Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens (eBook)
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Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens (eBook)

  1. 402 Seiten
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Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens (eBook)

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

In seinem erfolgreichen Roman erzählt Jakob Wassermann in unvergleichlich kraftvoller Prosa die Geschichte der letzten Lebensjahre Caspar Hausers. Im Jahr 1828 wird der junge Mann, dessen Herkunft völlig im Dunkeln liegt, in Nürnberg aufgegriffen. Er kann kaum sprechen und schreiben und ist anscheinend geistig zurückgeblieben. Gymnasialprofessor Daumer nimmt sich seiner an, und die Erziehung des Findlings macht schon bald Fortschritte. Als ein Mordanschlag auf ihn verübt wird, beginnen wilde Spekulationen: Ist Caspar Hauser der letzte Zähringer-Erbprinz aus dem Hause Baden?Einer der bedeutendsten Romane des Autors mit einem Nachwort des renommierten Wassermann-Forschers Prof. Dr. Gunnar Och.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783869137001
Zweiter Teil
Es regnete in Strömen, als die Kalesche des Lords am späten Abend über den Ansbacher Schloßplatz donnerte. Dazu scheuten die Pferde plötzlich vor einem über den Weg trottenden Hund, und der elsässische Kutscher fluchte in seinem greulichen Dialekt so laut, daß sich hinter den dunkeln Fensterquadraten ein paar weiße Zipfelmützen zeigten. Die Zimmer im Gasthof zum Stern waren vorausgemietet, der Wirt tänzelte mit einem Parapluie vors Tor und begrüßte den Fremdling mit unzähligen tiefen Komplimenten und Kratzfüßen.
Stanhope schritt an ihm vorüber zur Treppe, da trat ihm ein Herr in der Uniform eines Gendarmerieoffiziers entgegen, sehr eilfertig, mit regentriefendem Mantel, und stellte sich ihm als Polizeileutnant Hickel vor, der die Ehre gehabt habe, Seiner Lordschaft vor einigen Wochen beim Rittmeister Wessenig in Nürnberg flüchtig, »leider allzu flüchtig«, begegnet zu sein. Er nehme sich die Freiheit, dem Herrn Grafen seine Dienste in der unbekannten Stadt anzubieten, und bitte um Vergebung für die einem Überfall ähnliche Störung, aber es sei zu vermuten, daß Seine Lordschaft wenig Zeit und vielerlei Geschäfte habe, darum wolle er nicht versäumen, in erster Stunde nachzufragen.
Stanhope schaute den Mann verwundert und ziemlich von oben herab an. Er sah ein frisches, volles Gesicht mit eigentümlich kecken und dabei zärtlich ergebenen Augen. Unwillkürlich zurücktretend, hatte Stanhope das Gefühl, daß hier einer seine ganze Person als Werkzeug antrug, gleichviel, zu welchen Zwecken; nichts Neues war ihm der begehrlich streberische Glanz solcher Blicke, schon glaubte er seinen Mann in- und auswendig zu kennen. Aber woher wußte der Dienstbeflissene davon? Wer hatte ihn auf die Fährte gebracht? Eine feine Nase war ihm jedenfalls zuzutrauen. Der Lord dankte ihm kurz und erbat sich für eine bestimmte Stunde seinen Besuch, worauf der Polizeileutnant militärisch grüßte und ebenso eilig, wie er gekommen war, wieder in den Regen hinausrannte.
Stanhope bewohnte den ganzen ersten Stock und ließ sogleich in allen Zimmern Kerzen aufstellen, da ihm unbeleuchtete Räume verhaßt waren; während der Kammerdiener den Tee bereitete, nahm er ein in Saffian gebundenes Andachtsbüchlein aus der Reisetasche und begann darin zu lesen. Oder wenigstens hatte es den Anschein, als lese er, in Wirklichkeit dachte er hundert zerstreute Gedanken, die Ruhe des kleinen Landstädtchens war ihm unheimlicher als Kirchhofsstille. Nach dem Imbiß ließ er den Wirt rufen, befragte ihn über dies und jenes, über die Verhältnisse im Ort, über den ansässigen Adel und die Beamtenschaft. Der Wirt zeigte sich den neuen Läuften gründlich überlegen. Er hatte noch die selige Markgrafenzeit erlebt, und mit dem Tag, wo Höfling und Hofdame aus ihren ziervollen Rokokopalästchen die Flucht vor dem heransausenden Kriegssturm ergriffen hatten, war es aus mit dem Glanz der Welt; ein stinkendes Rattennest war sie geworden, ein Aktentrödelmarkt mit dem hochtrabenden Namen Appellationssenat, eine Tintenhöhle, ein Paragraphenloch.
Damals, ach, damals! Wie verstand man zu schäkern, wie heiter war das Treiben, man spielte, man parlierte, man tanzte – und der dicke Mann fing vor den Augen des Lords an, einige gravitätische Menuettposen und Pas de deux zu illustrieren, wozu er eine verschollene Melodie trällerte und mit zwei Fingern jeder Hand schelmisch die Rockschöße hob.
Der Lord blieb vollkommen ernsthaft. Er fragte auch beiläufig, ob Herr von Feuerbach in der Stadt sei, doch bei diesen Worten zog der Dicke ein säuerliches Gesicht. »Die Exzellenz?«, grollte er. »Ja, die ist da. Wohler wäre uns, sie wär nicht da. Wie ein brummiger Kater lauert sie uns auf und faucht uns an, wenn wir ein bißchen pfeifen. Er kümmert sich um alles, ob die Straßen gekehrt sind, ob die Milch verwässert ist; überall ist er hinterher, aber Galanterie hat er keine im Leib. Nur eines versteht er gründlich, er ist ein scharfer Esser, und halten zu Gnaden, Herr Graf, wenn Sie mit ihm zu tun haben, müssen Sie alles loben, was auf seinen Tisch kommt.«
Stanhope entließ den Schwätzer huldvoll, dann bezeichnete er dem Diener die Kleider, die für morgen instand zu setzen seien, und begab sich zur Ruhe. Am andern Morgen erhob er sich spät, schickte den Lakaien in die Wohnung Feuerbachs und ließ um eine Unterredung bitten. Der Mann kam mit der Botschaft zurück, der Herr Staatsrat könne heute und wohl auch in den nächsten Tagen nicht empfangen, er ersuche Seine Lordschaft, ihm das Anliegen schriftlich mitzuteilen. Stanhope war wütend. Er begriff, daß er sich überstürzt habe, und fuhr sogleich zum Hofrat Hofmann, der ihm empfohlen war.
Indessen hatte sich die Kunde von seiner Anwesenheit verbreitet, und nach weiteren vierundzwanzig Stunden war schon ein Sagenkranz um seine Person geflochten. Ein halb Dutzend mit Goldguineen gefüllte Säcke seien auf dem Reisewagen des Fremdlings aufgeschnallt gewesen, hieß es, und er wolle das Markgrafenschloß samt dem Hofgarten kaufen, er führe ein Bett mit Schwanendaunen mit sich und gestickte Wäsche, er sei ein Vetter des Königs von England und Caspar Hauser sein leiblicher Sohn. Stanhope, kühl bis in die Nieren, sah sich als Mittelpunkt kleinstädtischen Schwatzes und war es zufrieden.
Der Hofrat hatte ihm keine Erklärung über das Verhalten des Präsidenten zu geben vermocht. Um die dienstlichen Schritte zu beraten, suchten sie den Archivdirektor Wurm auf, der bei Feuerbach großes Vertrauen genoß. Stanhope spürte, daß man nur mit scheuer Vorsicht an die Sache ging; die amtssässigen Herren konnten sich keines freien Verhältnisses zu einem Manne rühmen, dessen Hand wie Eisenlast auf ihnen ruhte.
Am Abend folgte Stanhope der Einladung in einen Familienkreis. Als er hier die Rede auf den Präsidenten brachte, wurde eine Reihe von Anekdoten erzählt, die teils lächerlich, teils bizarr klangen, oder man berichtete, wie um den Mangel an Liebe und echtem Sichbescheiden durch Umstände zu verdecken, welche das Mitleid herausforderten, von dem Unglück, welches Feuerbach an zweien seiner Söhne erlebe, von einer zerrütteten Ehe, von der menschenhassenden Einsamkeit, in welcher der Alte hauste, und in der man doch wieder etwas wie eine dunkle Verschuldung sehen wollte. »Er ist ein Fanatiker«, ließ sich ein kahlköpfiger Kanzleivorstand vernehmen, »er würde, wie Horatius, seine eignen Kinder dem Henkersknecht ausliefern.«
»Er vergibt niemals einem Feind«, sagte ein andrer klagend, »und dies beweist keine christliche Gesinnung.«
»Das alles wäre nicht so schlimm, wenn er nicht in jedem Menschen eine Art von Übeltäter sehen würde«, meinte die Dame des Hauses, »und bei jeder Harmlosigkeit gleich das ganze Strafgesetz aufmarschieren ließe. Neulich ging ich um die Dämmerung mit meiner Tochter auf der Triesdorfer Straße spazieren, und wir waren unbedachtsam genug, ein paar Äpfel von den Bäumen zu pflücken; auf einmal steht die Exzellenz vor uns, schwingt den Stock in der Luft und schreit mit einer fürchterlich krähenden Stimme: Oho, meine Gnädige, das ist Diebstahl am Gemeindegut! Nun bitt ich einen Menschen, Diebstahl! Was soll denn das heißen?«
»Du mußt aber auch sagen, Mama«, fügte die Tochter hinzu, »daß er dabei ganz pfiffig geschmunzelt hat und sich kaum das Lachen verbeißen konnte, als wir, vor Schrecken zitternd, die Äpfel in den Graben warfen.«
Der bloße Name des Mannes glich einem Steinblock im Strom, vor dem das Wasser staut und aufprallt. Stanhope machte kein Hehl aus seiner Bewunderung für den Präsidenten. Er zitierte Stellen aus seinen Schriften, schien selbst die trockensten juristischen Abhandlungen zu kennen und pries die von Feuerbach durchgeführte Abschaffung der Folter als eine Tat, die über die Jahrhunderte leuchten würde. Es war ein Mittel zu blenden, wie irgendein andres.
Auf allen Gassen, in allen Salons gab es alsbald nur einen einzigen Gesprächsstoff, und das war Lord Stanhope. Lord Stanhope, der Held und die Zuflucht der unschuldig Verfolgten; Lord Stanhope, der Gipfel der Eleganz, Lord Stanhope, der Freigeist, Lord Stanhope, der Liebling des Glücks und der Mode, Lord Stanhope, der Melancholische, und Lord Stanhope, der Strengreligiöse. So viel Tage, so viel Gesichter; heute ist Lord Stanhope kalt, morgen ist er leidenschaftlich; zeigt er sich hier heiter und ungebunden, dort wird er tiefsinnig und würdevoll sein; Gelehrsamkeit und leichte Tändelei, die Stimme des Gemüts und sittliche Forderung: es kommt nur auf das Register an, das der geschickte Orgelspieler braucht. Wie interessant sein Aberglauben, wenn er in einem Zirkel bei Frau von Imhoff seine Furcht vor Gespenstern bekennt und schildert, daß er dabei gewesen, wie ein Landsmann in den Krater des Vesuv zur Hölle gefahren sei; wie entzückend die Ironie, mit der er bei andrer Gelegenheit gottlose Gedichte von Byron zu rezitieren versteht.
Die Elemente mischen sich, man weiß nicht wie. Es ist eine Lust, die Welle zu Schaum zu schlagen und den kleinen provinzlichen Sumpf im vergoldeten Kahn zu durchfahren.
Am fünften Tag kam der Jäger zurück. Er brachte erweiterte Vollmachten; Befehle, denen Stanhope durch seine Reise nach Ansbach zum Teil zuvorgekommen war, aus denen als bemerkenswert etwas wie Furcht vor den Maßnahmen Feuerbachs auffiel. Es wurde ihm geboten, sich dem Präsidenten in jedem Fall zu fügen, da Widerstand Verdacht erweckt hätte; das Äußerste zu versuchen, aber sich zu fügen und neue Minen zu graben, wenn die alten wirkungslos geworden. Von einem gefährlichen Dokument war die Rede, das einstweilen beiseitegebracht oder unschädlich gemacht werden müsse, von dessen Inhalt aber jedenfalls Abschrift zu nehmen sei.
Das überreichte Schreiben sollte im Beisein des Jägers zerrissen und verbrannt werden. Dies geschah. Vor allem brachte der Bursche Geld, herrliches bares Geld. Stanhope atmete auf.
Am nächsten Abend lud er einige der vornehmsten Familien der Stadt zu einem geselligen Beisammensein in die Räume des Kasinos. Man raunte sich zu, daß er die Speisen nach besonderen Rezepten habe bereiten lassen und die Musikpiecen mit dem Kapellmeister selbst durchprobiert habe. Vor Beginn des Tanzes erhielt jede Dame ein ebenso sinniges wie kostbares Angebinde: ein kleines Schildchen von Gold, auf welchem in emaillierter Schrift die Devise stand: »Dieu et le cœur.« Danach nahm der Lord sein Glas und forderte die Anwesenden auf, mit ihm das Wohl eines Menschen auszubringen, der ihm so teuer sei, daß er den Namen vor so vielen Ohren gar nicht auszusprechen wage, wüßten doch alle, wen er meine: jenes wunderbare Geschöpf, vom Schicksal wie auf eine Warte der Zeit hingestellt: Dieu et le cœur, dies gelte ihm, dem Mutterlosen, dessen die Mütter gedenken möchten, welche Kinder geboren, und die Jungfrauen, die sich der Liebe weihten.
Man war gerührt; man war außerordentlich gerührt. Ein paar weiße Taschentücher flatterten in sanften Händen, und eine ergriffene Baßstimme murrte: »Seltener Mann.« Der seltene Mann, als ob er seine eigne Bewegung nicht anders meistern könne, begab sich auf den anstoßenden Balkon und schaute sinnend auf das Volk, das teils in ehrfürchtig flüsternden Gruppen stand, teils in der Dunkelheit auf und ab promenierte. Viele auch hatten sich, der Musik lauschend, an die gegenüberliegende Mauer gedrängt, und eine ganze Reihe von Gesichtern glänzte fahl in dem aus den Fenstern flutenden Lichtschein.
Da gewahrte Stanhope den Uniformierten, der sich ihm bei seiner Ankunft in der Stadt präsentiert. Er hatte ihn seitdem völlig aus dem Gedächtnis verloren, der Mann war zur festgesetzten Stunde im Hotel gewesen, doch hatte Stanhope die Verabredung nicht gehalten, und jener hatte nur die Karte zurückgelassen. Jetzt stand er wenige Schritte entfernt unter einem Laternenpfahl, und sein Gesicht schien auffallend böse.
Ein Unbehagen überlief den Lord. Er verbeugte sich höflich nach der Richtung, wo der Regungslose stand. Darauf hatte der nur gewartet; er trat näher, und dicht am Balkon stehend, war sein Gesicht etwa in Brusthöhe des Grafen.
»Polizeileutnant Hickel, wenn ich nicht irre«, sagte Stanhope und reichte ihm die Hand; »ich hatte das Unglück, Ihren Besuch zu versäumen, ich bitte mich zu entschuldigen.«
Der Polizeileutnant strahlte vor Ergebenheit und heftete den Bl...

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  1. Cover
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  3. Erster Teil
  4. Zweiter Teil
  5. Ein Nachwort von Gunnar Och
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