’s, wenn sie sich verschluckt und hustet, was soll’s, wenn ein guter Teil der Flüssigkeit droht, direkt in die Lungenbläschen zu schießen, ein Rest wird seinen Weg schon nehmen. Auf meine Mutter ist Verlass, wenn es anzugehen gilt gegen Widrigkeiten, auf meine Mutter ist Verlass, wenn es zu überleben gilt in feindlicher Umgebung.

2. WAS NÜTZT ES, DABEI ZU SEIN?

Möge sie mir gehören, diese Erzählung eines Beginns, der nicht der meine ist. So oder so, es muss ohnehin begonnen werden.
Mir diese Erinnerung, die nicht die meine ist. Es gehören ohnehin die Erinnerungen niemandem. Zu ungewiss ist ihre Natur, als dass wir uns ihres Besitzes brüsten dürften: zu fein die Unterscheidung zwischen ihnen und den Träumen, als dass wir auf das Gedächtnis auch nur irgendeine Art von Gewissheit gründen dürften, so auch jene, überhaupt etwas erlebt zu haben. Gut möglich sogar, dass wir gar nicht dafür geschaffen sind, uns zu erinnern, wenn ich einmal bezüglich des winzigen Anteils dessen urteile, was dem Vergessen entrinnt von all diesen zahlreichen Stunden, Stunden, die Sekunde für Sekunde uns durchzogen haben; Blutstrom, Pulsieren des Herzens, Ausatmen, Einatmen – und zum Schluss dann: nichts, so gut wie nichts, aufgelöst in Luft die zahlreichen Stunden, zwanzig Jahre Leben in einem Taschentuch.
Mir diese Erinnerung, die den gleichen Wert besitzt wie jede beliebige andere. Ich war nicht dabei? Stimmt, aber was nützt es, dabei zu sein? Meine Mutter, die dabei war, erinnert ihre Geburt und improvisierte Taufe auch nicht besser als ich.
Mir diese Erinnerung einer Erinnerung. Meine Großmutter ist eine ausreichend gute Erzählerin, um aller Welt das trügerische Gefühl zu vermitteln, dem Schauspiel beigewohnt zu haben.
Mir diese Erzählung, die sich meine Mutter immer ohne mit der Wimper zu zucken angehört hat, sie, die sonst so leicht aus der Reserve zu locken ist, sie, die immer so schnell ausrastet, wenn es gilt, seine Meinung kundzutun. Schon der geringste Sporn, und zack, da schlägt sie aus, zack, da tänzelt sie, und hopp, los geht’s – und stundenlang geht’s rund mit meiner Mutter, wo sie doch nichts auslässt, nicht eine Auswalzung ihres konfusen Denkens, keine hirnrissige Idee, keine müßige Erwägung.
Um ihr das Wort abzuschneiden, blieb allein dieses Schauermärchen, in dem man sie ihre ebenso turbulenten wie enttäuschenden ersten Schritte in die Welt machen sieht. Sie hat es sich stets aufmerksam angehört, aber mit einem Ausdruck von Abwesenheit, der ihr sonst nicht eigen ist, sie, die auch nur den geringsten Abstand zu wem auch immer weder kennt noch respektiert.
Mir die Geschichte, die allein geeignet, dieses Mundwerk zu stopfen, das mit einem Hasen nie etwas anderes gemein hatte als den Namen – denn wenn man Wert legt auf Metaphern und Genauigkeit zugleich, dann lasst uns darin übereinkommen, dass Mund wie Nase meiner Mutter eher dem System einer Knolle entstammen, eines fleischigen Blütenstempels oder einer üppigen Beere. Heute hat ihre Oberlippe dank der plastischen Chirurgie eine zaghafte Linie wiedererhalten: Sie schmiegt sich eng an die Zahnreihe, doch scheinbar ohne Fruchtfleisch, und verzweigt sich nach oben hin zu einer doch recht plumpen, rosawulstigen Narbe. Die Nasenlöcher haben ihre furchteinflößende Asymmetrie verloren zugunsten akzeptabler Züge, doch die Nase bleibt platt und wie geweitet, was ihr einen schemenhaft aztekischen Ausdruck verleiht und ihr mit »Indianerin« den wohlwollendsten unter all ihren Spottnamen eingetragen hat.
Das Leben ist ungerecht, denn meine Mutter, deren Vorname für sich genommen schon eine Demütigung darstellt, schleppt noch dazu fünfundvierzig Jahre schmachvoller Spitznamen hinter sich her, die unweigerlich und in der Reihenfolge ihrer Prävalenz den Affen, die Sau, die Hündin zur Sprache bringen – und schließlich, und zwar erst am Ende der Liste, den Hasen, dem sie so wenig ähnelt.
Mit Vornamen kenne ich mich aus. Das Leben meiner Mutter ist dafür verantwortlich. Weil sich die Kränkung nicht auf die schändliche Wahl von Gladys beschränkt hat; die Kränkung rührt auch daher, dass Léopold und Fabiola Anrecht auf weitere Vornamen hatten: Louis, Alexandre und Maximilien für den einen, Astrid, Élisabeth und Théodora für die andere, eine Abfolge von Köpfen, der eine adeliger als der andere, was mit Fug und Recht darauf schließen lässt, dass meine Großeltern von sozialer Revanche träumten, nicht aber auf ihre älteste Tochter zählten, um diesen Traum durchs Leben zu tragen.
Mit Vornamen kenne ich mich aus, aber auch mit elterlichen Projektionen, die mit ihnen einhergehen, selbst wenn ebendiese elterlichen Projektionen auf die Schnauze fallen. Und so haben Onkel Léo und Tante Faby sich ihre fürstlichen Vornamen sehr früh amputiert und ebenso früh auf ein ruhmreiches Schicksal verzichtet. Diejenige, die sich dem Ruhm am meisten nähern sollte, und auch hier wird man noch sehen, wie, ist meine Mutter, jene Gladys, auf die man so wenig setzte, dass sie nur Anrecht hatte auf einen Ersatznamen, eine erzwungene Wahl, eine aus Verbitterung und Vergeltung getroffene Wahl, während alle übrigen Kinder sahen, wie ihre Patentanten voller Wohlwollen und traumestrunken nach Größe sich über ihre Wiege beugten.
Mit Vornamen kenne ich mich aus, denn meine Mutter hat mich Kimberly genannt und ihre Projektionen waren schon immer schwieriger umzusetzen und zu verstehen als jene der anderen Eltern, selbst für mich, die ich Spezialistin bin für verdrehte Hirne. Da meine älteren Schwestern Svetlana und Ludmilla heißen, schien es tatsächlich unabwendbar, dass ich einen slawischen Vornamen abbekommen sollte, aber auf meine Mutter ist Verlass in Sachen Kontinuität: Kaum hatte sie ihrer Sammlung russischer Püppchen abgeschworen, kaum hatte sie mich Kimberly genannt, da hatten Lorenzo und Esteban auch schon die Familie vergrößert, bang bang, zwei im Abstand von neun Monaten geborene Jungen, was Bände spricht über die Laxheit meiner Mutter auf dem Gebiet der Empfängnisverhütung und zugleich erklärt, weshalb ich die letzten sechzehn Jahre in der Befürchtung verbrachte, sie würde damit wieder anfangen, zumal schwanger zu sein für sie beinahe ebenso grandios ist wie zu gebären.
Svetlana, Ludmilla, Kimberly, Lorenzo, Esteban: Solch folkloristische Farbenpracht könnte vermuten lassen, wir hätten nicht denselben Vater, aber auch dies hieße, Gladys schlecht zu kennen, und so heißt unser gemeinsamer Erzeuger Patrick, wie alle Jungen seiner Generation. Ich muss betonen, dass er mit der Wahl unserer Namen nichts zu tun hat. Man kann sogar sagen, dass er mit rein gar nichts etwas zu tun hat, was ihn aber nicht daran hindert, sich für unabdingbar zu halten und eine irre Energie darauf zu verwenden, das Oberhaupt der Familie zu spielen. Egal, zu welcher Stunde man ihn antrifft, mein Vater scheint stets überanstrengt und besorgt zu sein. Unsere Erziehung ist seine große Sache, auch wenn es ihm nur ab und an in den Sinn kommt, in immer wiederkehrenden Anwandlungen, im ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. INHALT
  5. 1. BANG BANG
  6. 2. WAS NÜTZT ES, DABEI ZU SEIN
  7. 3. WIE MAN ES TÄNZELN SIEHT
  8. 4. ALLES ÜBER CHARLIE
  9. 5. NICHT WEITER SCHLIMM
  10. 6. UNTER UNS
  11. 7. DIE VERZWEIFELTEN LEBEN SIND DIE WÜRDEVOLLSTEN
  12. 8. DAS ENDE DES SPIELS
  13. 9. DER RUHM MEINER MUTTER
  14. 10. DER GERUCH DES BLUTES (I)
  15. 11. IN DER NIEDERTRÄCHTIGEN MENAGERIE UNSERER LASTER
  16. 12. DAS HOHEITSVOLLE KIND
  17. 13. DER GERUCH DES BLUTES (II)
  18. 14. DAS ENDE ALLER SPIELE
  19. 15. ERLAUBET GOTT DENN SOLCH UNSÄGLICH TIEFES LEID
  20. 16. OH BABY, I REMEMBER WHEN YOU WERE BORN
  21. 17. HEUTE HABE ICH GEBURTSTAG
  22. 18. FREED FROM DESIRE
  23. 19. LIEBE IST DER GESCHMACK VON PROSTITUTION
  24. 20. RAKETEN
  25. 21. DIE SPRACHE DER VÖGEL
  26. 22. DES LEBENS RICHTIGE RICHTUNG
  27. 23. DER GERUCH DES BLUTES (III)
  28. 24. WIE WIMMELNDE WÜRMER
  29. 25. EINE SCHWALBE MACHT MEINEN SOMMER
  30. 26. OH DU MEIN KIEL, ZERSPLITTRE! UND ÜBER MIR SEI, MEER!
  31. ANMERKUNGEN ZUR ÜBERSETZUNG UND ERLÄUTERUNGEN