Wiedersehen in Tanger
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Wiedersehen in Tanger

  1. 312 Seiten
  2. German
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Wiedersehen in Tanger

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Der erfahrene Einzelgänger Tarik sucht Erleuchtung, die Ornithologin Chaya nach einem sibirischen Zugvogel und die Botanikerin Thelma meint, nichts mehr suchen zu müssen. Die drei Protagonisten begegnen sich in der magischen Hafenstadt Tanger auf einem Kongress über die Gefahren der Ausbreitung der Wüsten. Niemand von ihnen ahnt, dass dies der Beginn einer leidenschaftlichen Liebe und vieler abenteuerlicher Ereignisse ist, die ihr Leben und ihre Weltanschauungen grundlegend verändern werden.Der Roman erzählt von der Sehnsucht nach Verbindung und Nähe bei gleichzeitiger Freiheit. Marokko dient als Schauplatz dieser Abenteuer- und Liebesgeschichte.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783905689877
image

Erster Teil

Ein Jahr davor

Winter, verschlossen.
Wieder werde ich lehnen
An diesem Pfosten.
Matsuo Bashô
Übersetzt von Ralph-Rainer Wuthenow

I

Das Rufen des Nymphensittichs im Käfig drang wie die Spitze eines Federkiels in die Behaglichkeit seines Schlafs. Er drehte sich zur Wand und versuchte die Traumbilder zurückzuhalten, Bilder einer lieblichen Landschaft, von denen er sich ungern trennte. Aber das Licht und der Lufthauch weckten ihn endgültig und liessen ihn die Brettunterlage des Sofas spüren. Im Sonnenstrahl, der durch den Spalt der Schiebefenster fiel, glitzerte Staub. Unwillkürlich zog er die Decke mit dem Rosenmuster über den Kopf. Nur noch eine Minute Schonzeit, ehe der Tag für ihn begann. Die Steinfliesen reflektierten die Kälte des Januars in den Raum, in dem niemand auf ihn wartete. Ans Alleinsein hatte er sich so sehr gewöhnt, dass er sich nichts anderes mehr vorstellen konnte. Schon ein halbes Leben lang wiederholte sich sein Erwachen in ähnlicher Form, er hätte lieber weiter träumen wollen, doch irgendetwas stiess ihn ins Wachsein hinein. Er schwang die Beine auf den Boden und ging ins Hockklo, wo er ins Loch pinkelte. Ohne sich zu waschen, zog er die Socken an, schlüpfte in die Schuhe mit den schiefen Absätzen, warf den Mantel über die Kleider, in denen er geschlafen hatte, griff nach den Zigaretten und eilte die Stufen zur Haustür hinunter.
Draussen fuhr ihm ein steifer Wind ins Gesicht und fegte seine Benommenheit weg. Im Vorhof jagten sich Plastiktüten und Papierfetzen, und zwischen zwei Blumentöpfen schepperte eine leere Cola-Dose hin und her. Durch das ausgebesserte Metalltor, das in den Angeln quietschte, trat Tarik auf die Seitenstrasse hinaus. Auch hier wirbelte der Wind allerlei Müll im Kreis herum, den Jungen in Schuluniformen johlend zu erwischen suchten. Ein Mann mit einer Schafwollmütze, der mit einem Stab die Jalousie seines Gemischtwarenladens hochschob, grüsste ihn.
Tarik ging zu Alis Café in der Rue Aljazaer, wo er sich wie jeden Morgen an die Sonne setzte und Ali ihm unaufgefordert ein Glas Kaffee brachte. Er schlug den Kragen hoch, schlang den Mantel um sich und zündete in der Kuhle der Hand eine Zigarette an. Bevor er inhalierte, stiess er vorsorglich einen Teil des Rauchs aus dem Mund, aber schon nach zwei Zügen schüttelte ihn der übliche Morgenhusten. Die anderen Männer im Café, einige bereits ins Brettspiel vertieft, blickten auf und nickten ihm zu. Tarik nickte zurück. Allmählich fing er an, sich an den Tag zu gewöhnen. Alles war wie immer, nichts hatte sich verändert.
Auch das Treiben auf der Strasse wiederholte sich im gewohnten Ablauf. Die Jbala-Bäuerinnen, die mit Bündeln und Körben beladen in die Stadt strömten, strebten im Gedränge der Schulkinder durch den Verkehr zu ihren Marktstandorten. Um die Hüfte trugen sie den rotweiss-gestreiften Wickelrock, über den Schultern ein Frottiertuch und auf dem Kopf den Strohhut mit Kordeln. Neben der Autoschlange tauchte auch schon der Minzehändler mit seiner beladenen Karriole auf. Von Zeit zu Zeit musste er anhalten, um zu verschnaufen.
»As-salam-u aleikum, gib mir einen Bund«, bat Tarik, als der Alte an ihm vorbeischlurfte. Er hatte nicht die Absicht, das Kraut zu verwenden, er wollte nur am Duft der frischen Erde riechen, der daran haftete, denn dieser erinnerte ihn an seine Kindheit in Bab Taza, einem Dorf inmitten sonnendurchfluteter Wälder voller Insektengesang im Gebirge von Chefchaouen.
Die Nase in der Pfefferminze verharrte er in Erinnerungen. Die Geräusche ringsum waren ihm so vertraut, dass er sie nicht mehr hörte. Erst die Knabenstimme Hichams, der von der Autowerkstatt seines Vaters herübergeschlendert kam, holte ihn in die Gegenwart zurück.
»Sbah el-kheir, mein Freund!«, sagte Hicham gutgelaunt und liess sich neben Tarik nieder. Wie üblich trug er seinen dünnen Blouson mit dem aufgedruckten Ferrari-Pferd und eine modische Haarrasur. »Spielen wir eine Partie?«, fragte er und hauchte sich in die klammen Finger.
Tarik wusste, dass das nur ein Vorwand war, um ihn festzunageln. Was sie beide verband, war unter anderem, dass Brettspiele sie langweilten. Aber ihre Unterhaltungen begannen stets mit einem Spiel, das dann im Lauf des Gesprächs unverrichteter Dinge liegen blieb.
»Heute nicht«, winkte Tarik ab, »ich muss weg.«
»Schade, ich hätte dir gerne etwas vorgelesen.«
»Lerne besser Englisch, statt Geschichten zu schreiben. Wen interessieren schon deine Liebesgeschichten? Wenn du eine Arbeit finden und eines Tages eine Familie gründen willst, musst du Fremdsprachen und ein Handwerk beherrschen«, entgegnete Tarik streng. Aber insgeheim lächelte er, denn er mochte den Jungen, gerade weil er Geschichten schrieb.
»Warum hast du eigentlich noch keine Familie?«, platzte Hicham heraus und erschrak über seine Frage, die ihm einfach so über die Lippen gerutscht war. Neugierig und bange zugleich schielte er zu Tarik hinüber, aber dieser saugte scheinbar ungerührt an seiner Zigarette.
Es ging einfach nicht in Hichams Kopf, dass einer wie Tarik Bousselham, der eine Stelle beim Staat hatte und der, hamdulillah, gesund und kräftig war, freiwillig auf eine Frau verzichtete, während er selbst Tag und Nacht an nichts anderes denken konnte. Würde er nicht wenigstens über die Mädchen schreiben, er würde glatt verrückt werden. Aber Hicham wusste, dass er nicht der Einzige war, der Tariks Lebensweise nicht begreifen konnte. Die meisten Leute im Quartier hielten den alleinstehenden Professor für einen Sonderling.
»Ich bin ein Sufi«, erwiderte Tarik, »ich brauche keine Frau, und ich verspüre auch keinen Drang, mich fortzupflanzen.«
»Ein Sufi raucht und trinkt aber nicht, du hingegen rauchst und einmal sah ich dich sogar betrunken«, wagte Hicham einzuwenden.
»Auch ein Sufi ist nur ein Mensch, Hicham«, belehrte ihn Tarik und blies den Rauch durch die Nasenlöcher, aus denen verfärbte Härchen wuchsen.
»Ich verstehe dich nicht! Du bist im besten Alter und hast einen guten Lohn, du könntest dir längst eine schöne junge Frau leisten.«
»Ich sag dir was, mein Freund: Bücher sind mir lieber als eine Frau. Frauen wollen Kinder, ein Auto, Schmuck und Möbel und sie machen viel zu viel Lärm. Ich brauche Ruhe, ich muss nachdenken.« Tariks Stimme verriet jetzt leisen Unmut. Er war nicht mehr länger gewillt, sich mit einem Grünschnabel über diese Angelegenheit, die weiss der Himmel keine einfache war, zu unterhalten. Als er Hicham einen strafenden Blick zuwarf, verstand dieser und biss sich auf die Zunge.
Eine Weile sassen sie wortlos nebeneinander. Die Sonne war gestiegen und streichelte ihre Wangen und Nasenspitzen. Tarik nahm abwechslungsweise einen Schluck Kaffee und einen Zug an der Zigarette und versuchte, sich auf die kommenden Tage einzustimmen. Heute Mittag würden die Teilnehmer der Konferenz eintreffen. Einerseits fürchtete er sich bei der Vorstellung, sie könnten ihm Zeit stehlen, anderseits brachten sie vielleicht ein wenig Abwechslung in sein Dasein. Bei diesem Gedanken spürte er eine flaue Welle im Bauch. Am Himmel wirbelte eine schwarze Wolke von Zugvögeln, stieg empor, verschwand im Licht, tauchte wieder auf und stürzte in einer eleganten Schlaufe in die Tiefe, um sich erneut aufzuschwingen; gerade so, als wollten die Vögel mit ihrer Flugschau das vollendete Zusammenspiel von Freiheit und Gemeinschaft vorführen.
»Wohin fliegen sie?«, fragte Hicham.
»Zum Berg Qāf«, murmelte Tarik. Er hatte sein Gesicht mit halb geschlossenen Augen der Sonne zugewandt und gab sich den tanzenden Punkten unter den Lidern hin.
»Berg Qāf?«
»Da, wo auch wir hingehen.«
»Unsereins kommt nirgendwohin.«
»Unsinn«, sagte Tarik, »du und ich, wir reisen im Geiste, ich lese und du schreibst, das ist die höchste Art zu reisen.« Er setzte sich gerade hin und streckte ächzend die Arme, dann zertrat er mit der Schuhspitze den Zigarettenstummel. Inzwischen war der Strassenverkehr abgeflaut. Auf dem Gehsteig breiteten einige Landfrauen Gemüse und Früchte auf leeren Mehlsäcken aus und kreierten bunte Augenweiden, die um die Aufmerksamkeit der herbeiströmenden Kundschaft buhlten.
»Ich muss mich beeilen, mein Freund, die Amerikaner kommen.« Tarik erhob sich und legte einen Augenblick die Hand auf Hichams Schulter: »Lies mir deine Geschichte vor, wenn ich wieder zurück bin, einverstanden?«
»Die Amerikaner kommen?«, wiederholte Hicham verdutzt.
Tarik legte das Minzenbündel vor ihn auf den Tisch: »Koch dir Tee, der wird dich aufwärmen«, dann hob er grinsend die Finger an die Schläfe und ging davon.
Kopfschüttelnd, aber nicht ohne Bewunderung schaute Hicham ihm nach.
Der Nymphensittich gab schrille Töne von sich, als Tarik seine Wohnungstür aufschloss. Mein Kind, dachte er und streifte den Vogel, dessen Käfig so klein war, dass er nicht einmal die Flügel ausbreiten konnte, mit einem zerstreuten Blick. Der Fussboden war von Kernschalen übersät. Seit Wochen wollte er ihn wischen und auch die Vogelscheisse im Käfig wegputzen, aber dauernd kam ihm etwas Wichtigeres dazwischen. Deshalb blieb der Schmutz liegen und vermehrte sich von Tag zu Tag. Im Kamin und den Wänden entlang stapelten sich turmhoch Bücher. Auf dem verstaubten Kaminsims standen ein taiwanesischer Christbaum und eine Glaskugel, in der ein blasser Goldfisch über einer Plastikpflanze seine erste und letzte Runde drehte. Der Salontisch lag unter Zeitungen, Zetteln und Zigarettenasche verborgen. Mittendrin ragte eine Messingfigur des tanzenden Shiva Nataraja hervor, die ein Rucksacktourist einst zum Dank für die Beherbergung dagelassen hatte. In den Küchenschränken, die Tarik schon lange nicht mehr geöffnet hatte, da er irgendwann aufgehört hatte zu kochen, obwohl er eigentlich ein guter Koch war, tummelten sich Spinnen, Silberfischchen und Küchenschaben. Im Schüttstein türmte sich schmutziges Geschirr, und der Kühlschrank war voller verdorbener Lebensmittel.
Tarik übersah das alles genau so geflissentlich wie die übrige Unordnung in seiner Behausung. Er hatte sich angewöhnt, während des Lesens auf dem Sofa (seinem Schlafplatz und Lieblingsort) gelegentlich einen hoffnungsvollen Blick an die Zimmerdecke zu werfen, wo eine aus einer Scheibe und sieben Stäben aus Holz kreierte Sonne hing. Denn die Sonne stand für sein eigentliches Ziel. Ja doch, er wusste, dass er in vollkommener Vernachlässigung lebte. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als eines Tages jenen viel beschriebenen Zustand innerer Ruhe und Gelassenheit zu erlangen, der ihm erlauben würde, mit einem Stück Brot, einigen Früchten und Wasser, kurz, mit dem Allernotwendigsten, was der Mensch zum Leben braucht, auszukommen. Dass er davon noch weit entfernt war, war ihm schmerzlich bewusst, es fiel ihm nicht leicht, der Welt des sinnlichen Genusses und des Besitzes ganz zu entsagen. Ihre Verlockungen bereiteten ihm ständig Qualen, und sein Widerstand entpuppte sich immer wieder als aussichtsloser Kampf mit lauter Niederlagen.
Tarik drehte in der Küche den Wasserhahn auf, netzte sein Gesicht und schäumte mit einem Stück Seife seine Wangen ein. Sorgfältig zog er die Klinge des Rasiermessers in Bahnen vom Hals bis unter die Augen, wobei der gesprenkelte Schaum auf das Geschirr im Spülbecken tropfte. Als seine Wangen glatt waren, trocknete er sie mit einem schmutzigen Lappen ab und betupfte sie mit After Shave. Nachdem er sich auch noch die Härchen gestutzt hatte, die wie kleine Drähte aus Nase und Brauen ragten, zog er die Kleider aus und wusch sich prustend Achselhöhlen und Füsse. Dann nahm er den Anzug, der an einem Nagel hing, klopfte den Staub ab und fischte aus einem Haufen Wäsche am Boden eine Krawatte, die er neulich von einem Strassenhändler in der Mellah erstanden hatte. Schliesslich trat er ans Fenster und hielt Ausschau nach Rachid. Sein Nachbar hockte wie erwartet im Hof auf einer Holzkiste und beobachtete gerade eine alte Frau, die an...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Erster Teil Ein Jahr davor
  7. Zweiter Teil
  8. Dritter Teil
  9. Vierter Teil
  10. Fünfter Teil Schluss
  11. VERSPRECHEN DER WIEDERKEHR
  12. Die Autorin