Teil II
Praxis
Allgemeine Regeln
Dass es in einer traditionellen Religion, zumal wenn sie sich wie die germanische als „Alte Sitte“ (forn siðr) versteht, im Wesentlichen darauf ankommt, dass Rituale der Tradition, der Sitte der Ahnen, entsprechen, ist eigentlich selbstverständlich. Es heißt aber auch in Heidenkreisen manchmal, ein Ritual wäre umso wertvoller, je „persönlicher“, spontaner und origineller es ist – eine Ansicht, die auf christliche Vorstellungen von „innerlicher Frömmigkeit“ zurückgeht, die unseren Vorfahren völlig fremd waren. Treue zu den Göttern hieß für sie Treue zu den Bräuchen, mit denen sie verehrt wurden, und das schloss auch die genauen Worte der Gebete, Anrufungen und Opferformeln ein.
Darin unterscheidet sich das germanische Heidentum in nichts von anderen Religionen und schon gar nicht von anderen heidnischen, die aufgrund ihres traditionellen Charakters fast zwangsläufig „formalistisch“ sind. Wenn nicht Lehre und Glaube, sondern die Überlieferung das religiöse Leben bestimmen, kann ein Ritual überhaupt nur danach beurteilt werden, ob es den bewährten Bräuchen entspricht. Schon in archaischen Kulturen stehen rituelle Formen ganz genau fest und dulden keine Abweichung. Mit den indischen Brahmanen und keltischen Druiden bildeten sich eigene soziale Kasten, deren Hauptaufgabe darin bestand, die Formen und Texte der Riten zu kennen und exakt nachzuvollziehen. Auch römische Rituale mussten einer strengen disciplina folgen, die von Kultbeamten bewahrt wurde. In den griechischen Stadtstaaten wurden die „heiligen Gesetze“ öffentlich angeschlagen. Jeder, der ein Opfer brachte, hatte sie exakt einzuhalten.
Bei den Germanen gab es weder Brahmanen, Druiden oder Kultbeamte, noch Schrifttafeln mit Ritualgesetzen, sodass man davon ausgehen muss, dass ihre Auffassung weniger eng war. Die von keiner zentralen Behörde oder Priesterschule festgelegten, mündlich und durch Teilnahme in der Familie, im Dorf oder im Stamm weitergegebenen Rituale waren vielfältig, örtlich verschieden und wohl auch innerhalb einer Kultgemeinschaft von einem zum anderen Mal nicht ganz einheitlich, da diese Form der Tradierung kaum mehr als die Sicherung eines grundlegenden Gerüsts zulässt, das bestimmte feste Eckpfeiler hat, die von Fall zu Fall durch Improvisation ergänzt werden.
Es entspricht daher der germanischen Tradition am besten, sich bei Ritualen an ein bewährtes Grundmuster zu halten, das eine mehr oder weniger große Anzahl fixer, stets gleicher Handlungen und Texte enthält, ansonsten aber flexibel ausgestaltet wird. Das ist auch die übliche Vorgehensweise im Verein für Germanisches Heidentum e. V., wobei sich die schon erwähnten vorhergehenden Ritualbesprechungen gut bewährt haben. Jedem, der einen Part übernimmt, ist es selbst überlassen, ob er ihn einstudiert oder improvisiert. Es muss lediglich sichergestellt sein, dass keine groben Fehler gemacht werden, die in einem Gemeinschaftsritual auf alle zurückfallen würden. Fiele etwa ein Gebet als magische Beschwörung aus, die eine Gottheit zum Erscheinen „zwingen“ will und damit beleidigt, wäre das ganze Ritual zerstört.
Für persönliche Rituale, die nur den Ausübenden selbst betreffen, trägt dieser natürlich allein die Verantwortung. Jeder kann sie so gestalten, wie er es für richtig hält, sei es nach einem vorbereiteten Plan oder völlig spontan. In vielen Fällen, vor allem bei Gebeten und Opfern aus einem aktuellen Anlass, für den man keine erprobten Rituale kennt, ist ohnehin nur eine spontane Gestaltung möglich, und es soll sich natürlich auch niemand zu einem Rückgriff auf „Eingelerntes“ genötigt sehen, wenn er „Persönliches“ für angebrachter hält. Man sollte dabei aber bedenken, dass es wie im Umgang mit Menschen auch im Umgang mit den Göttern nötig ist, eine gewisse Form zu wahren, zum Teil aus Respekt, zum Teil, um überhaupt verstanden zu werden. Entscheidend ist, dass ein Ritual den Göttern zur Ehre gereicht, den traditionellen germanischen Charakter wahrt und nicht nur subjektiv als befriedigend erlebt wird, sondern auch wirklich „stimmt“.
Die Gültigkeit des Rituals
In allen, insbesondere aber den kultisch ausgerichteten heidnischen Religionen muss ein Ritual nach bestimmten Kriterien, die sich aus seiner inneren Logik oder der praktische Erfahrung ergeben, „richtig“ sein und wird erst dadurch gültig. Dazu braucht es den richtigen Ort und die richtige Zeit, muss sich an die richtigen Gottheiten wenden, richtig aufgebaut sein und die unerlässlichen Grundelemente enthalten. Das bedeutet im einzelnen:
Der richtige Ort für ein Ritual ist grundsätzlich jeder Platz im Freien oder notfalls im Haus, der durch die nötige Vorbereitung, Einhegung und Weihe zum heiligen Ort wird. Darüber hinaus kommt es mitunter auf den Zweck des Rituals oder die angerufenen Gottheiten an. Für die Heilung durch eine Heilquelle etwa dankt man am besten an der Quelle selbst, für ein Opfer an Thor kann man einen Eichenhain wählen oder für ein Gebet um Kindersegen einen See oder Fluss oder ein altes Heiligtum der Vanen oder Disen.
Die richtige Zeit ist vor allem bei den Jahres- und Lebenskreisritualen wichtig und wird dort im Einzelnen besprochen. Bedeutung hat sie auch bei versprochenen Dankopfern, die nicht zu spät nach der Erfüllung der Bitte dargebracht werden sollten. Bei Ritualen für ihre Schutzgottheiten wählen manche, wenn es ihn gibt, den ihnen geweihten Wochentag. Das schadet nicht, es gibt aber keinen wirklichen Grund dafür, denn die germanischen Wochentagsnamen sind lediglich Übersetzungen der römischen und hatten nie kultische Bedeutung. Die Tageszeit eines Rituals kann man nach Zweckmäßigkeit wählen. Die häufige Meinung, heidnische Riten fänden nachts statt, geht auf heimliche Feiern in christlicher Zeit zurück und lässt sich für das „vorchristliche“ Heidentum nicht aufrecht erhalten.
Die richtigen Gottheiten, an die sich ein Ritual wenden soll, sind alle, die germanische Namen tragen und in historischer Zeit von Germanen verehrt wurden. Nicht alle können aber überall in gleicher Weise verehrt werden. Njörd wird man im Binnenland als Spender...