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Wenn Luana im Sommer sang, hielt das kleine fränkische Städtchen den Atem an. Sie saß auf der Terrasse des Pfarrhauses, hatte ihre amerikanische Gitarre auf dem Schoß und sang selbstvergessen die fremden Lieder aus ihrer Heimat. Unten auf der sonnenheißen Gasse, die an der weiß gekalkten Mauer des Pfarrgartens entlang verlief, zügelten die heimkehrenden Bauern die Gespanne, und ihre Pferde zogen die Heuwagen im langsamsten Schritt. Der dicke Apotheker stieg vom Rad und hörte eine Weile zu, ohne zu merken, dass ihm die Zigarre ausging. In den Armenwohnungen, die auf der anderen Seite des Stadtgrabens lagen, verebbte das Geschrei; in den Fenstern erschienen die Köpfe der früh ergrauten Frauen, die mit ihren verarbeiteten Händen blau gemusterte Kissen auf die Fensterbank legten und sich für eine Viertelstunde forttragen ließen. Es war ein Klang in diesen Liedern, den keiner von ihnen hätte benennen können, eine lockende Fremdheit, die nach mehr duftete als die Sommergerüche ihrer kleinen Stadt. Etwas unsagbar Schönes lag in Luanas Liedern; es war, als würfe sie Töne wie fein glitzernde Fäden in die Spätnachmittagsluft; Fäden, die einem unmerklich an der Brust anhingen, in der Nähe des Herzens, und, später am Abend, wenn alles schon vorbei war und die Stadt still wurde, leicht und süß an einem zu ziehen begannen, ohne dass man gewusst hätte, wohin.
Wenn Luana im Sommer sang, unterbrach Luise alles, was sie tat, und kam in den Garten, um ihr zuzuhören. Meistens setzte sie sich ins Gras, den Rücken an den großen Walnussbaum gelehnt, wo Luana sie nicht sehen konnte. Immer hatte Luise das Gefühl, dass sie vielleicht aufhören würde zu singen, wenn jemand zwischen ihre Augen und die Ferne träte, in die sie in diesen Viertelstunden wohl sah.
»Wovon singst du?«, hatte Luise Luana manchmal gefragt, wenn sie später zu ihr auf die Terrasse getreten war.
Luana hatte dann lächelnd die Schultern gehoben und gesagt: »Ach, von allem. Von den Bergen. Vom Urwald. Und vom Meer.«
»Wie ist das Meer?«, hatte Luise dann wohl gefragt.
Luana hatte lächelnd geantwortet: »Wie soll ich das beschreiben? Du musst es selbst sehen. Das Meer kann man nicht erklären.«
»Doch«, hatte Luise bestimmt gesagt, »versuch’s mal.«
Luana hatte die Gitarre vorsichtig in die Ecke des Balkons gestellt und ein bisschen überlegt. Ein Nachmittagswind war aufgekommen. Auf den Feldern wogte der Weizen noch jung und grün in der Junisonne, und sein warmer, durchsichtiger Duft wehte durch die Gassen des Städtchens. Luana schloss für einen Moment die Augen und legte den Kopf an die Rückenlehne des Deckchairs, den sie genauso wie ihre weißen Kleider aus Brasilien mitgebracht hatte, als sie mit Paul vor drei Jahren zurück ins Reich gekommen war. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah in den makellos blauen Himmel.
»So«, sagte sie dann und deutete nach oben, »das Meer ist wie der Himmel, nur auf der Erde.«
Luise sah auch nach oben. »Der Himmel hat aber kein Ende.«
Luana überlegte kurz, dann nickte sie. »Das stimmt. Das Meer sieht unendlich groß aus, aber irgendwo gibt es immer ein anderes Ufer. Das ist das Schöne daran, nicht wahr?«
Da schüttelte Luise entschieden den Kopf. Ihre kurzen braunen Locken flogen. »Das Schöne am Himmel ist, dass er kein Ende hat.«
Luana hatte wieder nach ihrer Gitarre gegriffen. »Das würde mir Angst machen«, sagte sie, während sie leise stimmte, »wenn etwas kein Ende hat.«
Luise staunte. »Aber warum singst du dann immer von der Unendlichkeit?«, fragte sie.
Luana wandte sich Luise zu. Luise dachte, dass ihr fremdes Gesicht in dem weichen Nachmittagslicht so schön war, wie sie es selbst wohl nie sein würde.
»Tue ich das?«, fragte sie überrascht.
Luise nickte. »So hört es sich an. Nach der Ferne. Nach Unendlichkeit.« Sie zögerte einen Moment. »Nach Fliegen. Ich verstehe ja die meisten Worte nicht«, setzte sie schnell hinzu.
Luana strich über die Gitarre. »Das macht nichts«, erwiderte sie und fing wieder an zu singen.
Das Pfarrhaus war sehr groß und lag, anders als in den meisten Kleinstädten dieser Art, nicht gleich bei der Kirche, sondern zehn Minuten entfernt an der Stadtmauer in einem außergewöhnlich großen Garten. Eigentlich war es fast schon ein kleiner Park, dessen Längsseite sich an der Mauer um die siebzig Meter erstreckte und der in die Stadt hinein sicher noch einmal vierzig Meter maß. Das kam, weil das Gelände bis ins 18. Jahrhundert eigentlich der Friedhof gewesen war, bis er zu klein wurde und man den neuen Friedhof vor den Toren der Stadt angelegt hatte. Und als hundert Jahre später, um 1820, das alte Pfarrhaus bei der Stadtkirche in der letzten großen Feuersbrunst ausbrannte, hatte man das neue in den aufgelassenen Friedhof gebaut. Ein ungewöhnlich unbescheidenes Haus war es, sehr ungewöhnlich für die fränkisch kargen Protestanten. Aber vielleicht lag es an einem letzten Aufflammen von reichsstädtischem Stolz, mit dem die Stadt das Haus gebaut hatte, nachdem sie fünf Jahre zuvor den Bayern zugeschlagen worden war und ihre Bewohner plötzlich zu Untertanen geworden waren. Denn immerhin: Eine Reichsstadt war man gewesen, und auch, wenn das alles lange vorbei war, hatte man den Eindruck, als lebten die Bürger jetzt noch von der Erinnerung.
Das Haus war nun, nach hundert Jahren, nicht mehr pompös und nicht mehr herrschaftlich, sondern bequem und vielleicht ein klein wenig nachlässig geworden wie eine alte Dame, die nicht mehr ausgeht. Wenn Luise im Sommer an der warmen Hauswand lehnte und in den Garten sah, dann bröckelte sie manchmal geistesabwesend am Putz oder schob ihren Fingernagel sacht unter eine dünne altrosa Farbscholle, die dann von der Wand platzte und auf den Steinen der Terrasse wie Eis zersplitterte. Für sie war das Haus schon immer so gewesen, und sie verschwendete keinen Gedanken daran. Das Pfarrhaus war einfach ihr Haus. Sie war drei Jahre alt gewesen, als ihr Vater die Pfarrstelle übernommen hatte und sie hierher gezogen waren. Von München wusste sie kaum noch etwas. Es gab ein paar Bilder in ihrem Kopf, die so schwarzweiß und verblasst waren wie die Fotografien aus dieser Zeit, und sie war sich nie ganz sicher, ob die vagen Eindrücke von der großen Wohnung mit den hohen Decken ihre eigenen, echten Erinnerungen waren oder sich nur aus den Erzählungen ihres Bruders und den Bildern im Familienalbum zusammensetzten.
Luana sang. Nie sang sie leise, so wie andere Menschen, die nur für sich sangen. Immer sang sie mit voller Stimme. Sie kann vielleicht nicht anders, dachte Luise, sie vergisst sich selbst beim Singen. Der Juninachmittag war so heiß, dass sogar die Katze, die sonst immer auf der Mauer in der Sonne lag, aufgestanden war, sich träge gestreckt hatte und dann die Mauer entlang in den Schatten unter der alten Wagenremise geschlichen war. Vom Holzschuppen kam mit der Sommerbrise der Geruch von altem Holz und auch der von Teer. Die Sonne schien so stark auf das Dach des Schuppens, dass die Teerpappe ganz weich wurde. Sommergerüche.
Manche Wörter aus Luanas Liedern kannte sie: amanhã zum Beispiel. Oder água. Und vor allem triste. Obwohl es »traurig« bedeutete, war es ein schönes Wort, weil es so weich ausgesprochen wurde; das s war so ein besonderes sch, wie sie es im Deutschen nicht hatten. Luise sah in den Himmel, hörte ihre schöne Schwägerin Luana singen, und plötzlich wusste sie, warum ihr diese Lieder so gut gefielen. An dieser Musik war alles so leicht, dass die Wörter und die Töne aufstiegen und sich irgendwann im Blau auflösten wie die kleinen Morgenwolken an einem Sommertag wie diesem. Sie lehnte an ihrem Walnussbaum und sah über die Dächer von Pfarrhaus und Scheune in den Himmel. Es gab nichts, was so perfekt war. Sie hatte in der Schule gelernt, dass die Menschen früher glaubten, der Himmel sei wirklich ein Zelt oder eine Schale, die über die Erde gestülpt war. Das hatte sie nie verstanden. Wenn man in den Himmel sah, dann wusste man doch: Er war so weit und so offen und vor allem so unendlich wie nichts anderes auf der ganzen Welt. Und weil Luise sich nach der Unendlichkeit sehnte, so sehr, dass es manchmal wehtat, wollte sie fliegen, seit sie das erste Flugzeug gesehen hatte.
Es war still geworden. Luana war ins Haus gegangen, um zu kochen. Neben dem Deckchair stand ihre Gitarre an das Tischchen gelehnt. Vom Kirchturm klang es weich herüber. Ein Schlag nur. Ob es Viertel nach fünf oder schon nach sechs war? Im Juni waren die Tage so wunderbar lang, dass man manchmal gar nicht merkte, wenn der Nachmittag zum Abend wurde. Es war so still, dass man denken konnte, man säße auf einer Insel des Schweigens, und alle Geräusche wie das Schlagen der Kirchturmuhr, das Pfeifen der Werkslokomotive aus der Brauerei oder das Geschrei der badenden Kinder unten am Fluss kämen nur wie kleine müde Wellen an den Strand dieser Insel geplätschert. Die Hitze und das leise Summen der Bienen taten ihr Übriges: Ihr wurden die Lider schwer.
In diesem Augenblick erschütterte eine Explosion die Remise. Der Knall, trocken, scharf und laut, riss sie hoch. Noch in das Echo hinein regnete splitternd Glas auf den Boden, und irgendetwas Schwarzes segelte über Luises Kopf hinweg. Sie duckte sich erschrocken, aber es wäre nicht nötig gewesen, das Ding blieb im Laub des Walnussbaums hängen, und Luise erkannte, dass es ein schwarz emaillierter Topfdeckel war. Zwischen ihren Beinen wischte die Katze durch, das Fell vor Entsetzen so gesträubt, dass sie ein Drittel größer erschien als sonst. Luise rannte hinüber zum zerborstenen Fenster der Remise und versuchte hineinzusehen. Ihre Augen mussten sich nach der Sonnenhelle kurz an das Dunkel im Inneren gewöhnen, aber auch so sah sie, dass ihr Vater etwas fassungslos hinter der Werkbank stand, wo ein Bunsenbrenner immer noch mit blauer Flamme unter der Ruine eines Topfes brannte. Es stank durchdringend nach Alkohol.
»Papa«, fragte sie durch das Fenster, »ist dir was passiert?«
Ihr Vater schüttelte fast erbost den Kopf.
»Das hätte nicht geschehen dürfen«, sagte er dann, als sei er persönlich beleidigt worden. Es schien nicht so wichtig zu sein, dass eben das Fenster zu Bruch gegangen war und wahrscheinlich bereits alle Nachbarn am Tor standen.
»Was hast du da eigentlich gemacht?«, fragte Luise, dann fiel ihr etwas auf, und sie rief rasch: »Dein Bart glimmt!«
Sie musste lachen, als ihr Vater sich hastig auf den Bart klopfte. Sie fand, dass er manchmal aussah wie ein russischer Mönch. Er war h...